Frühling und die Kunst, traurig zu sein - Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
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Frühling und die Kunst, traurig zu sein

Lesedauer: 2 Minuten

Frühlingsmüde oder Frühlingsmühe? In ihrem Lockdown-Mamablog schreibt Michèle Binswanger vom Frühling, der sich alle Mühe gibt und es doch nicht schafft, das Corona-Trübsal zu vertreiben.

Text: Michèle Binswanger
Illustration: Petra Dufkova / Die Illustratoren

Es ist nicht die Saison, um traurig zu sein. Der Frühling zeigt sich derzeit von seiner charmantesten Seite, alles blüht und lockt. Aber es ist seltsam kompliziert, dies in der gegenwärtigen Situation zu würdigen. Deshalb ist es auch normal, etwas traurig zu sein.

Normalerweise würde ein solcher Frühling die Herzen öffnen, Menschen würden in die Strassen strömen, die Frauen leicht geschürzt, die Männer unternehmungslustig, man würde sich begegnen und das Leben feiern, lauschige Abende mit anregenden Gesprächen verbringen, vielleicht am See, die Augen auf die Perlenkette aus Licht gerichtet, die sich ans gegenüberliegende Ufer schmiegt.

Stattdessen sitzen wir zu Hause. Oder telefonieren. Oder entsorgen das Glas, was zum Highlight des Tages geworden ist. Ich will mich nicht beklagen, denn ich habe das Privileg einer schönen Wohnung und zweier grossartiger Mitbewohner, die zufällig auch noch meine Kinder sind und ich kann von zu Hause aus arbeiten. Es ist schön, so viel Zeit mit meinen Teenies verbringen zu können, etwas vom wenigen Guten, das ich Corona abgewinnen kann. 

Entsprechend versuche ich guten Mutes zu sein, mich auf die Gegenwart zu konzentrieren. Verdrängen. Doch das geht nicht immer, da kann sich der Frühlingstag da draussen noch so sehr in Schale werfen. Irgendwo gibt es da eine Traurigkeit, irgendwo tief drin steckt sie. Manchmal kommt sie ganz beifällig daher, als Handlung in einem der Filme, die man sich jetzt anschaut. Ein Handschlag, man umarmt und küsst sich – Hallo? Waren das noch Zeiten, als man das durfte. Sie sind noch nicht lange vergangen und scheinen so so weit weg.

Noch sind wir wohl zu verängstigt, um das richtig wahrzunehmen, aber diese Art von Kummer und Abschiedsschmerz wird uns in all seinen Ausprägungen noch lange umtreiben.

Dieses Bewusstsein schmerzt. Der Verlust ist allgegenwärtig. Mir fehlen die Restaurants und die Bars, die Menschen, die bevölkerten Strassen, die Leichtfertigkeit, mit der wir miteinander umgingen. Ich denke an die Menschen, die in den Restaurants und Bars gearbeitet haben. Was werden sie nun tun? Ich denke an Konzerte, die nicht stattfinden werden, und all die Musiker, die nicht mehr arbeiten können. Ich vermisse die Ausstellungen und Museen, ich vermisse die Kunst-Ausflüge mit meiner Mutter.

Noch sind wir wohl zu verängstigt, um das richtig wahrzunehmen, aber diese Art von Kummer und Abschiedsschmerz wird uns in all seinen Ausprägungen noch lange umtreiben: verneinen, herunterspielen, anprangern, nachtrauern und schliesslich akzeptieren.

Wir wissen es ist nur vorübergehend, aber so fühlt es sich nicht an.

David Kessler, der als Mitautor des Kübler-Ross-Standardwerks zum Trauern ein Experte auf dem Gebiet ist, drückt es in einem Interview mit der Harvard Business-Review so aus: «Wir wissen, die Welt hat sich verändert, wir wissen, es ist nur vorübergehend, aber so fühlt es sich nicht an. Wir begreifen, es wird alles anders sein. (…) Der Verlust der Normalität, die Angst vor den wirtschaftlichen Folgen, der Verlust sozialer Bindungen. Das trifft uns und wir trauern. Kollektiv.»

Wenigstens haben wir den Frühling, der lässt sich nicht beeindrucken.

Michèle Binswanger
Die studierte Philosophin ist Journalistin und Buchautorin. Sie schreibt zu Gesellschaftsthemen, ist Mutter zweier Kinder und lebt in Basel.

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