Ein Leben mit dem Dravet-Syndrom

Die achtjährige Milla leidet unter dem Dravet-Syndrom, einer seltenen und schweren Form von Epilepsie. Die Diagnose hat das Leben der Familie auf dramatische Weise verändert, für immer. Insbesondere für die Mutter ist die Doppelbelastung von Beruf und Betreuung der Tochter ein ständiger Kraftakt.
Das Dravet-Syndrom ist eine genetisch bedingte, schwere Form von Epilesie.
Andrea mischt ein Pulver und den Inhalt von drei verschiedenen Kapseln in Millas Apfelmus. Dreimal täglich nimmt die Schülerin diese kombinierten Medikamente zu sich. Die vielen Pillen machen das Kind müde. Doch durch die Medikamente verringert sich die Zahl der Anfälle. «Momentan hat Milla eine gute Phase, vielleicht die beste ihres Lebens», sagt Andrea. Der jetzige Durchschnitt liege bei ungefähr zwei bis vier Krampfanfällen pro Monat.
Wie verlaufen diese Krampfanfälle?
In etwa zwei Drittel der Fälle ist nach ein paar Minuten alles überstanden. Ist es das nicht, sprayt Andrea nach zwei Minuten einige Stösse zur Inhalation auf die Mund- oder Nasenschleimhaut, um den Krampf zu stoppen – nach weiteren fünf Minuten nochmals. «Wenn es dann nicht aufhört, rufe ich die Ambulanz.» Andrea führt Statistik: Ein Anfall alle zwei Wochen sei eine sehr gute Bilanz. «Zeitweise hatte Milla jeden zweiten oder dritten Tag einen Anfall. Einmal sogar zehn am selben Tag.»
Die Notfallbox muss immer mit

Millas erster Anfall passierte im Wasser. Da war sie vier Monate alt, das Badewasser auf 37 Grad wohl temperiert. Plötzlich wurde Milla bewusstlos, zuckte mit den Armen. «Ich begriff gar nicht, dass sie einen epileptischen Anfall hatte. Mein Mann hat sofort gesagt, dass wir ins Spital müssen. Wir packten Milla, eingewickelt ins Badetuch, und unsere damals dreijährige Tochter Lena und fuhren los.»
Milla kennt keine Gefahren
«Mein Kind ist krank. Akzeptiert das bitte!»
Andrea, Mutter der achtjährigen Milla.
Und doch: Millas Fall ist kein schwerer. Sie kann selbständig laufen, essen, einfache Sätze sprechen und zur Toilette gehen. Seit ihrem fünften Lebensjahr besucht sie die Basisstufe der heilpädagogischen Schule in Freiburg. Sie wird zu Hause von einem Spezialbus abgeholt, dessen Fahrer weiss, was im Falle eines Anfalls zu tun ist. In Millas Klasse werden neun Kinder von drei Heilpädagoginnen betreut und geschult. Milla kennt die meisten Buchstaben und kann am Computer ihren Namen schreiben. Sie besucht während der Schulzeit die Logopädie, die Ergotherapie und die Psychomotorik sowie am Donnerstag nach der Schule die Hippotherapie.
Jeden zweiten Mittwoch hat Milla frei und die Grosseltern kümmern sich um sie. «Routine braucht sie stärker als andere Kinder», betont Andrea. «Milla kann hundertmal dieselbe Geschichte lesen oder hören.» Lange war ihr Favorit der Maulwurf, der wissen wollte, wer ihm auf den Kopf gemacht hat.

Für Andrea ist es eine ständige Gratwanderung, wie viel kindlichen Bewegungsdrang sie zulassen soll und wann sie einschreitet. «Ich muss mein Kind ständig ausbremsen», sagt die zweifache Mutter. «Das ist so schwierig!» Spielnachmittage mit Freundinnen sind nur mit Begleitung möglich. Milla braucht eine Eins-zu-eins-Betreuung. Das soziale Leben findet in der Schule statt. Kindergeburtstage werden dort gefeiert und beim Spielen auf dem Pausenplatz trifft Milla ihre Freundin Carole.
Die Diagnose war ein Weltuntergang
Jeden Herbst fahren Mutter und Tochter ein paar Tage alleine ans Meer. Ihre Familienferien verbringen Dietrich Waebers in der näheren Umgebung, obwohl Andrea und ihr Mann Markus früher weit gereist sind. «Ferien? Das hat mit Ferien nichts zu tun.» Es fehlt die vertraute Umgebung und die wichtige Struktur im Alltag. Die Angst, in einem fremden Land eine Nacht im Krankenhaus zu verbringen, wo die medizinischen Anforderungen nicht gegeben sind, schliesst viele Reisedestinationen aus. «Mein Lebensentwurf hätte viel mehr Reisen beinhaltet. Wir hatten uns gewünscht, den Kindern die Welt zu zeigen.»
«Wir brauchen viel Selbstvertrauen, um uns nicht im Strudel der Krankheit zu verlieren.»
Andrea, Mutter von Milla.
Wenn heute schon Mütter von gesunden Kindern kritisiert werden, weil sie berufstätig sind, so sieht sich Andrea erst recht mit dem Vorwurf des Egoismus konfrontiert. Doch mit ihrem 50-Prozent-Pensum als Primarlehrerin schafft sie sich den Raum, auch einmal unabhängig von ihrer Familie sie selbst sein zu können. «Ich arbeite gerne. Ich finde es gefährlich, wenn sich alles nur noch um die Krankheit der Tochter dreht», sagt Andrea. «Sie nimmt schnell zu viel Raum ein.»

Dank einer Nanny können sie sich diese Zeit hin und wieder nehmen. «Wir konnten sie über das Angebot des Assistenzbeitrages der IV anstellen.» Der Dienst bringt einige Stunden Entlastung im Monat. Die Nanny unternimmt etwas mit Milla oder kocht für sie. Als Andrea und Markus an Ostern in die Cinque Terre fuhren, blieb die Nanny zwei Tage und zwei Nächte bei Milla. Andrea sagt, für sie sei es kein Problem, ihr Kind auch einmal abzugeben. Die Unterstützung sei für ihre eigene Balance sehr wichtig. So schöpfe sie Kraft, um für ihre Kinder ganz präsent zu sein.
Fähigkeiten können verloren gehen
«Ich weiss nicht, wie lange ich das körperlich noch schaffe. Das ist wohl der Grund, kleine Kinder nicht erst mit sechzig zu bekommen», sagt Andrea. Sie geht davon aus, dass bei Milla mit der Zeit der Wunsch nach weniger elterlicher Präsenz aufkommen wird. Dass sie eines Tages alleine schlafen möchte. Dass sie – in ferner Zukunft – lieber in einer betreuten Wohnsituation leben möchte als bei den Eltern. Doch die 42-Jährige nimmt jeden Tag, wie er ist. «Es kommt meistens sowieso anders, als man denkt.»
Das Jahrestreffen der Dravet- Syndrom-Vereinigung dauert diesmal länger als geplant. Milla sitzt neben Andrea und beschäftigt sich auf dem Tablet mit ihren Lern-Apps. Fast hätten Mutter und Tochter das Ponyreiten verpasst. Die Pferdeführerin ruft zur letzten Runde auf und Andrea begleitet Milla zum Gehege. Sichtlich stolz reitet das Mädchen auf dem Pony. Milla kennt die Bewegungen des Pferdes von der Hippotherapie und sitzt sicher im Sattel.
Förderung ist für Dravet-Kinder sehr wichtig. Andrea weiss: «Der IQ ist variabel, ich kann das Kind stimulieren oder verkümmern lassen.» Auf die Frage, wie sie persönlich mit der Situation umgeht und ob sie sich manchmal nicht ein einfacheres Leben wünscht, antwortet Andrea mit Pragmatismus: «Es ist, wie es ist. Da kannst du nichts machen.» Die Diagnose bedeutete eine Totalumstellung ihres bisherigen Lebens. Und trotzdem: «Irgendwann lebten wir damit und gewöhnten uns daran.»

Die Krankheit hat Andrea gelehrt, sich über die kleinen Dinge im Leben zu freuen. «Demut» nennt sie die neue Eigenschaft. «Ich schätze mehr, was ist», hält sie fest und beschreibt es an einem Beispiel: «Wenn ich mit Milla in ein Theater gehe und alles rundläuft, wenn nichts passiert und sie Spass hat, dann macht mich das glücklich.»
Am späten Nachmittag verlassen die Kinder mit ihren Eltern nach und nach das Gelände und Andrea führt ihre Tochter bei der Hand zum Auto. Milla schaut aus dem Fenster in den Himmel hoch. Sie sieht zufrieden aus. «Heute war ein guter Tag», sagt Andrea und lächelt.
Zur Autorin:
«Die Eltern dürfen lernen, an sich zu denken»
Mütter und Väter, deren Kind schwer erkrankt, sind mit vielen Ängsten konfrontiert und zum Teil mit einer lebenslangen Aufgabe. Um nicht auszubrennen, müssen sie Hilfe annehmen, sagt Sonja Kiechl, Leiterin der Kinderhäuser Imago.
Frau Kiechl, was passiert mit einer Familie, deren Kind schwer krank und pflegebedürftig wird?

Trennen sich viele betroffene Eltern aufgrund dieser Belastung?
Wie können Eltern in ihrer Aufgabe konkret entlastet werden?
Ist es vertretbar, dass zur Entlastung zeitweise jemand anderes die Pflege übernimmt?
Warum tun sich viele so schwer damit?
Ein schwer krankes Kind ist eine lebenslange Aufgabe. Aber auch dessen Eltern werden alt. Kommt das Kind dann ins Heim?
Welche Zukunftsängste oder Sorgen haben Eltern von pflegebedürftigen Kindern?
sich um mein Kind, wenn die heutigen Betreuungspersonen nicht mehr da sind? Daher ist es sinnvoll, weit vorauszudenken und vorzusorgen. Geschwister oder Freunde können beispielsweise Beistand des Kindes werden. Eltern, die ihr Schicksal akzeptieren und nicht damit hadern, kommen besser durch den Alltag. Das ist aber leichter gesagt als getan. Die Gesellschaft erwartet, dass man weiter funktioniert, doch solch eine Diagnose bringt eine riesige Trauerarbeit mit sich.
Die Ursache liegt in den Genen
Es kommt zu Störungen bei der Informationsübermittlung zwischen den Nervenzellen. Diese verursachen epileptische Anfälle und eine verzögerte Entwicklung. Typischerweise kommt es bei einem zunächst gesunden Kind im ersten Lebensjahr zu teils schweren und langen Krampfanfällen, die oft eine sofortige notfallärztliche Intervention erfordern. Der häufigste Anfallsauslöser ist ein rascher Wechsel der Umgebungstemperatur (z. B. warmes, kaltes Bad), heisses Klima oder eineVeränderung der Körpertemperatur (z. B. Fieber).
Neben körperlicher Anstrengung und Übermüdung sowie Infekten (mit und ohne Fieber) könnenauch Aufregung, Lärm oder visuelle Reize zu Anfällen führen. Es können jedoch auch Anfälle ohne jeglichen Auslöser auftreten. Das Spektrum innerhalb des Dravet-Syndroms ist gross. Die Entwicklung des Kindes ist in der Regel bis zum Beginn der Erkrankung normal. Danach verlangsamt sich die psychomotorische Entwicklung. Die betroffenen Kinder haben eine leichte bis schwere geistige Beeinträchtigung.
Die Prognose hinsichtlich der geistigen Entwicklung und Anfallshäufigkeit ist in der Mehrzahl der Fälle ungünstig. Die Therapieresistenz dieses Krankheitsbildes stellt die Ärzte und die Eltern vor grosse Herausforderungen.
Quelle: www.dravet.ch
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