Vereinbarkeit von Familie und Erwerbstätigkeit bei sozial benachteiligten Familien - Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
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Vereinbarkeit von Familie und Erwerbstätigkeit bei sozial benachteiligten Familien

Lesedauer: 4 Minuten

Die neue Publikation «Vereinbarkeit von Familie und Erwerbstätigkeit im Kontext sozialer Benachteiligung» des Vereins a:primo gibt Einblick in die komplexe Lebenssituation sozial benachteiligter Familien in der Schweiz. 

Die Vereinbarkeit von Familie und Erwerbstätigkeit ist oftmals nicht einfach. Sind sozial benachteiligte Personen davon betroffen, wird es oft noch komplexer. Diesen Problemen ist der Verein a:primo im Rahmen eines Rahmen eines Projektauftrags des Bundesamts für Sozialversicherungen (BSV) nachgegangen.

Die Studie Vereinbarkeit von Familie und Erwerbstätigkeit im Kontext sozialer Benachteiligungen zeigt auf, mit welchen Herausforderungen die Familien in Bezug sowohl auf die soziale und berufliche Integration als auch auf die Vereinbarkeit von Familie und Erwerbstätigkeit zu kämpfen haben.

Soziale Benachteiligung ist eine Kumulation ungünstiger Voraussetzungen. Unter sozial benachteiligten Familien fallen beispielsweise Familien, bei denen Drogen oder Gewalt vorkommen, die ein niedriges Bildungsniveau oder schlechte Sprachkenntnisse haben oder die über ein unzureichendes Einkommen verfügen. Die Studie fokussiert unter anderem auf das Kindswohl, das in solch Familien oft vernachlässigt wird.

So befinden sich Kinder aus belasteten Familien öfter in ungünstigen Betreuungssituationen als Kinder aus unbelasteten Familien. Problematisch ist, dass bei Familien in Belastungssituationen die Kinder aus Kostengründen innerhalb der Familie betreut werden, auch wenn die zeitlichen und physischen Ressourcen nicht vorhanden sind und so eine normale Entwicklung des Kindes verhindern werden kann.

Das Fazit der Studie:
«Insgesamt hat sich gezeigt, dass die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen die Vereinbarkeit von Familie und Erwerbstätigkeit erschweren. Eine ausreichend lange Elternzeit würde den Kindern das Ankommen in der Familie und den Aufbau einer sicheren Bindung zu den engen Bezugspersonen erleichtern. Insbesondere sozial belastete Familien könnten in der ersten Phase nach der Geburt eine tragfähige Betreuungslösung für ihre Kinder aufbauen. Damit dies möglich ist, braucht es neben der längeren Elternzeit den Zugang zu qualitativ guten und bezahlbaren Kinderbetreuungsangeboten.»

Doch auch wenn das Fazit wenig erstaunt, es gibt noch viel zu tun. So verfolgt die Publikation von a:primo unter anderem das Ziel, diesen sozial benachteiligten Familien eine Stimme zu geben und über ihre Verhältnisse zu informieren. Zudem lassen sich mit den Daten Handlungsfelder erkennen, in denen Gemeinden bereits heute einen Beitrag zur Erleichterung der Vereinbarkeit leisten können. Und es werden Möglichkeiten für längerfristige Anpassungen der Rahmenbedingungen an die heutige Realität aufgezeigt, die die Vereinbarkeit für alle Familien – insbesondere jedoch für sozial belastete Familien – erleichtern würden.

Mehr Informationen zur Studie und zu speziellen Frühförderprogrammen gibt es auf www.aprimo.ch


Der Verein a:primo

Seit mehr als zehn Jahren engagiert sich Der Verein a:primo schweizweit für die Anliegen sozial belasteter Familien mit Kindern im Alter zwischen einem und sechs Jahren. Er bezweckt die gemeinnützige und nachhaltige Unterstützung der frühen Förderung von sozial benachteiligten Kindern im Vorschulalter mit Angeboten wie schritt:weise bzw. petits:pas und ping:pong.

Auf der nächsten Seite lesen Sie einen Bericht einer sozial benachteiligten Familie aus eben dieser Studie, die vom Frühförderangebot schritt:weise des Vereins a:primo begleitet wurde. 

Einblick in eine schritt:weise-Familie 

Der 35-jährige Serhat (alle Namen geändert) ist vor fünf Jahren in die Schweiz gezogen. Seine Frau Zera und sein heute vierjähriger Sohn Besim blieben in einem syrisch-kurdischen Dorf mitten im umkämpften Gebiet zurück. Vor zwei Jahren konnte Serhat seine Frau und Besim dank dem Familiennachzug zu sich holen. Serhat arbeitet auf Abruf stundenweise als Küchenhilfe. Er kann mit seinem Einkommen den Unterhalt nicht sichern. Daher wird die Familie mit Asylstatus von einem Hilfswerk unterstützt.

Serhat hat neben der Arbeit wenig Freizeit. Doch er kennt einige Landsleute, mit denen er sich
manchmal trifft. Zera hingegen hat kaum Freunde hier. Sie fühlt sich sehr einsam in der kleinen – bis auf ein Fernsehgerät ziemlich spartanisch eingerichteten – Wohnung in der städtischen Agglomeration. Der vom Hilfswerk organisierte Deutschkurs ermöglicht ihr, wenigstens einige Stunden in der Woche rauszukommen. Die eigentlich temperamentvolle Frau ist hilflos und verloren. Die Deutschlehrerin hat sich um Zera und ihren kleinen Sohn gesorgt und ihr schritt:weise empfohlen.

Die schritt:weise-Koordinatorin erinnert sich noch genau ans erste Treffen mit Zera und Besim. Noch nie hat sie ein so trauriges kleines Kind gesehen. Besim hat den Krieg miterlebt. Das steht ihm ins Gesicht geschrieben. Er konnte sich auf keine Spiele einlassen, war unruhig und schlug seine Mutter ständig. 

Zera ging es auch nicht gut. In Syrien war sie mit ihrer Familie zusammen. Die ganze Sippe hat zum Kleinen geschaut. In der Schweiz und völlig isoliert, war sie zum ersten Mal allein für Besim verantwortlich. Sie wusste nicht, wie sie damit umgehen sollte. Die Situation überforderte sie. Serhat war ständig bei der Arbeit. Zu Hause hat er sich nur wenig beteiligt. Zudem kannten Vater und Sohn sich kaum, weil Serhat vor Besims Geburt aus dem Kriegsgebiet geflüchtet war.

Besim war vernachlässigt. Er verbrachte seine Tage vor dem Fernseher oder mit dem Handy. Die Koordinatorin zog eine Gefährdungsmeldung in Betracht. Glücklicherweise konnte vorher eine gute Lösung gefunden werden. Dank ihrer Vernetzung konnte die Koordinatorin einen subventionierten Kita-Notfallplatz für Besim organisieren. Parallel unterstützten die Koordinatorin und die Hausbesucherin Zera beim Aufbau einer Bindung zu ihrem Sohn. 

Bereits nach kurzer Zeit vollzog sich eine unglaubliche Verwandlung. Besims zerstörerisches Verhalten aus Vernachlässigung hat sich gelegt. Die sozialen Kontakte taten ihm gut und er wurde viel fröhlicher. Zera konnte sich auf Besim einlassen und schenkte ihm mehr Beachtung. 

Zera nahm die positiven Veränderungen ihres Sohnes war. Sie hat Vertrauen zur Hausbesucherin und zur Koordinatorin gefasst. Als der dicke Brief vom Kindergarten im Briefkasten lag, bat sie die Hausbesucherin zum allerersten Mal um Hilfe. Vorher hat sie bei allen Informationen aus Scham behauptet, dass sie alles verstehe. 

Es war ein riesiger Schritt für Zera. Sie verstand nicht, wie die Schweiz und der Kindergarten funktionieren. All die Informationen überforderten sie, doch sie wollte sich keine Blösse geben. Zera wurde von der Hausbesucherin darauf aufmerksam gemacht, dass man in der Schweiz immer nachfragen darf und wie wichtig es ist, dies auch zu tun.

Heute besucht Besim drei Tage die Woche die Kita, geht in die Logopädie und wird im Sommer mit dem Kindergarten beginnen. Die Koordinatorin ist zuversichtlich, dass er die Entwicklungsrückstände aufholen wird. Er ist ein cleverer kleiner Junge. Inzwischen hat Besim einen Bruder bekommen, der bessere Startchancen hat.

Quelle: Dieser Bericht basiert auf Daten, die a:primo im Rahmen eines Projektauftrags des Bundesamts für Sozialversicherungen (BSV) erhoben hat. Das Projekt wird durch die «Finanzhilfen im Rahmen des Kredits Dachverbände für Familienorganisationen» des BSV finanziert und ermöglicht es a:primo, die Vereinbarkeit von Familie und Erwerbstätigkeit bei sozialer Benachteiligung genauer zu untersuchen.