Wann braucht mein Kind eine Therapie? - Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
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Wann braucht mein Kind eine Therapie?

Lesedauer: 7 Minuten

Ein Kind hält den Stift nicht richtig, ein anderes kann beim Turnen nicht auf einem Bein hüpfen – diese Dinge kommen im schulischen Standortgespräch im Kindergarten zur Sprache. Oft folgt ein Therapieangebot: Welche Therapieformen gibt es und wie sinnvoll sind diese? 

Wenn die Lehr­person eine Therapie vor­ schlägt, sind Eltern oft ver­unsichert und fragen sich: Braucht das Kind diese Unterstützung wirk­lich? Wächst sich das Problem nicht von selbst aus?

Peter Lienhard, Experte für schu­lische Heilpädagogik an der Inter­kantonalen Hochschule für Heilpädagogik, sagt: «Eine Therapie ist dann sinnvoll und notwendig, wenn das Kind ohne diese Unterstützung sein Potenzial nicht ausschöpfen kann und damit in seinem Bildungs-­ und Entwicklungsweg behindert ist.» Es sei aber immer zu fragen, was das Ziel einer Therapie ist. Nur so könne man nach einer gewissen Zeit – beispielsweise sechs Monaten – überprüfen, ob die Massnahme sinnvoll war und welche Effekte sie hatte. 

Ist eine solche Unterstützung im Kindergartenalter angebracht? Dies ist laut Peter Lienhard zumindest verhandelbar: «Bei Kindern in diesem Alter ist es oft auch sinnvoll, wenn man bei gewissen Auffälligkeiten nicht gleich eine Unterstützungsmaschinerie laufen lässt. In dieser Entwicklungsphase kann viel passieren.»

Die Psychomotorik-Therapie

Die Psychomotorik­Therapie ist in der Schweiz seit vielen Jahren weit verbreitet. Jedoch haben sich sowohl die Therapie als auch die zu thera­pierenden Kinder in den vergange­nen Jahren stark verändert.

Früher wurde die Psychomoto­rik-­Therapie vor allem bei Kindern mit motorischen Schwierigkeiten angewendet. Heute sind es häufig Kinder mit sozialen oder emotiona­len Problemen. Sie haben beispiels­weise Mühe, sich in eine Gruppe einzubringen oder Gefühle wie Angst, Wut oder Frustration zu regulieren. Oft zeigen sie auch eine Kombination von motorischen und sozioemotionalen Auffälligkeiten», erklärt Dr. Irene Kranz, Lehr­beauftragte im Studiengang Psychomotorik­-Therapie an der Interkantonalen Hochschule für Heilpädagogik in Zürich. Aus diesem Grund hat sich auch das therapeutische Repertoire verändert. Früher umfasste die Therapie vor allem Spiel- und Bewegungsangebote, mittlerweile ist auch das therapeutische Rollenspiel ein wichtiges Mittel. Damit können Kinder auf spielerische Weise ihre Ängste, Wut, Frustration oder Trauer zum Ausdruck bringen. Im Rollenspiel kann das Kind seine persönliche Geschichte völlig frei inszenieren. Dies ermöglicht ihm, belastende Erfahrungen symbolhaft mitzuteilen, anstatt darüber zu sprechen.

In die Psychomotorik gehen häufig Kinder mit sowohl motorischen als auch sozioemotionalen Auffälligkeiten.
In die Psychomotorik gehen häufig Kinder mit sowohl motorischen als auch sozioemotionalen Auffälligkeiten.

Zum Beispiel Eleni. Sie leidet unter starken Ängsten, traut sich nur wenig zu und meidet unbekannte Situationen. Im Unterricht beteiligt sie sich kaum, und in der Pause spielt sie meist für sich allein. Sie hat Mühe mit den neuen Anforderungen und der neuen Umgebung. Im Turnunterricht leidet sie unter Höhenangst und meidet alle Klettergeräte.

Auch Elenis Vater war als Kind ängstlich und zurückhaltend, hat jedoch im Laufe der Zeit Strategien für den Umgang mit seinen Ängsten entwickelt und versucht, seine Tochter bei der Bewältigung ihrer Ängste zu unterstützen. Studien haben gezeigt, dass es für den Erfolg der Therapie sehr wichtig ist, die Familie und das schulische Umfeld miteinzubeziehen.

Im Laufe der Therapie wird das Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten und das Selbstvertrauen gestärkt.

In der Psychomotorik-Therapie kann Eleni ihre Stärken und Schwächen kennenlernen und mutiger werden. In selbst inszenierten Rollenspielen erlebt sie sich als gross, stark und mächtig. So schlüpft sie gerne in die Rolle eines mutigen Tigers und kämpft gegen andere Tiere. Dabei wagt sie sich auch immer wieder, die Sprossenwand hochzuklettern und ihre Opfer aus der Höhe anzugreifen. Die Therapeutin bekommt dabei meist die Rolle eines ängstlichen Tieres zugewiesen. So erhält sie die Möglichkeit, Ängste und Versagensgefühle darzustellen. Damit kann Eleni Kontakt zu ihren eigenen Gefühlen herstellen und neue Umgangsweisen kennenlernen. Sie gewinnt im Verlauf der Therapie immer mehr Vertrauen in ihre Fähigkeiten, und ihr Selbstvertrauen wird gestärkt.

Studien zeigen deutlich, dass die Psychomotorik-Therapie sowohl auf motorischer als auch auf sozioemotionaler Ebene wirkt. Eleni gelingt es durch das spielerische Verarbeiten ihrer Ängste immer besser, diese zu überwinden. Sie entwickelt ein positives Selbstbild und traut sich immer mehr zu.

Ihre Lehrperson berichtete, dass Eleni nun öfters mit den anderen Kindern spiele, im Unterricht mehr erzähle, im Turnen mutiger geworden sei. Auch von den Kindheitserfahrungen ihres Vater wird Eleni profitieren – und so vielleicht irgendwann die Sprossenwand ganz hinaufklettern können.

Die Logopädie

In der Logopädie geht es um Abklärung, Therapie und Beratung von Kindern und Jugendlichen mit Defiziten in der gesprochenen und geschriebenen Sprache sowie der Stimme. Ziel ist es, die Kommunikationsfähigkeit im Alltag zu verbessern. Sprache muss sich aber entwickeln, und es braucht Zeit, bis Kinder Sprache sicher beherrschen und verstehen.

Manchmal stossen sie dabei auf Probleme, die sie alleine nicht überwinden können. Dann empfiehlt sich eine Beratung bei der Logopädin. Eine logopädische Abklärung ist sinnvoll, wenn das Kind wenig oder sehr wenig spricht, sowohl seine Muttersprache als auch Deutsch schlecht versteht oder es unzureichend verstanden wird, wenn es ihm bekannte Wörter nicht findet oder Laute nicht bilden kann, lispelt, stottert oder ständig eine heisere Stimme hat.

Ein Kind sagt vielleicht noch «Lot» statt «Rot» oder «Tasse» statt «Kasse». Was bei einem Dreijährigen noch putzig anmutet, kann im Kindergarten schon hinderlich sein – andere Kinder können es nicht verstehen oder verspotten es gar. Die Frage ist also: Wann ist Unterstützung nötig? «Weil Kinder in so unterschiedlichem Tempo sprechen lernen, ist es für Eltern oft nicht leicht zu beurteilen, ob ihr Kind altersgerecht spricht», sagt der deutsche Kinderarzt Herbert Renz-Polster. «Nicht jede Auffälligkeit ist gleich eine Störung und muss behandelt werden.» Machen sich Eltern aber Sorgen, weil ihr fünfjähriges Kind sich kaum verständlich ausdrückt, raten Experten, die Ursachen abklären zu lassen.

Die  logopädische Reihenabklärung verfolgt das Ziel, früh genug zu erkennen, wo Handlungsbedarf besteht.
Die  logopädische Reihenabklärung verfolgt das Ziel, früh genug zu erkennen, wo Handlungsbedarf besteht.

Im ersten und zweiten Kindergartenjahr gibt es die logopädische Reihenabklärung – mit dem Ziel, früh genug zu erkennen, wo Handlungsbedarf besteht. Spätestens in der ersten Klasse findet dann eine Kontrolle statt. Der fünfjährige Louis beispielsweise geht einmal pro Woche zur Logopädin, um das «sch» zu üben. Ganz spielerisch wird mit Spielen, Memorys, Puzzles und anderen Dingen der Zischlaut eingeübt und gefestigt sowie nach Möglichkeit auch zu Hause mit den Eltern geübt. Die Spielideen machen ihm Spass. Nach sechs Monaten ist die Therapie beendet.

Einen Tipp fürs Üben zu Hause nennt auch Herbert Renz-Polster: Wenn ein Kind zum Beispiel immer «taufen» statt «kaufen» sage oder «Tuchen» statt «Kuchen», dann bringe es wenig, das Kind diese einzelnen Wörter immer wieder aufsagen zu lassen. «Es ist besser, diesen Begriff einzubinden in einen Satz oder eine Geschichte, ihn immer wieder richtig zu wiederholen und dem Kind dabei in die Augen zu schauen, um eine emotionale Nähe aufzubauen», sagt Renz-Polster.

«Ein Kindergartenkind, das leicht lispelt, hat keinen unmittelbaren Bildungsnachteil.»

 Heilpädagogik-Professor Peter Lienhard.

Nicht jeder Sprachrückstand sei aber therapiebedürftig, erklärt Heilpädagogik-Professor Peter Lienhard. «Ein Kindergartenkind, das leicht lispelt, also beim Aussprechen des «S» mit der Zunge an die Zähne anstosst, hat keinen unmittelbaren Bildungsnachteil. Man kann meist zuwarten und beobachten, ob sich die Sache legt.» Falls nicht, könne man immer noch eine Logopädie-Sequenz einschalten.

Die Ergotherapie

Unlängst gab eine Untersuchung zu reden, nach der nur die Hälfte der Viereinhalb- bis Fünfeinhalbjährigen sich alleine anziehen und nur rund 20 Prozent eine Schleife binden konnten. Der Co-Autor der Erhebung, Kinderarzt Rupert Dernick sieht den Grund für die mangelnde Geschicklichkeit nicht bei den Kindern, sondern in deren Umfeld. «Die Eltern nehmen ihnen zu viel ab.» Und zwar auch dann, wenn es um alltägliche Arbeiten wie Tischdecken oder -abräumen geht. Zwar hätten die meisten Eltern in der Studie mit 500 Kindern angegeben, dass ihre Kinder einfache Tätigkeiten wie Besteck oder Plastikbecher abtrocknen beherrschten. Aber nur jedes fünfte Kind übe diese Tätigkeiten auch tatsächlich öfter aus. «Dadurch verpassen viele Kinder die Möglichkeit, ihre Fertigkeiten durch Üben zu verbessern.»

Bei Buben zeigten sich die Folgen besonders deutlich, sagt Dernick. «Mittlerweile wird 20 Prozent der fünf- bis sechsjährigen Jungen eine Ergotherapie verordnet.» Auch hierzulande geht man davon aus, dass jedes dritte Kind im Laufe seiner Schullaufbahn eine spezielle Förderung erhält. Ergotherapie ist eine Form einer solchen Förderung. Sie hat das Ziel, Kinder in ihrer Entwicklung, Selbständigkeit und Handlungsfähigkeit zu fordern. Sie geht davon aus, dass «tätig sein» ein menschliches Grundbedürfnis ist.

Ergotherapie ist für Kinder gedacht, die zum Beispiel Probleme haben, Scooter zu fahren, Schuhe zu binden oder etwas Kleinteiliges auszuschneiden oder zu malen.
Ergotherapie ist für Kinder gedacht, die zum Beispiel Probleme haben, Scooter zu fahren, Schuhe zu binden oder etwas Kleinteiliges auszuschneiden oder zu malen.

Ergotherapie ist für Kinder gedacht, die ihren Altersgenossen sozial, kognitiv oder in der Motorik hinterherhinken. Die zum Beispiel Probleme haben, Scooter zu fahren, Treppen zu steigen, Schuhe zu binden oder etwas Kleinteiliges auszuschneiden oder zu malen. Oder die das, was sie hören, sehen, riechen oder schmecken, nicht angemessen verarbeiten können.

Die Gründe, eine Ergotherapie in Anspruch zu nehmen, sind sehr verschieden. Die als Wahrnehmungs- oder Verhaltensstörungen auffallenden Schwierigkeiten können auf organische oder psychische Ursachen zurückgehen wie Geburtstraumen, Missbildungen oder progressive Erkrankungen. Das Verbessern der Körperkoordination und das Kennenlernen der eigenen Fähigkeiten und Grenzen sollen das Selbstvertrauen des Kindes stärken und seine Kommunikationsmöglichkeiten erweitern. Eltern können die Ergotherapie unterstützen, wenn sie die Übungen oder Spiele mit ihrem Kind auch zu Hause machen.


Das können Eltern tun

Sie helfen Ihrem Kind, wenn Sie:

  • Ermutigen und loben statt kritisieren.
  • Akzeptieren statt vergleichen.
  • Das Wort selber richtig wiederholen, statt es vom Kind «richtig sagen» zu lassen.
  • Zeit lassen statt drängen.
  • Zuhören, aussprechen lassen und nachfragen, statt ins Wort zu fallen. Gerade ein Kind, das Sprachprobleme hat, ist besonders darauf angewiesen, nicht unter Druck gesetzt zu werden.
  • Miteinander spielen und sprechen, statt üben.
  • Klar und einfach sprechen (nicht zu viel auf einmal).
  • Zuhören, was das Kind zu sagen hat, statt auf Sprechfehler achten.
  • Es erzählen lassen, ohne es immer zu korrigieren.
  • Gewicht darauf legen, was das Kind Ihnen mitteilen möchte, und nicht wie es dies tut. Besser zusammen lachen als alles richtig machen!

Therapiewahn an Schweizer Schulen?

Der Kinderarzt Oskar Jenni machte im November 2014 Schlagzeilen, als er in einem Interview mit dem «Tages-Anzeiger» den «Therapiewahn» an Zürcher Schulen kritisierte. Dass jedes dritte Kind im Laufe seiner Schulzeit eine oder mehrere niederschwellige Fördertherapien erhalte, sei unsinnig, erklärte der Leiter der Abteilung Entwicklungspädiatrie des Kinderspitals Zürich. Es könne nicht sein, dass so viele Kinder nicht den Normerwartungen entsprächen. Jenni kritisierte weniger die Therapien denn das System. «Fällt ein Kind auf, entscheiden Fach- und Lehrpersonen sowie Eltern im Gespräch über eine Massnahme. Und danach sind alle froh, weil gehandelt wird. Die Gefahr von Fehleinschätzungen und Stigmatisierungen der Kinder ist dabei gross.» Im Alter von vier bis sechs Jahren sind jedoch die Entwicklungsunterschiede in Bezug auf Sprache, Motorik, Aufmerksamkeit und Verhaltenskontrolle naturgemäss sehr gross.


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