Pflegefamilien: «Liebe allein reicht nicht» - Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
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Pflegefamilien: «Liebe allein reicht nicht»

Lesedauer: 4 Minuten

Wenn Kinder ihre Eltern verlassen müssen, ist das immer eine Katastrophe. Was in diesen Mädchen und Buben vorgeht, wie die Pflegefamilie damit umgehen sollte und warum sie gut daran tut, die leiblichen Eltern nicht von ihrem Sockel zu stossen, weiss die Familientherapeutin Irmela Wiemann. 

Frau Wiemann, Sie haben unzählige Pflegekinder auf ihrem Weg begleitet.
Wie fühlt es sich an, wenn man plötzlich nicht mehr bei seinen leiblichen Eltern leben kann, leben darf? 

Das ist immer eine Katastrophe, ein tiefer Einschnitt ins Leben – unabhängig davon, was die Mädchen und Jungen vorher erlebt haben. Sie fühlen sich in dieser Situation überwältigt und ohnmächtig.

Dabei wurden sie aus der Familie genommen, damit es ihnen besser geht, oder? 

Diesen Zusammenhang können vor allem jüngere Kinder nicht herstellen. Sie haben das Gefühl, sie hätten Fehler gemacht, fühlen sich schuldig. Denken Sie an Sechs- oder Siebenjährige. Die sind ausserordentlich solidarisch mit ihren Eltern und bleiben auch loyal, obwohl sie tief in sich spüren, dass Mama und Papa ihnen nicht das geben können, was sie brauchen. Selbst wenn die Kleinen direkte oder indirekte Gewalt erlebt haben, empfinden sie neben Angst auch Zuneigung und Liebe für Mama und Papa. Das sind widersprüchliche Gefühle, die auch wir Erwachsenen nur schwer miteinander in Einklang bringen können.
«Manche Teenager melden sich selbst bei der Kindesschutzbehörde, weil sie es daheim nicht mehr aushalten», weiss Familientherapeutin Irmela Wiemann.
«Manche Teenager melden sich selbst bei der Kindesschutzbehörde, weil sie es daheim nicht mehr aushalten», weiss Familientherapeutin Irmela Wiemann.

Ist es weniger belastend, wenn die Kinder bereits früh aus ihrer Familie genommen werden?

Das hat man lange geglaubt. Heute wissen wir, dass sich eine frühzeitige Trennung dennoch als Bruch in der eigenen Biografie niederschlägt. Der wirkt lebenslang auf die Persönlichkeit eines Menschen. Wenn man ein Baby fremdplatziert, dann verliert es nicht nur seine Bezugspersonen, sondern auch die gewohnte Umgebung, die bekannten Gegenstände, den Familiengeruch. Die frühe Entwurzelung verursacht seelische Verletzungen, gerade weil Kleinkinder nicht durch Denken abstrahieren können.

Wie zeigt sich dieser Schock, wenn die Kinder in der neuen Familie ankommen? 

Die einen Kinder weinen und signalisieren damit deutlich, wie verunsichert und überfordert sie sind. Andere tun so, als sei nichts gewesen. Dieses Verhalten zeigt, dass diese Mädchen und Jungen bereits früh gelernt haben, ihre Gefühle abzuspalten. 

Wie erleben Jugendliche eine Fremdplatzierung? 

Manche Teenager melden sich selbst bei der Kindesschutzbehörde, weil sie es daheim nicht mehr aushalten. Umgekehrt werden auch Eltern vorstellig, die sagen: Wir schaffen es nicht mehr mit dem pubertierenden Jugendlichen. Obwohl das gegensätzlich klingt, gibt es Parallelen: In beiden Fällen sind erneut gemischte Gefühle im Spiel. Enttäuschung und Wut neben Sehnsucht nach Normalität und Zuneigung. Wenn ein Kind seine Eltern ablehnt, dann kann es sich selbst auch nicht komplett lieben. Es ist ein Teil dieser Eltern.

«Kinder, die von ihren Eltern getrennt wurden, wollen verstehen, warum das passiert ist.» 

Können Pflegekinder lernen, mit ihren widersprüchlichen Gefühlen umzugehen? 

Ja. Kinder, die von ihren Eltern getrennt wurden, wollen verstehen, warum das passiert ist. Dabei ist es hilfreich, ihnen bewusst zu machen, dass ihre Mütter und Väter seelisch «beschädigt» sind. Oft haben sie nicht gelernt, wie man Bindungen eingeht. Man kann aber nur das weitergeben, was man selbst erfahren und verinnerlicht hat.

Inwiefern? 

Ich glaube, dass die meisten Erwachsenen, denen man die Kinder wegnehmen musste, in ihrer Vergangenheit traumatisiert wurden und dabei gelernt haben, ihre Gefühle abzuschalten. Die Emotionen lassen sich nicht beliebig wieder einschalten. Traumatisierten Menschen fehlt oftmals das Einfühlungsvermögen in andere. Das ist aber eine Grundvoraussetzung für die Fähigkeit, Kinder zu versorgen.

Was schlagen Sie vor? 

Sobald die Kinder und Jugendlichen verstehen, dass es sich bei ihren Eltern um seelisch verletzte Menschen handelt, die ihre Mutter- oder Vaterrolle nicht angemessen übernehmen konnten, ist ein wichtiger Schritt getan. Dann kann die Wut in Trauer umgewandelt werden und es beginnt so etwas wie «Aussöhnen» oder «Frieden schliessen». Manche Betroffene schaffen diesen Schritt bereits sehr früh.

Viele Pflegekinder idealisieren ihr altes Leben, obwohl sie nachweislich vernachlässigt und/oder misshandelt wurden. Wie ist das zu erklären? 

Sie schützen sich vor ihrem Schmerz, wenn sie davon ausgehen, dass die leibliche Familie toll ist. Und es gibt diesen gesellschaftlichen Mythos, dass Kinder zwangsläufig nach ihren Eltern kommen. Wenn also Mama und Papa «schlecht» sind, dann bin ich es auch. Stellt das Kind die Herkunftsfamilie hingegen auf einen Sockel, ist es selbst auch wertvoll. Und schon ist zumindest ein Teil seines Kummers abgemildert. 

«Die Ersatzeltern haben es immer mit einem seelisch verletzten Kind zu tun, das eine heilende Atmosphäre braucht.»

Pflegeeltern sind nicht selten versucht, die Herkunftsfamilie von eben diesem Sockel zu stossen. Ist das klug? 

Nein, da man damit das Kind trifft. Warum erfindet es diese heile Welt? Weil es seine Eltern vermisst und weil der Wunsch nach einer «normalen » Vergangenheit stark ist. Statt es zu überführen, sollten die Pflegeeltern seine Gefühle aufgreifen. Wenn also mal wieder eine Geschichte kommt, in der die leibliche Mutter die tollsten Menüs gekocht hat, könnte die neue Familie sagen: Wir merken, dass dir deine Mama gerade sehr fehlt.

Viele Menschen glauben, ein Kind brauche von seinen Pflegeeltern vor allem zwei Dinge: Liebe und Geborgenheit. Genügt das? 

Ich würde einen Schritt weitergehen. Die Ersatzeltern haben es immer mit einem seelisch verletzten Kind zu tun, das eine heilende Atmosphäre braucht, einen sicheren Ort, in dem es gefördert und gefordert wird. Die Erziehungsrezepte, die bei den leiblichen Kindern der Pflegeeltern geklappt haben, müssen überdacht werden. Ein Timeout im Zimmer kann als bedrohlich gesehen werden. Das neue Kind wird unter Umständen in Panik geraten, da es nicht alleine sein kann, oder es sieht als bewiesen an, nicht geliebt zu werden.

Welche Punkte müssen die neuen Eltern noch berücksichtigen?

Sie haben nicht nur den Auftrag, für das Kind zu sorgen, sie sollten auch den leiblichen Eltern einen Platz im Leben des Kindes einräumen. Das ist ein wichtiges Signal: Wir achten deine erste Mama und deinen ersten Papa. Und natürlich dürfen sie in deinem Herzen bleiben. Dort ist Platz für uns alle.

Bilder: fotolia, zVg


Zur Person

Irmela Wiemann ist eine ausgewiesene Expertin in der Beratung und Begleitung von Pflege-, Adoptiv- und Herkunftsfamilien. Sie veröffentlicht Bücher zum Thema und leitet Fortbildungsveranstaltungen. Die Psycho- und Familientherapeutin lebt in der Nähe von Frankfurt. www.irmelawiemann.de

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