Ella machte der Sprung keine Probleme. Sie fand rasch Anschluss und meisterte die Schule mit Leichtigkeit. «Ich muss kaum lernen», sagt Ella heute, «ich spiele lieber Unihockey.» Bis zum Ende der dritten Klasse sei alles reibungslos gelaufen, «doch seit der Mittelstufe», sagt die Mutter, «ebbt Ellas Begeisterung für die Schule zusehends ab». Für Mathematik, in der sie stets brilliert habe, bringe die Neunjährige kein Interesse mehr auf, nach eigenen Angaben aus Langeweile. Auf die Frage, warum das so ist, zuckt Ella mit den Schultern.
Zwei hochbegabte Kinder erzählen aus ihrem Alltag
Bilder: Anne Gabriel-Jürgens / 13 Photo
«Ich muss kaum lernen»
«Das hat uns wachsam gemacht», sagt Ellas Mutter, «und so suchten wir das Gespräch mit dem Schulleiter und Ellas Lehrerin. Diese sah keinen Anlass für eine Hochbegabtenabklärung. Unser Antrag blieb ergebnislos.» Daraufhin finanzierten die Eltern die Abklärung aus eigener Tasche. Die Diagnostik förderte auch bei Ella eine intellektuelle Hochbegabung zutage. Die Eltern klopften erneut bei der Lehrerin an. «Sie fühlte sich durch den Befund in die Ecke gedrängt», glaubt Ellas Mutter. «Wir bissen jedenfalls auf Granit.» Als Eltern werde man schnell den Überehrgeizigen zugeordnet, die ihr Kind pushten, sagt Vater Daniel: «Was wir für unsere Kinder wollen, ist eine möglichst normale Schullaufbahn.»
Dossier: Hochbegabung
«Wenn das Tempo nicht stimmt, werde ich kribbelig»
Die Eltern hatten rasch gemerkt, dass ihr mittlerer Sohn anders war als Gleichaltrige. Als knapp Zweijähriger löste Juri 100-teilige Puzzles, mit vier las er seinem kleinen Bruder Geschichten vor, die er simultan auf Mundart übersetzte. «Die Bücherwelle», sagt Juri, «ist bis heute nicht abgeebbt.» Der Elfjährige liest, was ihm in die Finger kommt: Disneys Lustige Taschenbücher, Romane, Zeitungen, Sachbücher.
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1/4 Juri, was ist die Wurzel aus 2899? -
2/4 Was kannst du besser als andere Kinder in deinem Alter? -
3/4 Was ist dein grösstes Talent? -
4/4 Was möchtest du später einmal werden?
«Als Schüler war Juri angepasst», sagt seine Mutter, «kaum zu Hause, fing er an zu schreien. Er vertrug keine weitere Fremdbestimmung und hatte das Gefühl, für seine eigenen Denkarbeiten bleibe ihm keine Zeit mehr.»
In der dritten Klasse tüftelten ein pensionierter Physiker und ein Gymnasiallehrer mit ihm. Irgendwann begann Juris Förderbedarf die Ressourcen der Schule zu übersteigen, und die Eltern beobachteten mit Sorge den Spagat, den der Bub zwischen den verschiedenen Lernorten meistern musste. Sie wünschten ihm einen festen Platz in einer Klasse. So fiel der Entscheid für die Hochbegabtenschule, die der Kanton Luzern über eine Sonderschulverfügung für Höchstbegabte finanziert.
Juri eignet sich Wissen am liebsten im Alleingang an. Mit der Schule lasse sich dies schlecht vereinbaren, sagt seine Mutter: «Wir hörten eigentlich nur, was Juri schlecht macht – oder eben: nicht nach Plan. Von einer kleinen Privatschule hätte ich mehr Offenheit erwartet.»
Juri mag sehr gerne Tiere. «Ich esse sie auch nicht», sagt er, «das wäre doch schade.» Juri wollte schon Bauer werden, das Sachbuch «1000 Fragen an den jungen Landwirt» liegt im Regal. Eine Budgetrechnung brachte ihn von der Idee ab. «Vielleicht», sagt Juri, «werde ich lieber Programmierer.»
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