«Die Seele meines Kindes ist für immer verletzt» - Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
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«Die Seele meines Kindes ist für immer verletzt»

Lesedauer: 5 Minuten

Täglich kommen rund tausend Flüchtende aus der Ukraine in der Schweiz an, auf der Suche nach Schutz vor dem Krieg. Die meisten davon sind Frauen mit ihren Kindern. So wie Lena und Ludmila, die mit ihren beiden Söhnen sowie ihrer gemeinsamen Freundin Inna bei Familie Müller im Zürcher Unterland wohnen. Für die Buben auf der einen Seite ein grosses Abenteuer. Auf der anderen ein Trauma, das ihr ganzes Leben prägen wird.

Text: Sandra Casalini
Bild: Rawpixel.com / Sandra Casalini

Danya ist wie ein Duracell-Häsli mit vollen Batterien. Stillsitzen ist gar nichts für den Siebenjährigen. Mal hüpft er wie ein Gummiball durch den ganzen Raum, dann spielt er Zombie, geht mit langen Schritten und aufgerissenem Mund auf Svenja, 8, zu, animiert deren Bruder Thierry, 10, zum Mitmachen. Redet auf Ukrainisch auf seinen Spielgefährten ein, dieser antwortet auf Dialekt. Die Kinder verstehen sich, auch wenn sie nicht die gleiche Sprache sprechen. «Seit wir hier sind, hat Danya keine Zeit mehr zum Traurigsein. Dafür bin ich unendlich dankbar», sagt seine Mutter Ludmila.

Nur zum Essen setzt der Bub sich kurz an den Tisch. Ludmila und ihre Freundinnen Lena und Inna sind um fünf Uhr aufgestanden, um eine ukrainische Borschtsch-Suppe zu kochen. Gerade ist eine neue Gruppe Flüchtender in der Gemeinde angekommen, sie sollen mit einem gewohnten Zmittag begrüsst werden. Seit gut zwei Wochen wohnt Danya mit seiner Mutter und ihren beiden Freundinnen, sowie mit Lenas Sohn Radion, 12, bei Familie Müller. Er kommt aus Wassylkiw, einer 37’000-Einwohner-Stadt gut dreissig Kilometer südlich von Kiew. Als die ersten Schüsse fielen, versteckte die Familie sich im Luftschutzkeller. «Wir verliessen ihn nur, um Essen zu holen», erzählt Ludmila. Der Entscheid, ihre Heimat zu verlassen, sei kein einfacher gewesen, erzählt die Kunst-Lehrerin. «Aber mein Mann und ich haben gemeinsam beschlossen, dass unser Sohn in Sicherheit sein soll. Das ist das Wichtigste.» Für Danya sei es unverständlich gewesen, dass sein Papa sie nicht begleiten konnte. Was sie zu ihm gesagt habe? «Sein Vater ist ein Held und muss sein Land verteidigen. Und das kann er besser, wenn er weiss, dass wir in Sicherheit sind.» Den Kontakt halten sie, so gut es geht. «Mal funktioniert sein Handy, mal nicht.»

«Mama, ich will leben.» Dieser Satz ihres 12-jährigen Sohnes Radion bewog Fitnesstrainerin Lena dazu, den Luftschutzkeller zu verlassen. Gemeinsam schlugen sich Lena, Ludmila und Inna mit den beiden Buben und Hündchen Major zur polnischen Grenze durch. Dort trafen sie auf den Zürcher Unternehmer und «Prix Courage»-Gewinner Remo Schmid, der als privater Helfer Güter an die ukrainische Grenze transportierte und die fünf Flüchtenden mit zurück in die Schweiz nahm. Dass es das Land überhaupt gibt, wusste Lena nicht. «Es ist ja so klein!» Die Freundlichkeit und Wärme, mit denen sie hier aufgenommen worden seien, treibe ihr die Tränen in die Augen. Für Mirjam Müller, bei deren Familie sie untergekommen sind, eine Selbstverständlichkeit.

Müllers teilten ihr Unterbringungs-Angebot der Kirchgemeinde mit, welche es an die zuständige Stelle beim Kanton Zürich weiterleitete. «Wir wären auch froh um Hilfe, wenn wir sie brauchen würden», sagt die Pflegefachfrau. Dabei müsse man sich bewusst sein, dass es nicht damit getan ist, den Platz zur Verfügung zu stellen. «Diese Leute befinden sich von heute auf morgen in einem fremden Land, kennen weder die Gepflogenheiten noch die Sprache, und können teilweise nicht einmal unsere Schrift lesen.» Alltägliche Dinge wie einkaufen, kochen, sich in der Umgebung zurechtfinden werden zu einer riesigen Herausforderung. Dazu kommen die Behördengänge, um sich registrieren zu lassen. Und die kleinen Dinge, mit denen niemand rechnet. Zum Beispiel der Schnee. Die Kinder haben nur leichte Turnschuhe dabei, sie brauchen anderes Schuhwerk. Aber woher? Und wie? Die finanziellen Mittel der meisten Geflüchteten sind beschränkt, oft helfen die Gastfamilien aus. Mirjam versteht, wenn einer Gastfamilie dies nach einer gewissen Zeit zu viel wird. «Oft wird der Aufwand unterschätzt. Aber wir haben es noch keine Sekunde bereut. Das Zusammenleben mit Menschen aus einer anderen Kultur ist für uns als Familie ein riesiger Mehrwert. Ich glaube, unsere Kinder haben schon sehr viel gelernt in den letzten Wochen.»

Danya hat seine Suppe ausgelöffelt, springt vom Stuhl. Das garstige Wetter nervt ihn. Bei Sonnenschein würde er jetzt mit Louis, 12, Thierry, 10, Svenja, 8 und Léa, 5, und ihren Freundinnen und Cousins Fussball spielen oder auf dem Trampolin hüpfen. Und sich abends um 20 Uhr, wenn die vier Müller-Kinder ins Bett müssen, ebenfalls zurückziehen, obwohl er nicht müsste. Danya und Radion sagen «danke» und «bitte» – diese Worte können sie bereits auf Deutsch – räumen freiwillig ihre Teller ab, helfen im Haushalt. «Sie sind ein wirklich gutes Vorbild für unsere Kinder», sagt Mirjam Müller mit einem Lachen, während sie Danya beobachtet, der Louis und Thierry mithilfe des Google-Übersetzers ein Spiel zu erklären versucht. «Er ist in einem Alter, in dem er das alles noch spielerisch sieht, zum Glück», sagt Mirjam. Fast ein bisschen wie im Film «La vita è bella», in dem ein Vater, der mit seinem Sohn im Zweiten Weltkrieg in einem Konzentrationslager interniert wird, diesem erzählt, es handle sich hier um ein Spiel, und man müsse möglichst gut mitspielen, um zu gewinnen.

Ein bisschen anders sieht das bei Radion aus. «Er ist kein kleines Kind mehr, er versteht alles. Die Sirenen, die Flucht, die Gefahr, in der sich sein Vater befindet», sagt seine Mutter Lena. Auch wenn Radion nicht immer so still ist wie heute – «beim Fussball oder beim Spielen mit den Jüngeren lacht er oft und laut», sagt Mirjam Müller – zeigen die ständig ins Gesicht gezogene Kapuze, das scheue Lächeln, der scharf beobachtende Blick: bei dem Zwölfjährigen hat das Erlebte tiefe Spuren hinterlassen. «Dieser Krieg hat die Seele meines Kindes für immer verletzt. Nicht nur seine, sondern die von allen Ukrainerinnen und Ukrainern», sagt Lena. «Aber Gott sieht alles. Und er wird irgendwann für Gerechtigkeit sorgen.» Das hat sie auch zu ihrem Sohn gesagt.

Wenn es nach Danya ginge, würde er gleich selbst für diese Gerechtigkeit sorgen. Abends wird auch der kleine Wirbelwind jeweils ruhig, setzt sich hin und zeichnet. Immer die gleichen Sujets. Waffen, die einen Mann hinrichten. Wladimir Putin. «Ich würde, wenn ich könnte», sagt Danya. Und: «Es ist ungerecht. Viele Kinder sind gestorben. Ich lebe.» Dieser Krieg ist kein Spiel. Er ist bitterer Ernst. Und Danya weiss das. Auch wenn es ihm nicht in der gleichen Art und Weise bewusst ist wie dem älteren Radion oder den Erwachsenen. Ludmila hat bereits um psychologische Betreuung für ihren Sohn angefragt, sie stehen auf einer Warteliste.

Sobald alles Bürokratische erledigt ist, soll Danya zur Schule gehen. Vermutlich ist es nach den Frühlingsferien soweit. Radions Schule in der Ukraine bietet derzeit noch Online-Unterricht an, an dem der Sechstklässler teilnimmt. Ob sie ihn trotzdem hier auch zur Schule schicken möchte, hat Lena noch nicht entschieden. Eigentlich möchte sie nur eines: So schnell wie möglich wieder nach Hause. Dabei ist sie sich bewusst, dass das unter Umständen noch lange dauern könnte. Und dass es zu Hause nie mehr so sein wird, wie es mal war. Das weiss auch Ludmila. «Weisst du», sagt sie. «Ich konnte nie etwas mit dem Begriff Weltfrieden anfangen. Jetzt tue ich es. Es würde bedeuten, dass mein Kind keine Angst mehr haben muss.»

Sandra Casalini
ist Journalistin, Texterin, Geschichtensucherin und -erzählerin. Ihre Schwerpunkte sind Familie, Lifestyle, Reisen, Alpin und Unterhaltung/People. Sie lebt mit ihren zwei Kindern in Thalwil.

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