03. Juni 2020
«Ein Pflegekind wird nie ein eigenes Kind sein»
Interview: Sandra Casalini
Bilder: Daniel Auf der Mauer / zVg
Bilder: Daniel Auf der Mauer / zVg
Lesedauer: 3 Minuten
Karin Gerber sagt, ein Kind müsse altersgerecht erklärt bekommen, warum es nicht bei seinen Eltern leben kann. Die Leiterin der Fachstelle Pflegekind Aargau über schöne Elternbesuche, widersprüchliche Gefühle und Loyalitätskonflikte.
Frau Gerber, Michael und Nico leben bei einer Familie, die nicht ihre eigene ist. Wie ist das für ein Kind?
Die beiden sind noch zu klein, um einordnen zu können, weshalb sie nicht in ihrer ursprünglichen Familie leben. Dennoch weiss man, dass eine frühzeitige Trennung als Bruch in der eigenen Biografie wahrgenommen wird. Die meisten Pflegekinder haben ja leibliche Eltern, die sie genauso lieben wir ihre Pflegefamilie. Umgekehrt sind auch die Kinder ihnen gegenüber loyal und verbunden. Es herrschen Umstände, die dagegen sprechen, dass das Kind bei ihnen lebt. Es ist wichtig, den Kindern diese Gründe altersgerecht zu erklären.
Das heisst, das Kind hat de facto mehrere Eltern. Was bedeutet das emotional?
Das ist sehr unterschiedlich. Ich bekomme öfter von Kindern zu hören, dass sie es ganz schön finden, den Alltag mit der Pflegefamilie zu leben und die Besuche bei den leiblichen Eltern als etwas Aussergewöhnliches zu erleben. Viele Kinder empfinden aber auch sehr widersprüchliche Gefühle den eigenen Eltern gegenüber.
Zur Person:
Karin Gerber leitet die Fachstelle Pflegekind Aargau in Baden. Der Verein vermittelt Pflegekinder und berät und begleitet Pflegefamilien.
Der zweijährige Nico weint vor den Besuchen bei seinen leiblichen Eltern.
Sein Lebensmittelpunkt ist in der Pflegefamilie, und so ist es durchaus möglich, dass ein Kind traurig ist oder weint, wenn es sich verabschieden muss. Kinder, die morgens in die Kita gebracht werden, weinen auch oft, und wenn sie mal da sind, ist alles in Ordnung. Schwierig wird es, wenn die Pflegeeltern zu sehr «mitleiden» und das Gefühl haben, dass das Kind bei den Eltern nicht gut aufgehoben ist. Sie sollten immer wieder reflektieren, ob es hier wirklich ums Kind geht oder um ihre eigenen Gefühle. Doch wenn das Kind durch die Besuche gefährdet ist, muss man einschreiten.
Wie merkt man das?
Am Verhalten des Kindes. Ich erinnere mich an ein neunjähriges Mädchen, das seit sieben Jahren in einer Pflegefamilie war und regelmässigen Kontakt zur leiblichen Mutter hatte. Irgendwann fing die Mutter an, sich dem Kind gegenüber negativ über die Pflegefamilie auszulassen. Das Mädchen wurde zunehmend verschlossener und konnte sich nicht mehr unbeschwert in der Familie bewegen. Sie «erstickte» fast an dieser Situation. Leider konnte der Loyalitätskonflikt, in dem sie sich befand, nicht aufgelöst werden und es erfolgte eine Umplatzierung in ein Heim.
Warum hat man in diesem Fall nicht den Kontakt zur Mutter unterbunden?
Das ist schwer zu sagen. Grundsätzlich wird den leiblichen Eltern sehr grosses Gewicht beigemessen. Das ist auch in Ordnung so, denn sie kann man nicht ersetzen. Trotzdem muss man immer genau hinschauen, einschätzen und entscheiden, was für das jeweilige Kind unterstützend ist.
Aus welchen Gründen nimmt eine Familie ein Pflegekind auf?
Viele möchten eine soziale Aufgabe wahrnehmen, haben Platz und Zeit dafür. Dabei sollten finanzielle Interessen nicht im Vordergrund stehen. Die Einstellung, nebenbei noch ein bisschen was mit einem Pflegekind zu verdienen, ist nicht die richtige. Da es sich um eine höchst verantwortungsvolle Aufgabe handelt, muss man auch bei einem unerfüllten Kinderwunsch genauer hinschauen. Ein Pflegekind wird nie ein eigenes Kind sein.
Ist es schwieriger, eine Pflegefamilie für ältere Kinder zu finden?
Nein, auch Schulkinder sind noch gut vermittelbar. Schwieriger wird es bei Teenagern. In dem Alter löst man sich normalerweise von der Familie ab. Sich in eine neue zu integrieren, entspricht nicht der Entwicklung. Aber es gibt auch Pflegeeltern, die sehr gern junge Leute ins Erwachsenenleben begleiten.
Wann empfiehlt sich für ein Kind eine Heimplatzierung?
Je mehr die leiblichen Eltern die Pflegeeltern als Konkurrenz wahrnehmen, desto besser ist das Kind mit einer Heimplatzierung bedient. Auch wenn ein Kind aufgrund seiner Biografie ein Verhalten zeigt, das den familiären Rahmen überfordert – zum Beispiel Gewalt –, wird man mit einer Platzierung in einer Familie niemandem gerecht.
Was braucht es, damit ein Kind zurück zu seiner Herkunftsfamilie kann?
Wird eine Rückkehr in die Herkunftsfamilie angestrebt, sollte vorgängig mit den Eltern an ihren Defiziten gearbeitet werden, damit diese in einem vereinbarten Zeitrahmen behoben werden können. Schlussendlich entscheidet die KESB, ob das Umfeld für die Entwicklung des Kindes förderlich ist oder nicht.
Wie viele Rückplatzierungen von dauerplatzierten Kindern haben Sie selbst erlebt?
In den fünfzehn Jahren, in denen ich in diesem Feld tätig bin, nur wenige.
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