«Das Glück reist mit»: Lernen in der Wohnwagenschule
Eine Familie gibt Jobs und Zuhause auf um eine grosse Reise zu machen als Corona alles auf den Kopf stellt. Der dritte Teil der Serie zeigt, wie Lernen ohne Schule funktioniert und Reisen neue Horizonte eröffnet.
«Wir tragen die Verantwortung, dass ihr nach der Reise wieder irgendwo schulischen Anschluss findet. Wir sind aber nicht eure Lehrer.»
Diese Botschaft muss ein paarmal wiederholt werden. Nur zu schnell verfallen wir der Versuchung von «Lehrer, sag mir was ich tun soll!» oder von «Schüler, das musst du noch einmal üben, am besten gleich jetzt!».
Beide Forderungen entstehen aus Rollen, die wir nicht einnehmen möchten und bringen Konflikte, welche auszutragen, wir keine Lust haben.
Aber können denn Kinder überhaupt genug und die richtigen Dinge lernen, ganz ohne Lehrer?
Zumindest für einen Teil der Reisenden, die wir unterwegs treffen, ist dies die erste, brennende Frage: «Ihr macht Schule unterwegs, seid ihr denn Lehrer?»
Unserem «Nein» folgt meistens eine entschuldigende Erklärung, warum das trotzdem okay ist.
Schule ohne Schule – wie geht das?
Wir hatten uns schon vor der Abreise mit Konzepten von freiem und selbstmotiviertem Lernen auseinandergesetzt. Homeschooling war aber nie unser primär angestrebtes Schulmodell. Wir wollen nicht «keine» Schule, sondern eine «gute» Schule.
Eine Bildungsstätte, die mehr Fokus auf Begeisterung und intrinsisches Lernen als auf Leistung und Defizitorientierung legt. Eine, die neben dem Lernen des Schulstoffs auch andere Entwicklungsbedürfnisse von Kindern anerkennt und fördert.
Auf unserer Reise sind wir jedoch erst einmal an keiner Schule mehr angeschlossen. Aus der Schweiz sind wir abgemeldet, in Frankreich, wo wir angemeldet sind, ist Homeschooling zum Zeitpunkt unserer Abreise problemlos möglich.
Wir Eltern kennen selber nichts anderes als den Weg der Staatsschule. Deshalb fehlen uns bei unserem Unterfangen anfänglich noch das Selbstbewusstsein und die Erfahrung zu sagen: «Das kommt gut.»
So macht Lernen Spass
Inzwischen hat sich diese Unsicherheit weitgehend gelegt. Wir sind mittlerweile überzeugt davon, dass sich das Lernen im eigenen Tempo, mit flexiblem Stundenplan sehr positiv auf die Motivation auswirken kann.
Für uns hat sich gezeigt, dass es nur wenige Zutaten braucht, um einen fördernden Lernkontext zu gestalten.
Erstens, haben wir klare Rahmenbedingungen: Es gibt eine Schulwoche, wir machen auch zwischendurch schulfrei, wir richten uns nach einem Lehrplan, wir haben tolle Lernportale und professionelle Schulbücher.
Zweitens: wir haben grundsätzlich interessierte und motivierte Kinder.
Über dürfen und müssen
In unserer Wohnwagenschule ohne Lehrer gibt es sehr viele Freiheiten. Es gibt reichlich Platz für individuelle Projekte und Interessen. Trotzdem haben wir Erwartungen an das Lernen der Kinder. Es gibt also einige Aspekte die sein müssen, aber es gibt auch sehr vieles, das getan oder gelassen werden darf.
Unsere Herangehensweise entspricht ungefähr diesem schönen Zitat, das dem Satiriker Johann Conrad zugeschrieben wird:
«Wenn ich nur darf, wenn ich soll,
aber nie kann, wenn ich will,
dann mag ich auch nicht, wenn ich muss.
Wenn ich aber darf, wenn ich will,
dann mag ich auch wenn ich soll,
und dann kann ich auch wenn ich muss.
Denn schliesslich ist es doch so:
Die können sollen, müssen auch wollen dürfen.»
Johann Conrad, Satiriker (1929 – 2005)
Horizonte erweitern
Wir bilden uns selbstverständlich nicht ein, alles ersetzten zu können, was ein Fachlehrer, ausgebildeter Lernbegleiter oder eine Schulklasse unseren Kindern bieten würden.
Gleichzeitig kann keine Schule jemals ersetzten, was die Kinder auf ihrer Reise alles gesehen, erlebt und gelernt haben. Das meiste davon steht in keinem Schulbuch und auch nicht im Internet.
Wahrscheinlich kennen viele Schweizer oder Deutsche Kinder Spanien, Portugal, Südfrankreich oder Italien aus den Sommerferien: Vertrocknete und sandfarbene Landschaften, schöne Strände, viel Sonnencreme, feine Glace und lange, laue, ausgelassene Abende …, wunderschön!
Aber das Land an sich ist austauschbar, ausser vielleicht dem Gracias!, Obrigada!, Merci! oder Grazie! als kleiner Unterschied.
Wie viele Kinder aus der Schweiz haben erfahren, wie sich im Februar in Südfrankreich die rosablühenden Mandelbäume vor den schneebedeckten Pyrenäen abheben, wie im März in Portugal die Mimosen blühen, und dass es überall wie im Blumenladen riecht?
Wie viele Kinder haben erfahren, wie der Wiedehopf in Andalusien im April sein «hup-hup-hup» durch die Gegend ruft oder wie im November in Sardinien zwischen den Pinien ein zartes grünes Gras wächst, wie bei uns im Frühling?
Wie Geschichte trösten kann
Dazu kommt die unglaubliche kulturelle Vielfalt Europas, die vom Schulpult aus kaum erfahren werden kann. Von den Nuraghen auf Sardinien, über die Römerstätten in Italien zu der Alhambra in Spanien, den Katharer Burgen in Frankreich und den Walfänger Gräbern auf Föhr in Nordfriesland: Es gibt keinen Ort, wo Geschichte nicht erlebt werden kann und alles hängt irgendwie zusammen.
Die Hochs und Tiefs, die Kriege und Katastrophen, Errungenschaften und Entdeckungen, die Europa über die Jahrtausende geformt haben, lehren uns, dass sich die Menschheit immer weiterentwickelt und dass auch die dunkelsten Zeiten einmal vorbei gehen. Dieses Wissen relativiert für uns so manches, das im Moment beängstigend wirkt.
Wir sind Teil einer grossen Geschichte, in der Krisen kommen und wieder gehen. Es ist ein tröstliches Gefühl, das ich im heutigen Weltgeschehen jedem Kind wünsche.
Die 5-teilige Serie «Das Glück reist mit» gibt Einblick in verschiedene Aspekte einer aussergewöhnlichen Familienauszeit.
Die Reiseroute auf einen Blick:
Erfahren Sie in Teil 4, wie es mit der Reise weitergeht und wie Loslassen Leichtigkeit bringt. Dieser erscheint Mitte August.