Hochbegabung: Kinder auf der Überholspur
Hirnforscher Gerald Hüther ist ein Meister der Zuspitzung: «Jedes Kind ist hochbegabt», lautet der Titel eines seiner erfolgreichsten Bücher.
Es gibt einen guten Grund, diese Behauptung als Buchtitel zu wählen. Sie ist Balsam auf die Seele vieler Eltern, die sich unter Druck setzen, den Nachwuchs bestmöglich zu fördern. Die Tatsache, dass Hüther auf etwas anderes hinauswill, bekommt ohnehin nur mit, wer sein Buch liest. Alle anderen begnügen sich mit der frohen Botschaft.
«Hochbegabt». Wir denken dabei an Zahlenkünstler, Sprachgenies oder musikalische Wunderkinder, vielleicht auch an übertriebenen elterlichen Ehrgeiz oder eine Modediagnose. Doch was bedeutet Hochbegabung überhaupt? Geht sie immer mit Höchstleistungen einher? Fällt sie uns in den Schoss oder ist sie ein Produkt der Erziehung? Macht ein brillanter Intellekt, wie oft behauptet wird, anfällig für psychische Probleme? Brauchen Hochbegabte Spezialschulen? Diesen und weiteren Fragen geht das vorliegende Dossier nach.
Der Duden definiert Begabung als natürliche Anlage, «als angeborene Befähigung zu bestimmten Leistungen». Diese zeigt sich in ganz unterschiedlichen Bereichen. So meint zum Beispiel die soziale Begabung die Fähigkeit, mit Menschen umzugehen, sich in sie einzufühlen, während sensomotorische Begabung dort eine Rolle spielt, wo es auf körperliche Geschicklichkeit an-kommt – sei es im Sport, beim Tanzen oder Holzschnitzen. Die wissenschaftliche Literatur betont, dass sich auch Hochbegabung auf unterschiedliche Fähigkeiten beziehen könne und deshalb verschiedene Auffassungen zulasse.
Intelligenz als entscheidendes Merkmal
Das traditionelle Verständnis von Hochbegabung, an dem sich dieser Beitrag orientiert, bezieht sich auf den Intellekt. «Intellektuelle Hochbegabung», halten die Begabungsforscherinnen Franzis Preckel und Miriam Vock in ihrem Standardwerk zum Thema fest, «kennzeichnet ein extrem hoch ausgeprägtes, leistungsbezogenes Potenzial für Informationsverarbeitung, Lernen und Wissensaneignung, abstraktes Denken sowie Problemlösen».
Hochbegabte haben ein stark ausgeprägtes Potenzial,
Informationen zu verarbeiten, sich Wissen anzueignen und abstrakt zu denken.
Über intellektuelle Hochbegabung gibt es in der Wissenschaft unterschiedliche Modelle – allen gemein ist jedoch, dass sie von einer deutlich überdurchschnittlich ausgeprägten Intelligenz als entscheidendem Merkmal ausgehen. Die Intelligenzforscherin Elsbeth Stern von der ETH Zürich bezeichnet Intelligenz zusammenfassend als Fähigkeit zum präzisen und schlussfolgernden Denken: «Sie befähigt uns zum Lernen durch Instruktion und zum Lernen aus Erfahrung.»
Dossier: Hochbegabung
Wie wird Intelligenz gemessen? Ab wann ist man hochbegabt?
Intelligenz wird heute mithilfe unterschiedlicher Verfahren gemessen. Diese testen kognitive Fähigkeiten wie Wort- und Zahlenverständnis oder räumliches Denken, aber auch sogenannte operative Fertigkeiten wie die Kapazität des Arbeitsgedächtnisses, die Merkfähigkeit oder Verarbeitungsgeschwindigkeit. Die Tests sind standardisiert, das heisst, sie müssen nach einem bestimmten Schema durchgeführt, ausgewertet und interpretiert werden. Dies soll sicherstellen, dass unterschiedliche Resultate allein auf die Leistung der Prüflinge und nicht auf äussere Umstände zurückgehen.
Aus den Leistungen, die ein Kind oder Erwachsener in den unterschiedlichen Teilbereichen erzielt, berechnen Diagnostiker eine Gesamtpunktzahl, den Wert für die allgemeine Intelligenz beziehungsweise den Intelligenzquotienten (IQ). Als hochbegabt im klassischen Sinne gilt, wer einen IQ von mehr als 130 Punkten hat.
Hochbegabung in der Bevölkerung
Was Intelligenz mit anderen Merkmalen wie Körpergrösse gemeinsam hat, ist ihre Verteilung in der Bevölkerung. Die Wissenschaft spricht von einer sogenannten Normalverteilung, die sich am besten anhand der Körpergrösse erklären lässt: Die meisten Menschen sind durchschnittlich gross, nur wenige sind extrem hochgewachsen oder sehr klein.
Die deutliche Mehrheit der
Bevölkerung ist mit einem
IQ von 85 bis 115
durchschnittlich intelligent.
Genauso verhält es sich mit der Intelligenz. Die deutliche Mehrheit der Bevölkerung, nämlich 68 Prozent oder zwei Drittel, ist mit einem IQ von 85 bis 115 durchschnittlich intelligent. Gut 14 Prozent sind klüger (IQ von 115 bis 130), weitere 14 Prozent kognitiv schwächer (IQ von 70 bis 85). Extremwerte treten selten auf: Jeweils nur 2 Prozent der Bevölkerung haben einen ausgesprochen tiefen IQ unter 70 – oder einen sehr hohen über 130.
Von 100 gleichaltrigen Kindern schneidet eines mit IQ über 130 im Intelligenztest demnach besser ab als 98 andere, nur eines erreicht gleich gute oder noch bessere Leistungen. Hüther hat zweifellos recht, wenn er sagt, dass in jedem Kind Begabungen schlummern – nur: Hochbegabt sind deshalb längst nicht alle.

Der IQ sei ein zentrales, nicht aber das einzige Puzzleteil, das es in einer Abklärung auf Hochbegabung zu ermitteln gelte, sagt Psychologin Letizia Gauck: «Der IQ ist eines der am besten erforschten Konzepte, das die Psychologie zu bieten hat. Dennoch sind die Tests nicht frei von Messfehlern und repräsentieren eine Momentaufnahme, die es mit Verhaltensbeobachtungen abzugleichen gilt. Darum sind Gespräche mit dem Kind, seinen Eltern und der Lehrperson ein zentraler Bestandteil der Diagnostik.»

Vom Sinn und Unsinn eines Etiketts
Gauck leitet das Zentrum für Entwicklungs- und Persönlichkeitspsychologie (ZEPP) an der Universität Basel und gilt als Expertin für Hochbegabung. Pro Jahr kommen gut 120 Kinder ins ZEPP zur Hochbegabtenabklärung, viele auf Empfehlung der Schule, andere auf Wunsch der Eltern hin. Bei gut jedem dritten dieser Kinder trifft der Verdacht auf eine Hochbegabung wirklich zu.
Pro Jahr werden an der
Universität Basel rund 120 Kinder auf Hochbegabung abgeklärt.
Wie aussagekräftig ein IQ-Test sei, hänge unter anderem vom Alter des Kindes ab, sagt Gauck. Im Kindergartenalter entwickelten sich etwa kognitive Fähigkeiten und Aufmerksamkeitsvermögen rasant. «Ab dem Alter von sechs Jahren werden Testwerte aussagekräftiger», sagt Gauck, «und ab etwa zehn Jahren ist der IQ recht stabil.»
Wie sinnvoll es, Kindern einen Stempel aufzudrücken?
Ein natürliches Kriterium für Hochbegabung existiert nicht, wie Gauck deutlich macht: «Einen IQ ab 130 als Definition heranzuziehen, ist eine willkürliche Entscheidung, weil wir bei solchen Werten mit Sicherheit davon ausgehen können, dass eine Person deutlich überdurchschnittlich intelligent ist.»
Ein Kind mit IQ 128 werde sich in seiner Leistungsfähigkeit aber kaum von einem mit IQ 131 unterscheiden. «Es ist nicht so, dass ab 130 eine neue Welt beginnt», sagt Gauck, «wir sprechen von graduellen Unterschieden. In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, wie sinnvoll es ist, Kindern einen Stempel aufzudrücken.»
Ohne Herausforderung kein Erfolgserlebnis
Gauck gibt zu bedenken, dass Etikettierung Vorurteile nähre, unter anderem das besonders hartnäckige, wonach Hochbegabte das Lernen nicht nötig hätten. «Diese Annahme ist Unsinn», sagt die Psychologin, «und zudem verhängnisvoll.»
Dies betont auch ein Bericht, den ein Expertengremium für das deutsche Bundesministerium für Bildung und Forschung verfasst hat. Der Glaube, dass Hochbegabte allein aufgrund ihrer Veranlagung brillierten, sei ein Irrtum, heisst es darin. «Kaum jemand käme auf die Idee, dass Spitzenleistungen in der Musik oder im Sport ohne langjähriges intensives Üben und Trainieren unter professioneller Anleitung zu erreichen wären», halten die Experten fest.

Und weiter: «Nicht anders verhält es sich mit der intellektuellen Leistungsfähigkeit. Sie will genauso dauerhaft durch Wissensvermittlung gefördert, durch Aufgabenstellungen herausgefordert und von fähigen Pädagogen in produktive Bahnen gelenkt werden. Fähigkeiten, die man nicht in Anspruch nimmt, entwickeln sich nur unvollkommen und können auch verkümmern.»
Hochbegabte brillieren nicht nur aufgrund ihrer Begabung. Der Intellekt will durch Wissensvermittlung dauerhaft gefördert werden.
Deshalb ist es wichtig, dass die Schule auch hochbegabten Kindern die Möglichkeit bietet, ans Limit zu kommen. Müssen sich Hochbegabte über längere Zeit nicht anstrengen, habe das mitunter schwerwiegende Folgen, weiss Gauck: «Erstens hat ein Kind, dem es an Herausforderungen fehlt, keine Erfolgserlebnisse. Das drückt aufs Selbstvertrauen. Zweitens kann es sich so keine Lernstrategien erarbeiten. Oft macht sich dies beim Wechsel in die Oberstufe bemerkbar. Dann reicht ein gutes Gedächtnis nicht mehr aus.»
Worauf es im Unterricht ankommt
«Kinder verlernen zu lernen, wenn immer alles nur glatt läuft», bestätigt Ania Chumachenco. Die Kinder- und Jugendpsychologin von der Zürcher Praxisgemeinschaft Lichtblick ist auf Begabungsabklärungen spezialisiert. Oft entscheidet ihre Einschätzung darüber, ob ein Kind eine Hochbegabtenschule besuchen darf.
Diesen Weg geht allerdings die Minderheit ihrer Klienten, die sich als hochbegabt herausstellen. «Rund 70 Prozent können ihren Weg in der Regelschule fortsetzen», sagt Chumachenco. «Diese Kinder überspringen eine Klasse, besuchen Förderprogramme ihrer Gemeinde oder schulinterne Zusatzangebote. An manchen Schulen gibt es auch spezielle Hochbegabtenförderung in klassenübergreifenden Gruppen.»
Die Schule stellt für hochbegabte Kinder im Normalfall kein Problem dar
Die 70 Prozent, findet Chumachenco, sprächen dafür, dass die Volksschule ihre Sache im Allgemeinen ganz gut mache, also durchaus für die Anliegen hochbegabter Kinder sensibilisiert sei. «Angebote variieren jedoch je nach Gemeinde», sagt die Expertin, «es gibt also durchaus Luft nach oben.»
Ob ein hochbegabtes Kind sein Potenzial entfalten kann, hängt zudem von seiner Lehrperson ab, weiss Chumachenco: «Hier braucht es Pädagogen mit Weitblick, die nicht stur nach Schema vorgehen.» So sei es zum Beispiel wenig sinnvoll, einem Überflieger in Mathe die gleichen Aufgaben vorzulegen wie seinen Mitschülern, nur um auf die Pflicht zu beharren. Stattdessen empfehle es sich, das Kind gleich mit kniffligerem Stoff auszustatten, um seine Lust aufs Lernen aufrechtzuerhalten.
Rund 70 Prozent aller
Hochbegabten besuchen auch nach der Abklärung keine
Hochbegabtenschule.
Offenheit sei auch gefragt, wenn es um Problemlösungsstrategien hochbegabter Kinder gehe. Manche Lehrpersonen lehnten ungewöhnliche Herangehensweisen im Vornherein ab, weil sie nicht in den Unterrichtsablauf passten.
In der Regel keine Problemschüler
«Ich darf mich als Lehrperson nicht darauf verlassen, dass ein hochbegabtes Kind von allein nach Ersatzmaterial fragt», sagt Chumachenco. «Dies setzt gerade bei jüngeren Kindern ein zu hohes Mass an Selbstreflexion voraus. Eine Achtjährige mit Lernschwäche verlangt kaum von selbst nach Unterstützung – von einer gleichaltrigen Hochbegabten können wir es auch nicht erwarten.» Durch den Entwicklungsvorsprung, den ein hochbegabtes Kind im kognitiven Bereich mitbringe, überschätzten Lehrpersonen und Eltern oft seine Vernunft und Reife.
Auch wenn Stolpersteine möglich sind, stellt die Schule für hochbegabte Kinder in der Regel kein Problem dar. So lautet das Fazit des Marburger Hochbegabtenprojekts, einer der meistbeachteten Langzeitstudien zum Thema. Psychologieprofessor Detlef H. Rost von der Universität Marburg arbeitet seit 1987 daran. Damals testeten er und sein Team etwas über 7000 Neunjährige mittels unterschiedlicher Verfahren, welche vornehmlich die allgemeine Intelligenz erfassten.
151 Kinder mit einem IQ von über 130 wiesen die Forscher den Hochbegabten zu, diesen gegenüber stand eine Vergleichsgruppe von 136 durchschnittlich intelligenten Kindern. Rost verfolgt die schulische, berufliche und soziale Entwicklung der Probanden seit nunmehr 30 Jahren – und musste im Zuge dessen mit vielen Mythen aufräumen. «Dazu gehört unter anderem die Annahme, dass Hochbegabte oft schwierige Schulkarrieren hätten», sagt er. «Das Gegenteil ist der Fall. In der Regel meistern sie die Schule ohne Probleme, sind dort gut integriert und erbringen hervorragende Leistungen.»
Wenn Potenzial und Leistung auseinanderklaffen
Missstände und Handlungsbedarf ortet das Marburger Hochbegabtenprojekt bei einer kleineren Gruppe von Hochbegabten: Sogenannte Underachiever sind Kinder, bei denen intellektuelles Potenzial und Leistung auseinanderklaffen. Laut Rost leisten 15 Prozent aller Hochbegabten in der Schule nicht das, wozu sie aufgrund ihrer kognitiven Fähigkeiten eigentlich imstande wären. Sogenannte Minderleistung sei aber keineswegs ein Hochbegabtenphänomen, sondern betreffe im gleichen Ausmass auch andere Kinder. Die Gründe dafür sind vielfältig, weiss Rost: «Das können Familien-, Sprach- oder andere Probleme sein. Da ist jedes Kind ein Einzelfall.
15 Prozent aller Hochbegabten leisten in der Schule nicht das, wozu sie aufgrund ihrer
Fähigkeiten imstande wären.
Fest steht, dass sich die Problematik schwer beheben lässt. Eigentlich wäre eine Rundumbetreuung nötig, um diese Kinder wieder auf Kurs zu bringen.» Resultate aus dem Marburger Hochbegabtenprojekt weisen darauf hin, dass sich hochbegabte Minderleister im Hinblick auf ihre Persönlichkeitsentwicklung «teilweise dramatisch» von den anderen Probanden unterscheiden. «Dieser Befund gibt aber keinen Anlass, die Misere einer Minderheit zum Prototyp des Hochbegabten hochzustilisieren», mahnt Rost.
«Die schulische Situation, die passende Lernumgebung, hat bei Hochbegabten einen grösseren Einfluss auf die emotionale Befindlichkeit, als es bei durchschnittlich begabten Kindern der Fall ist», sagt Hochbegabungsexpertin Gauck. Entsprechend sei dauerhafte Unterforderung eine mögliche Ursache für Minderleistung. Eine weitere Risikogruppe, für die Lehrpersonen und Psychologen zu wenig sensibilisiert seien, stellten hochbegabte Kinder aus Migrantenfamilien dar. «Sie fliegen unter dem Radar durch», sagt Gauck, «weil ihr Potenzial aufgrund sprachlicher Schwierigkeiten nicht erkannt wird. Das ist eine grosse Ungerechtigkeit.»
Die doppelte Ausnahme
Vergessen geht laut Gauck oft, dass eine Rechen- oder Lese-Rechtschreib-Schwäche auch bei Hochbegabten auftreten kann. Zumindest am Anfang ihrer Schullaufbahn hätten viele dieser Kinder das «Glück», dass sie eine sogenannte Teilleistungsschwäche dank ihrer kognitiven Begabung auffangen, sprich fehlende Lesefähigkeiten etwa durch hervorragende Gedächtnisleistungen ausgleichen könnten.
Auch Hochbegabte mit Rechenschwäche fielen häufig nicht auf. «Ihnen fehlt oft der Zahlenstrahl vor dem inneren Auge, die Fähigkeit, ein Element in eine vorgegebene Reihe einzuordnen», sagt Gauck. «Dieses Manko kompensieren sie durch Abzählen, was sie aufgrund ihres schnellen Denkens nicht so schnell ermüden lässt wie durchschnittlich begabte Kinder.» Dank ausgeklügelter Zählstrategien brächten es Hochbegabte mit einer Rechenschwäche meist auf durchschnittliche Noten in Mathe.
Der Mindest-IQ fürs
Gymnasium liegt bei 112. 45 Prozent aller Studenten
erreichen diesen Wert nicht.
Solche Kompensationsleistungen bringen laut Gauck zweierlei Probleme mit sich: «Erstens wird dadurch die Teilleistungsschwäche nicht rechtzeitig erfasst und zweitens möglicherweise auch die Hochbegabung der Kinder verkannt, weil sie ihre Ressourcen darauf verwenden, ihr Defizit auszugleichen.» Hochbegabte mit Teilleistungsschwächen seien sozusagen die doppelte Ausnahme und stellten hohe Anforderungen an die Diagnostik.
Volks- oder Spezialschule?
Die Anzahl privater Hochbegabtenschulen, die das Potenzial heller Köpfe fördern wollen, hat in den vergangenen Jahren stetig zugenommen.
Während manche Eltern ihre Kinder dort besser aufgehoben sehen als in der Volksschule, steht Begabungsforscher Rost den Einrichtungen skeptisch gegenüber. «Das Umfeld dort entspricht nicht der gesellschaftlichen Realität», sagt er, «die nun einmal geprägt ist von Unterschieden. Es ist wichtig, dass Kinder, ob normal- oder hochbegabt, früh lernen, mit dieser Realität umzugehen.»
Gleich argumentiert Gauck. «Ich halte es für problematisch, Kinder nur aufgrund ihrer Intelligenz von anderen Gleichaltrigen abzusondern», sagt die Psychologin. «Das nimmt ihnen wichtige Lernerfahrungen im Umgang mit sozialer Vielfalt – und bringt durchschnittlich intelligente Kinder um die Erkenntnis, dass Hochbegabte ganz normale Menschen sind.»
Zudem sei oft unklar, wen Hochbegabtenschulen ansprechen wollten, sagt Gauck: «Überflieger, die an der Regelschule ausgebremst wurden? Minderleister, die erst einmal auf Kurs gebracht werden müssen? Beide haben komplett unterschiedliche Bedürfnisse. Es kann schwierig sein, aus solchen Spezialklassen eine funktionierende Lerngemeinschaft zu machen.» Dennoch seien Spezialschulen eine wichtige Ergänzung zur Volksschule, der es mitunter an Ressourcen fehle, um etwa Höchstbegabten gerecht zu werden.
Grundsätzlich aber sollte, wenn es nach Gauck und Rost geht, der Gang auf eine Hochbegabtenschule die Ausnahme darstellen statt die Regel. «Für Kinder, deren kognitive Fähigkeiten Extremwerte erreichen, kann es der richtige Weg sein», sagt Rost. «Für alle anderen Hochbegabten ist ein differenzierter, spannender Unterricht die beste Förderung. Unsere Erfahrung zeigt, dass Spezialschulen fast immer unnötig sind, wenn Lehrpersonen den Unterricht flexibel und die Lernumgebung für Hochbegabte mit Zusatzmaterial attraktiv gestalten.»
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Wichtige Adressen, Definitionen & weitere Artikel
Kluge Köpfe im Überblick
Hochbegabt: Als hochbegabt im klassischen Sinne gilt, wer in Intelligenztestverfahren eine Gesamtpunktzahl beziehungsweise einen Intelligenzquotienten (IQ) von mehr als 130 Punkten erzielt. Etwa zwei Prozent aller Kinder und Jugendlichen erfüllen diese Voraussetzung. Hochbegabte lernen deutlich schneller als Gleichaltrige, brauchen weniger Repetition und Anleitung und haben eine ausgeprägte Fähigkeit, logisch zu denken und Wissen zu kombinieren.
Höchstbegabt: Ab einem IQ von über 145 gilt, je nach wissenschaftlicher Auslegung, eine Person als höchstbegabt. Höchstbegabung ist ein äusserst seltenes Phänomen und betrifft Schätzungen zufolge eine von 100 000 Personen.
Teilbegabt: Bei Kindern und Jugendlichen, die in einem bestimmten kognitiven Bereich herausragende Leistungen erbringen, während sie anderswo durchschnittlich oder eher schwach abschneiden, spricht man oft von einer Teilbegabung.
Kognitiv fit: Elsbeth Stern, Intelligenzforscherin an der ETH Zürich, fordert, dass
die Begabtenförderung an der Volksschule nicht nur die zwei Prozent der Hochbegabten im Auge hat, sondern auch die wesentlich grössere Gruppe derjenigen Kinder und Jugendlichen, die überdurchschnittlich intelligent sind. Stern zufolge machen diese kognitiv Fitten 15 bis 20 Prozent der Schülerinnen und Schüler aus.
Noch Fragen?
Unter folgenden Adressen gibt es Informationen und Beratung:
Das Netzwerk Begabungsförderung verbindet Institutionen und Personen, die sich für Begabungs- und Begabtenförderung engagieren. Es wird von den Deutschschweizer Kantonen getragen und bietet mit Internetplattform, Newsletter und Tagungen vielfältige Möglichkeiten, sich auszutauschen.
www.begabungsfoerderung.ch
Die Stiftung für hochbegabte Kinder mit Sitz in Zürich hat zum Ziel, überdurchschnittlich begabte Kinder intellektuell und menschlich zu fördern. Sie betreibt auch die «Anlaufstelle
Hochbegabung», eine Beratungsstelle für Eltern.
www.hochbegabt.ch
Der in Bern beheimatete Trägerverein zur Förderung begabter Kinder richtet sich an Hochbegabte aus den Kantonen Bern, Solothurn und Deutsch-Freiburg. Er führt Förderkurse für Schüler und Informationsveranstaltungen für Eltern durch.
www.fbk-bern.ch
Der Elternverein für hochbegabte Kinder (EHK) berät Mütter und Väter zum Thema
Hochbegabung. Er bietet die Möglichkeit zum Erfahrungsaustausch in Regionalgruppen und mit seiner Kinder-Uni ein ergänzendes Förderangebot zum Schulunterricht.
www.ehk.ch
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Einzelne Artikel:
- Zwei hochbegabte Kinder erzählen aus ihrem Alltag. Die Eltern von Ella wünschen sich für ihr hochbegabtes Kind eine möglichst normale Schullaufbahn. Juri ist höchstbegabt und stellt damit selbst in der Minderheit der Hochbegabten eine Ausnahme dar.
- «Intelligenz wirkt auf viele bedrohlich», sagt die die Intelligenzforscherin Elsbeth Stern.
- Helle Köpfe, dunkle Aussichten? Drei Mythen über Hochbegabung. Über angebliche Persönlichkeitseigenschaften und Verhaltensweisen Hochbegabter existieren zahlreiche Mythen. Wir haben uns drei davon genauer angesehen.
- Hochbegabung: Die meisten Eltern fürchten sich vor der Diagnose. Das Thema Hochbegabung ist in der Schweiz noch ein Tabu. Darunter leiden Eltern und Kinder, sagt Giselle Reimann. Sie führt an der Uni Basel Abklärungen von Hochbegabten durch.
Dossier Hochbegabung:
- Als hochbegabt gilt ein Kind, wenn es einen IQ von mehr als 130 Punkten hat. Was bedeutet dies für seine schulische Laufbahn? Und wie muss es gefördert werden? Antworten und Hintergründe zum Thema Hochbegabung in unserem grossen Dossier.