Lasst meine Kinder bitte nicht in Ruhe! - Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
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Lasst meine Kinder bitte nicht in Ruhe!

Lesedauer: 4 Minuten

Unser Blogger Christian J. Käser über die italienische Gastfreundschaft Kindern gegenüber und was wir uns für den Schweizer Alltag abschauen könnten.

Text: Christian J. Käser
Bild: William Fortunato von Pexels

Für uns als Grossfamilie ist klar. Viva Italia! Zum fünfmal so günstigen und dreimal so guten Cappuccino gibt es eine Plastikrutsche im Garten und eine zur Schau getragene Begeisterung für kleine Kinder. Während unser Jüngster seinen Milchschaum im ganzen Cafè verteilt, werden wir mit aufmunternden «complimenti» für unsere wunderbaren Kinder beglückt. Der strahlende Barista unterbricht sogar seine Pflicht an der heiligen Kolbenmaschine und kneift unserem Jüngsten kumpelhaft in die Wange. Es tut gut. Also mir tut es gut. Am Abend zuvor wollte kein Bambino und keine Bambina ins Bett. Dafür waren sie dann um sechs wieder bereit mit dem Bedürfnis nach Unterhaltung. Und unterhalten nun ihrerseits das Cafè mit einer Mischung aus kindlicher Übernächtigung und beginnendem Zuckerschock von den Cornetti mit Schokofüllung.

Stört es meinen Sohn, dass er in die Wange gekniffen wurde? Nein. Hätten wir mit ebendieser Szenerie in einem Schweizer Kafi gestört? Sehr wahrscheinlich. Hier geht es aber nicht in erster Linie um den Unterschied einer Frühstücks-Szenerie in der Schweiz und in Italien, sondern um eben jenen Kniff in die Wange.

Möglichst weit weg von den Kindern – wirklich?

Wenn ich in Zürich mit meinen vier Kindern in ein Tram einsteige, dann ernte ich vor allem Blicke die mir sagen wollen, dass die Heuschreckenplage doch bitte bald wieder das Tram verlassen solle. Aber was kann ich es ihnen verdenken. Die Jungs prügeln sich um einen Platz am Fenster, während der Kleinste sein Weggli quer durch den Wagen schmeisst. Ich habe also durchaus Verständnis, dass Kinder unserer Zeit, die sich auffällig wenig an die Konventionen der geordneten Erwachsenenwelt halten, ziemlich nervig sein können. Zu Thomas Manns Zeiten war das noch anders. Eine «stabile Herrschaft über das Wesen des Kindes», wie es ein Erziehungsratgeber aus dem 19. Jahrhundert formuliert, war damals Pflicht. Kinder passten sich an.

Das sieht heute wesentlich anders aus. Klar, auch ich bin ein Kind unserer Kultur und wenn ich in einen Zug steige, schaue ich, dass ich möglichst weit weg bin von den unangepassten Kindern, die nicht in den Genuss der schwarzen Pädagogik gekommen sind, damit ich in Ruhe die Pressekonferenz mit Peter Zeidler (das ist kein Erziehungsexperte, sondern der Trainer des FC St. Gallen) schauen kann.

Zuerst ich, dann die Familie und dann lange nichts

Der wichtigste Bezugspunkt in unserer stark individualisierten Gesellschaft bin erst einmal ich selbst, dann kommt die Einheit, die ich prägen möchte, das ist dann die Kleinfamilie und dann kommt halt lange gar nichts mehr. Wenn uns nicht mal mehr die Cousins und Cousinen interessieren, warum dann die fremden Kinder im Abteil nebenan? Warum also sollten wir überhaupt auf Kinder zugehen?

Nun, grundsätzlich mögen es Kinder, wenn andere Menschen mit ihnen Faxen machen. Und es kann doch auch eine schöne Geste sein den Eltern eines Kindes zu sagen, wie «herzig» der kleine Racker im Wagen ist. Das ist doch auch manchmal schön zu hören, dass es nicht bloss diese subjektiv gesteuerte eigene Blase gibt, die nur von reiner Elternliebe und Hormonen gesteuert ist.

Es kann aber auch zu viel des Guten sein und da stellt sich die berechtigte Frage: Wann geht es zu weit?

Ich kenne Eltern, denen ist es schon zu viel, wenn jemand den kleinen Leo (der Name wurde natürlich von der Redaktion nicht geändert) kurz berührt. Mir hat gar einmal eine Mutter erzählt, dass sie es als furchtbar übergriffig empfinde, wenn jemand im Tram ihren Kinderwagen berühre. Wenn ein fremder Mensch diesen Kindern in die Wange kneifen würde, wäre wohl ein Anruf bei der Polizei nötig.

Wo liegen die Grenzen?

Ein befreundeter Hortleiter hat mir einmal erzählt, dass die Kinder sehr gerne mit ihm

«kämpfen», dass sie es also sehr lustig finden sich mit ihm zu messen und ihn irgendwie auf die Matte zu bringen. Ist so viel Körperkontakt 2021 noch zulässig? Wenn man die Kinder fragt, würden viele vermutlich ja sagen. Klar ist aber auch, dass wir Kinder schützen sollten, die nicht gut mit Nähe und Distanz umgehen können oder vielleicht sogar schon einmal Opfer von sexueller Gewalt geworden sind. 

Wenn aber allein diese Angst den Umgang mit Kindern prägt, geht etwas Wichtiges verloren, nämlich das Erlernen die eigenen Grenzen auch auszusprechen. Wir sollten den Kindern das nämlich beibringen. Wir können sie nicht einfach irgendwann mit 18 Jahren in die böse Welt entlassen, sondern wir sollten ihnen die Fähigkeit Nein zu sagen mitgeben. Das fängt schon beim Klassiker an: Dem Kuss von der Grossmutter. Ich kann der Oma sagen, sie solle doch bitte die Kinder nicht mehr mit den feuchtfröhlichen Begrüssungsritualen beglücken, oder ich kann meine Kinder darin bestärken, dass sie nein sagen, ja dass sie sich sogar wegdrehen dürfen. Ja, der Kuss der Oma darf verweigert werden.

Wenn Emmas Verwandte zu Besuch kommen, wird das Mädchen stets mit Küsschen überschüttet. Und das mag sie gar nicht!

Ein amüsantes, liebevoll illustriertes Buch zum Thema gewollter und ungewollter Körperkontakt bei Kindern. Anita Lehmann: «Sabber, Schlabber, Kussi, Bussi». Helvetiq, 2020. 36 Seiten, ca. 20 Fr.

Aber ich wünsche mir eben auch ein bisschen mehr Italianità. Versuchen wir es doch wenigstens mit den «complimenti» und sprechen auch aus, dass dieses Baby «Jööö» ist und in mir das Bedürfnis weckt, unseren Kindern den Befehl zu erteilen uns möglichst schnell zu Grosseltern zu machen, oder aber auch die Tatsache, dass der Sohn des Nachbarn einen guten Humor hat oder wie wunderbar die Kleine auf dem Spielplatz drei Meter über dem Boden mit einem Schoggi-Glacé über das Klettergerüst balancieren kann. Dann darf es auch wieder einmal ein High-Five oder eine schöne Faust-Bombe als Bestätigung geben. Also, lasst meine Kinder bitte nicht in Ruhe, sie können Störungen von aussen für ihr Gedeihen gut gebrauchen.

Christian Johannes Käser
arbeitet als Schauspieler, Coach und Autor. Der gebürtige Appenzeller lebt mit seiner Familie in Zürich. Zusammen mit seiner Frau berichtet er im Podcast «Familienchaos» regelmässig über das Leben mit vier Kindern zwischen Trotzphase und Pubertät.

Alle Artikel von Christian Johannes Käser

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