Eltern-Burnout: Lässt sich der Zusammenbruch verhindern?

Bilder: Plainpicture und iStock
Viele Eltern fühlen sich überfordert und ausgebrannt. Der tägliche Spagat zwischen Beruf und Familie ist nur schwer zu bewältigen, dazu kommen Anforderungen der Schule, Fahrdienste, Festivitäten. Was führt in die Erschöpfung? Was aus einem Burnout heraus?
Das hat Folgen: Immer mehr Eltern fühlen sich überfordert und erschöpft. Der moderne Familienalltag ist zu einem Gesundheitsrisiko geworden. In Zahlen belegen lässt sich das kaum, niemand in der Schweiz zählt erschöpfte Mütter und Väter. In Deutschland allerdings schon. Das Deutsche Müttergenesungswerk ermöglicht Müttern – und auch Vätern – Kurmassnahmen und führt kontinuierlich Statistik. Jährlich nehmen 40’000 Mütter das Angebot in Anspruch. Die Zahl der Kurmütter mit Erschöpfungssyndromen bis hin zum Burnout, mit Schlafstörungen, Angstzuständen, Kopfschmerzen oder ähnlichen Erkrankungen ist in den vergangenen 15 Jahren von 48 Prozent auf 97 Prozent gestiegen.
Online-Dossier Burnout
Welches aber sind die Ursachen für die zunehmend erschöpften Eltern? Und was können Familien tun, um im besten Fall gar nicht erst in eine Überforderung zu geraten? Auf diese und andere Fragen will dieses Dossier Antworten geben.
Ständiger Zeitdruck, die berufliche Belastung und die Vereinbarung von Kinder und Beruf sind für Mütter Hauptbelastungsfaktoren.
Die drei Hauptbelastungsfaktoren, die die Mütter angeben, sind ständiger Zeitdruck, die berufliche Belastung und Probleme, Kinder und Beruf zu vereinbaren.
«Es lastet zu viel auf zu wenigen Schultern», sagt Marlene Held. Die psychologische Psychotherapeutin am Inselspital Bern beobachtet, dass Eltern in der Kernfamilie oft alleine gelassen werden. Das Risiko einer chronischen Erschöpfung sei deshalb hoch: «Dadurch, dass viel aufs Individuum abgewälzt wird, entsteht ein grosser Druck bei den Eltern.»
Hinzu kommen die gestiegenen Ansprüche in der Leistungsgesellschaft. Immer schneller soll immer mehr erledigt sein, wir werden von Reizen überflutet und ertrinken in gewollten und ungewollten Informationen. Wer eine Familie führt, ist 24 Stunden am Tag verantwortlich. Schule, Job und Freizeit sind eng durchgetaktet und gleichzeitig ein höchst fragiles Konstrukt.
Kleine Einbrüche im System – Kind krank, Hütedienst fällt aus – rauben schnell viel Energie. «Auch bei Alltagsroutine ohne Zusatzbelastungen ist das Leben mit Kindern in der Kleinfamilie einerseits sehr bereichernd, andererseits fordernd bis überfordernd», so Marlene Held. Ihr ist wichtig zu betonen: Das ist völlig normal.
Familien leiden unter der Isolation
Es sind meist die eigenen Ansprüche, an denen perfektionistisch veranlagte Eltern scheitern. «Die Anforderungen, die sich Eltern mit sehr hohen Ansprüchen selbst auferlegen, finde ich problematisch», sagt Stephanie Hefti, Psychologin an den Universitären Psychiatrischen Kliniken Basel. Denn: Je höher der Anspruch, desto eher kann ich ihm nicht gerecht werden.
Das Elternsein an sich sei schon eine grosse Herausforderung, so Hefti, das mache ja jeder zum ersten Mal. «Immer alles abdecken und leisten zu wollen, was theoretisch möglich ist, ist unrealistisch und führt häufig zu einer Überforderung», erklärt Hefti. Es ist okay, wenn abends mal kein selbstgekochtes Biogericht auf dem Tisch steht und der 8-Jährige nur ein Hobby betreibt statt vier. Hefti rät Eltern zu versuchen, die eigenen Bedürfnisse wieder mehr wahrzunehmen. In sich hineinzuhorchen und sich zu fragen: Was möchte und kann ich leisten? Wo sind meine Belastungsgrenzen?
Hilfe müsste niederschwellig angeboten werden …
Alarmiert sein sollte, wer über einen längeren Zeitraum merkt, dass er oder sie häufig gereizt und dünnhäutig ist, dass Lärm als sehr belastend wahrgenommen wird, dass man sich von seinen Kindern emotional distanziert fühlt und Schlaf nicht mehr erholsam ist.
Wenn Über-den-eigenen-Kräften-Schaffen ein Dauerzustand ist, wird es höchste Zeit zu Handeln.
Die Psychologin hat die Erfahrung gemacht, dass viele erst dann Hilfe suchen, wenn sie schon deutlich unter psychischen Problemen wie Schlafstörungen, Ängsten oder depressiven Verstimmungen leiden. Dabei sei es sinnvoller, diesen Weg bereits bei den ersten Warnzeichen zu gehen.

Vorhandene Unterstützungsangebote wie Familien- und Elternberatungen, der Elternnotruf oder das Netzwerk Psychische Gesundheit Schweiz seien zu wenig bekannt. Eltern suchten erstaunlicherweise sehr häufig bei Lehrpersonen Rat und Unterstützung. «Dabei ist das nicht deren Aufgabe», sagt sagt die Psychologin. «Es wäre sinnvoll, wenn beispielsweise Haus- oder Kinderärzte entsprechend geschult würden und Informationen über Hilfsangebote niederschwellig an die Eltern weitergeben könnten.»
Über die Erschöpfung im Familienalltag sprechen
Munia zum Beispiel hat zwei Kinder im Teenager-Alter und einen Haushalt zu betreuen, sie arbeitet als Reinigungskraft und zusätzlich einmal die Woche im Mütterzentrum. Sie ist Alleinverdienerin der Familie, ihr Mann ist schwer krank und kann nicht mehr arbeiten. Die Kinder drücken sich wo immer möglich vor der Hausarbeit, für lange Debatten und Streit fehlt Munia die Kraft. «Eigentlich müsste ich jeden Abend um zehn ins Bett gehen, um genügend Schlaf zu bekommen, doch das schaffe ich selten. Und wenn doch, liege ich noch lange wach, weil mir durch den Kopf geht, was ich alles noch erledigen muss», erzählt die studierte Ingenieurin.
Trotz aller Sorgen ist es ihr gelungen, sich eine kleine Insel zu schaffen: mit einem eigenen Garten. Hier baut sie Auberginen, Kürbisse und Bohnen an, am Rand der Beete wachsen Blumen. Bei der Gartenarbeit, sagt Munia, könne sie wunderbar abschalten, «das macht mir einfach Spass».
Bleibt bei der Aufteilung der Familienarbeit alles beim Alten?
Hinzu komme, dass bei den modernen Kleinfamilien oft das soziale Netz wegfalle, weil die jungen Leute nicht mehr in dem Dorf bleiben, in dem sie aufgewachsen sind. Und Grosseltern sind heute einfach körperlich fitter und damit unternehmungslustiger, sie verfolgen ihre eigene Agenda und lassen sich ungern auf reguläre Hütedienste für die Enkel festlegen.
«Der Umgang miteinander ist wertschätzend, wir reden offen über Probleme, versuchen zu helfen und Ratschläge zu geben»
Tiina Kuova, aus dem Leitungsteam des Mütterzentrums Bern-West.
«Die grösste Kritikerin einer Mutter ist immer eine andere Mutter», sagt Suela Kasmi, ebenfalls aus dem Leitungsteam. «Wir achten daher sehr darauf, dass wir uns hier Komplimente machen und uns gegenseitig bestärken, schliesslich sind wir alle mehr oder weniger in der gleichen Situation.»
Und jeder Mutter, so die Erfahrung im Mütterzentrum, tue es gut, wenn sie gesehen und ihre Arbeit geschätzt werde. Mitunter, sagt Kasmi, müsse man dafür überhaupt nicht mehr tun als einfach da sein und zuhören.
Auch Väter leiden unter der Doppelbelatung
«Ich kann an diesen Tagen keine Geschäftstermine an den Randzeiten wahrnehmen, und wenn die Kinder krank sind, bleibe ich ebenso mal zu Hause wie meine Frau, wir teilen uns das», erzählt Stefan. Sein Arbeitgeber hat Verständnis dafür, doch selbstverständlich ist das nicht.
Erklären Sie Ihrem Kind, warum Sie gereizt reagiert haben
«Davon profitieren alle. Die Kinder sind gut betreut und die Küche ist danach wirklich sauber», sagt Marlene Held. «Auch dem sogenannten sekundären Stress wird vorgebeugt. Der stellt sich nämlich ein, wenn ich das Kinderhüten und Putzen gleichzeitig übernehme und dann das Gefühl habe, ich habe es nicht gut gemacht, weil ich bei keinem von beiden richtig dabei war.»
So normal, wie der Erschöpfungszustand ist, so normal sollte es auch sein, mit seinen Kindern darüber zu reden. Mitunter können Überforderung und Müdigkeit zu einem harschen Ton gegenüber dem Kind, zu hohen Erwartungen oder Kritik führen. Den Kindern schadet das nicht, wenn es nur punktuell vorkommt und ansonsten viel Wertschätzung und Zuneigung gegeben werden kann.

Wann ist professionelle Hilfe nötig?
Die stetig steigenden Erwartungen, die die Gesellschaft an Eltern hat und Eltern an sich selbst haben, übertragen sich häufig auch auf den Nachwuchs. Statt drei oder vier haben viele Paare heute nur noch zwei Kinder – und die sollen um jeden Preis ein Erfolg werden.
Dreijährige werden in Chinesischkurse geschickt, die erste Klavierstunde gibt es mit fünf Jahren, und wenn der Zehnjährige mal nicht ganz mitkommt in Mathe, wird dreimal die Woche Nachhilfe angesetzt. Das stresst nicht nur die Kinder, sondern auch die Eltern – organisatorisch und emotional. Und ist weit weg vom intrinsisch motivierten Lernen.
«Eine möglichst frühe kognitive Förderung ist das Beste fürs Kind – diese Annahme ist weit verbreitet und leider falsch», sagt die Erwachsenenbildnerin Paula Duwan aus Bern. «Wir wissen aus der Bindungsforschung und der Entwicklungspsychologie nach Gordon Neufeld, wie wichtig die ersten sechs Lebensjahre im Hinblick auf die Bindung sind und wie entscheidend es ist, dass Kinder nicht zu früh unter Druck geraten. Zudem ist heute bekannt, dass Kinder sich insbesondere im freien Spiel, ohne Druck und angstfrei bestens entwickeln.»
Der Teufelskreis aus Druck, Problemen und noch mehr Druck
Daraus entstehe ein Teufelskreis: Den Druck geben die Eltern – häufig unbewusst – an die Kinder weiter, die reagieren mit einer blockierten emotionalen Entwicklung und daraus resultierenden Problemen, die wiederum die Eltern ratlos machen und unter Druck setzen. Das Gefühl stellt sich ein, die Lage nicht mehr unter Kontrolle zu haben.
«Wer Vertrauen in sein Kind und dessen Entwicklungsfähigkeit hat, wird automatisch entspannter.»
Paula Diwan, Erwachsenenbildnerin.
Wer Vertrauen in sein Kind und dessen Entwicklungsfähigkeit habe, werde automatisch entspannter und habe nicht das Gefühl, den Nachwuchs ständig in die gewünschte Richtung zerren zu müssen. «Die starke Bindung hat auch den Vorteil, dass das leider noch sehr weit verbreitete Erziehungsinstrument des Belohnens und Bestrafens überflüssig wird – denn auch das bedeutet emotionalen Stress für die Eltern», sagt Duwan.
Oft hört die Erwachsenenbildnerin das Argument, man habe keine Zeit, sich noch mehr mit den Kindern auseinanderzusetzen. In vielen Familien reduziert sich die gemeinsame Zeit an einem Tag auf das Abendessen und das Zubettbringen. «Das reicht aber nicht», so Duwan, «Kinder brauchen auch Alltagszeit mit den Eltern.» Gerade ältere Buben und Mädchen können problemlos beim Aufräumen, Einkaufen oder Kochen dabei sein – und die Eltern müssen sich nicht permanent zwischen den Anforderungen aufteilen, sondern können zwischen Spaghettibolognese und dem Wegsortieren der Autorennbahn erfahren, was ihr Kind gerade so bewegt.
Sich auf das konzentrieren, was gut läuft
«Das ist es in der Tat, weil viele Kinder solche Ruhephasen bei ihrer täglichen Agenda gar nicht gewohnt sind», sagt die Erwachsenenbildnerin. «Allerdings ist das ein Phänomen, das sich gut entwickeln lässt.» Nicht stur an Terminplänen und eigenen Ideen festzuhalten, kann auch in besonders anstrengenden Phasen wieder etwas mehr Ruhe in die Familie bringen.
«Es kann eine echte Hilfe sein, sich darauf zu konzentrieren, die Dinge zu stärken, die gut laufen, und die Dinge, die gerade schwierig sind, so gut wie möglich zu überbrücken», sagt Paula Duwan. Mit anderen Worten: Die Dinge nehmen, wie sie sind, und das Beste draus machen.
Doch wer so gelassen werden will, muss sich von vielen Ansprüchen verabschieden. Und akzeptieren, dass von den vielen Bällen, die man so gerne in der Luft halten möchte, auch mal einer runterfällt. Die Kunst besteht darin, ihn liegen zu lassen und lächelnd mit den Schultern zu zucken: Passiert.
* Namen geändert
Zur Autorin:
Was in der akuten Überforderung hilft
Wenn Schlafstörungen, Gereiztheit und das Gefühl der ständigen Überforderung nicht mehr aufhören, kann es hilfreich sein, einmal hart auf die Bremse zu treten. Vor allem dann, wenn ein Blick auf die nächsten Tage mit dem Gefühl «Das schaffe ich nie» einhergeht, ist ein sofortiger Stopp sinnvoll.
- Versuchen Sie, sich ein, zwei Tage Freiraum zu schaffen. Vielleicht kann der Partner oder die Partnerin mit den Kindern wegfahren oder sie übernachten mal bei Freunden.
- Nutzen Sie die Zeit, um ihre Agenda für die anstehenden Tage zu durchforsten: Was können Sie absagen? Welcher Termin muss zwingend sein? Meist ist das tatsächliche «Muss» sehr viel kleiner als das gefühlte.
- Sagen Sie so viele Verabredungen wie möglich ab, nehmen Sie sich eine kleine Auszeit und – ganz wichtig – spüren Sie in sich hinein: Wie können Veränderungen aussehen? Wo können Sie Unterstützung finden? Wen können Sie um Rat fragen?
Wenn Sie in einer solchen emotionalen Krise ein Ohr zum Zuhören brauchen, finden Sie Hilfe beim Elternnotruf und bei der Elternberatung.
Es hängt nicht alles von den Eltern ab
Es ist nicht die Schuld der Eltern, ob ein Kind etwas tut oder nicht tut. Dem Kind und seiner Entwicklung müsse Raum gegeben werden, in vertretbaren Grenzen. Sich weniger verantwortlich zu fühlen, hilft dabei, in schwierigen Momenten toleranter mit sich selbst umzugehen und die eigenen Bedürfnisse wahrzunehmen.
Bücher, Links, Anlaufstellen
- Netzwerk Psychische Gesundheit Schweiz
- Elternberatung von Pro Juventute, Telefon rund um die Uhr: 058 261 61 61– vertraulich, anonym, kostenlos
- Elternnotruf, Telefon rund um die Uhr: 0848 35 45 55 – vertraulich, anonym, kostenlos
- Nicola Schmidt und Julia Dibbern: Slow Family: Sieben Zutaten für ein einfaches Leben mit Kindern. Beltz Verlag, 2018, 240 Seiten, 20 Fr.
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