Hochbegabung: Kinder auf der Überholspur
Bilder: Anne Gabriel-Jürgens / 13 Photo
Sie lernen rasend schnell und kombinieren messerscharf: Hochbegabte sind Gleichaltrigen in ihren kognitiven Fähigkeiten weit voraus. Was bedeutet dieser Entwicklungsvorsprung für die Kinder, ihre Eltern, die Schule?
Es gibt einen guten Grund, diese Behauptung als Buchtitel zu wählen. Sie ist Balsam auf die Seele vieler Eltern, die sich unter Druck setzen, den Nachwuchs bestmöglich zu fördern. Die Tatsache, dass Hüther auf etwas anderes hinauswill, bekommt ohnehin nur mit, wer sein Buch liest. Alle anderen begnügen sich mit der frohen Botschaft.
«Hochbegabt». Wir denken dabei an Zahlenkünstler, Sprachgenies oder musikalische Wunderkinder, vielleicht auch an übertriebenen elterlichen Ehrgeiz oder eine Modediagnose. Doch was bedeutet Hochbegabung überhaupt? Geht sie immer mit Höchstleistungen einher? Fällt sie uns in den Schoss oder ist sie ein Produkt der Erziehung? Macht ein brillanter Intellekt, wie oft behauptet wird, anfällig für psychische Probleme? Brauchen Hochbegabte Spezialschulen? Diesen und weiteren Fragen geht das vorliegende Dossier nach.
Intelligenz als entscheidendes Merkmal
Hochbegabte haben ein stark ausgeprägtes Potenzial,
Informationen zu verarbeiten, sich Wissen anzueignen und abstrakt zu denken.
Dossier: Hochbegabung
Wie wird Intelligenz gemessen? Ab wann ist man hochbegabt?
Aus den Leistungen, die ein Kind oder Erwachsener in den unterschiedlichen Teilbereichen erzielt, berechnen Diagnostiker eine Gesamtpunktzahl, den Wert für die allgemeine Intelligenz beziehungsweise den Intelligenzquotienten (IQ). Als hochbegabt im klassischen Sinne gilt, wer einen IQ von mehr als 130 Punkten hat.
Hochbegabung in der Bevölkerung
Die deutliche Mehrheit der
Bevölkerung ist mit einem
IQ von 85 bis 115
durchschnittlich intelligent.
Von 100 gleichaltrigen Kindern schneidet eines mit IQ über 130 im Intelligenztest demnach besser ab als 98 andere, nur eines erreicht gleich gute oder noch bessere Leistungen. Hüther hat zweifellos recht, wenn er sagt, dass in jedem Kind Begabungen schlummern – nur: Hochbegabt sind deshalb längst nicht alle.
Vom Sinn und Unsinn eines Etiketts
Pro Jahr werden an der
Universität Basel rund 120 Kinder auf Hochbegabung abgeklärt.
Wie sinnvoll es, Kindern einen Stempel aufzudrücken?
Ein Kind mit IQ 128 werde sich in seiner Leistungsfähigkeit aber kaum von einem mit IQ 131 unterscheiden. «Es ist nicht so, dass ab 130 eine neue Welt beginnt», sagt Gauck, «wir sprechen von graduellen Unterschieden. In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, wie sinnvoll es ist, Kindern einen Stempel aufzudrücken.»
Ohne Herausforderung kein Erfolgserlebnis
Dies betont auch ein Bericht, den ein Expertengremium für das deutsche Bundesministerium für Bildung und Forschung verfasst hat. Der Glaube, dass Hochbegabte allein aufgrund ihrer Veranlagung brillierten, sei ein Irrtum, heisst es darin. «Kaum jemand käme auf die Idee, dass Spitzenleistungen in der Musik oder im Sport ohne langjähriges intensives Üben und Trainieren unter professioneller Anleitung zu erreichen wären», halten die Experten fest.
Hochbegabte brillieren nicht nur aufgrund ihrer Begabung. Der Intellekt will durch Wissensvermittlung dauerhaft gefördert werden.
Worauf es im Unterricht ankommt
Diesen Weg geht allerdings die Minderheit ihrer Klienten, die sich als hochbegabt herausstellen. «Rund 70 Prozent können ihren Weg in der Regelschule fortsetzen», sagt Chumachenco. «Diese Kinder überspringen eine Klasse, besuchen Förderprogramme ihrer Gemeinde oder schulinterne Zusatzangebote. An manchen Schulen gibt es auch spezielle Hochbegabtenförderung in klassenübergreifenden Gruppen.»
Die Schule stellt für hochbegabte Kinder im Normalfall kein Problem dar
Ob ein hochbegabtes Kind sein Potenzial entfalten kann, hängt zudem von seiner Lehrperson ab, weiss Chumachenco: «Hier braucht es Pädagogen mit Weitblick, die nicht stur nach Schema vorgehen.» So sei es zum Beispiel wenig sinnvoll, einem Überflieger in Mathe die gleichen Aufgaben vorzulegen wie seinen Mitschülern, nur um auf die Pflicht zu beharren. Stattdessen empfehle es sich, das Kind gleich mit kniffligerem Stoff auszustatten, um seine Lust aufs Lernen aufrechtzuerhalten.
Rund 70 Prozent aller
Hochbegabten besuchen auch nach der Abklärung keine
Hochbegabtenschule.
In der Regel keine Problemschüler
Auch wenn Stolpersteine möglich sind, stellt die Schule für hochbegabte Kinder in der Regel kein Problem dar. So lautet das Fazit des Marburger Hochbegabtenprojekts, einer der meistbeachteten Langzeitstudien zum Thema. Psychologieprofessor Detlef H. Rost von der Universität Marburg arbeitet seit 1987 daran. Damals testeten er und sein Team etwas über 7000 Neunjährige mittels unterschiedlicher Verfahren, welche vornehmlich die allgemeine Intelligenz erfassten.
Wenn Potenzial und Leistung auseinanderklaffen
15 Prozent aller Hochbegabten leisten in der Schule nicht das, wozu sie aufgrund ihrer
Fähigkeiten imstande wären.
«Die schulische Situation, die passende Lernumgebung, hat bei Hochbegabten einen grösseren Einfluss auf die emotionale Befindlichkeit, als es bei durchschnittlich begabten Kindern der Fall ist», sagt Hochbegabungsexpertin Gauck. Entsprechend sei dauerhafte Unterforderung eine mögliche Ursache für Minderleistung. Eine weitere Risikogruppe, für die Lehrpersonen und Psychologen zu wenig sensibilisiert seien, stellten hochbegabte Kinder aus Migrantenfamilien dar. «Sie fliegen unter dem Radar durch», sagt Gauck, «weil ihr Potenzial aufgrund sprachlicher Schwierigkeiten nicht erkannt wird. Das ist eine grosse Ungerechtigkeit.»
Die doppelte Ausnahme
Auch Hochbegabte mit Rechenschwäche fielen häufig nicht auf. «Ihnen fehlt oft der Zahlenstrahl vor dem inneren Auge, die Fähigkeit, ein Element in eine vorgegebene Reihe einzuordnen», sagt Gauck. «Dieses Manko kompensieren sie durch Abzählen, was sie aufgrund ihres schnellen Denkens nicht so schnell ermüden lässt wie durchschnittlich begabte Kinder.» Dank ausgeklügelter Zählstrategien brächten es Hochbegabte mit einer Rechenschwäche meist auf durchschnittliche Noten in Mathe.
Der Mindest-IQ fürs
Gymnasium liegt bei 112. 45 Prozent aller Studenten
erreichen diesen Wert nicht.
Volks- oder Spezialschule?
Während manche Eltern ihre Kinder dort besser aufgehoben sehen als in der Volksschule, steht Begabungsforscher Rost den Einrichtungen skeptisch gegenüber. «Das Umfeld dort entspricht nicht der gesellschaftlichen Realität», sagt er, «die nun einmal geprägt ist von Unterschieden. Es ist wichtig, dass Kinder, ob normal- oder hochbegabt, früh lernen, mit dieser Realität umzugehen.»
Gleich argumentiert Gauck. «Ich halte es für problematisch, Kinder nur aufgrund ihrer Intelligenz von anderen Gleichaltrigen abzusondern», sagt die Psychologin. «Das nimmt ihnen wichtige Lernerfahrungen im Umgang mit sozialer Vielfalt – und bringt durchschnittlich intelligente Kinder um die Erkenntnis, dass Hochbegabte ganz normale Menschen sind.»
Zudem sei oft unklar, wen Hochbegabtenschulen ansprechen wollten, sagt Gauck: «Überflieger, die an der Regelschule ausgebremst wurden? Minderleister, die erst einmal auf Kurs gebracht werden müssen? Beide haben komplett unterschiedliche Bedürfnisse. Es kann schwierig sein, aus solchen Spezialklassen eine funktionierende Lerngemeinschaft zu machen.» Dennoch seien Spezialschulen eine wichtige Ergänzung zur Volksschule, der es mitunter an Ressourcen fehle, um etwa Höchstbegabten gerecht zu werden.
Grundsätzlich aber sollte, wenn es nach Gauck und Rost geht, der Gang auf eine Hochbegabtenschule die Ausnahme darstellen statt die Regel. «Für Kinder, deren kognitive Fähigkeiten Extremwerte erreichen, kann es der richtige Weg sein», sagt Rost. «Für alle anderen Hochbegabten ist ein differenzierter, spannender Unterricht die beste Förderung. Unsere Erfahrung zeigt, dass Spezialschulen fast immer unnötig sind, wenn Lehrpersonen den Unterricht flexibel und die Lernumgebung für Hochbegabte mit Zusatzmaterial attraktiv gestalten.»
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Kluge Köpfe im Überblick
Höchstbegabt: Ab einem IQ von über 145 gilt, je nach wissenschaftlicher Auslegung, eine Person als höchstbegabt. Höchstbegabung ist ein äusserst seltenes Phänomen und betrifft Schätzungen zufolge eine von 100 000 Personen.
Teilbegabt: Bei Kindern und Jugendlichen, die in einem bestimmten kognitiven Bereich herausragende Leistungen erbringen, während sie anderswo durchschnittlich oder eher schwach abschneiden, spricht man oft von einer Teilbegabung.
Kognitiv fit: Elsbeth Stern, Intelligenzforscherin an der ETH Zürich, fordert, dass
die Begabtenförderung an der Volksschule nicht nur die zwei Prozent der Hochbegabten im Auge hat, sondern auch die wesentlich grössere Gruppe derjenigen Kinder und Jugendlichen, die überdurchschnittlich intelligent sind. Stern zufolge machen diese kognitiv Fitten 15 bis 20 Prozent der Schülerinnen und Schüler aus.
Noch Fragen?
Das Netzwerk Begabungsförderung verbindet Institutionen und Personen, die sich für Begabungs- und Begabtenförderung engagieren. Es wird von den Deutschschweizer Kantonen getragen und bietet mit Internetplattform, Newsletter und Tagungen vielfältige Möglichkeiten, sich auszutauschen.
www.begabungsfoerderung.ch
Die Stiftung für hochbegabte Kinder mit Sitz in Zürich hat zum Ziel, überdurchschnittlich begabte Kinder intellektuell und menschlich zu fördern. Sie betreibt auch die «Anlaufstelle
Hochbegabung», eine Beratungsstelle für Eltern.
www.hochbegabt.ch
Der in Bern beheimatete Trägerverein zur Förderung begabter Kinder richtet sich an Hochbegabte aus den Kantonen Bern, Solothurn und Deutsch-Freiburg. Er führt Förderkurse für Schüler und Informationsveranstaltungen für Eltern durch.
www.fbk-bern.ch
Der Elternverein für hochbegabte Kinder (EHK) berät Mütter und Väter zum Thema
Hochbegabung. Er bietet die Möglichkeit zum Erfahrungsaustausch in Regionalgruppen und mit seiner Kinder-Uni ein ergänzendes Förderangebot zum Schulunterricht.
www.ehk.ch
Mehr lesen zum Thema Hochbegabung:
- Zwei hochbegabte Kinder erzählen aus ihrem Alltag. Die Eltern von Ella wünschen sich für ihr hochbegabtes Kind eine möglichst normale Schullaufbahn. Juri ist höchstbegabt und stellt damit selbst in der Minderheit der Hochbegabten eine Ausnahme dar.
- «Intelligenz wirkt auf viele bedrohlich», sagt die die Intelligenzforscherin Elsbeth Stern.
- Helle Köpfe, dunkle Aussichten? Drei Mythen über Hochbegabung. Über angebliche Persönlichkeitseigenschaften und Verhaltensweisen Hochbegabter existieren zahlreiche Mythen. Wir haben uns drei davon genauer angesehen.
- Hochbegabung: Die meisten Eltern fürchten sich vor der Diagnose. Das Thema Hochbegabung ist in der Schweiz noch ein Tabu. Darunter leiden Eltern und Kinder, sagt Giselle Reimann. Sie führt an der Uni Basel Abklärungen von Hochbegabten durch.
Dossier Hochbegabung:
- Als hochbegabt gilt ein Kind, wenn es einen IQ von mehr als 130 Punkten hat. Was bedeutet dies für seine schulische Laufbahn? Und wie muss es gefördert werden? Antworten und Hintergründe zum Thema Hochbegabung in unserem grossen Dossier.