Treu sein trotz Tinder?
Flirt-Apps sind gerade bei Jugendlichen beliebt. Das Überangebot an möglichen Partnern könnte aber auch unser Verständnis von Liebe und Treue verändern. Was wir unseren Kindern vorleben sollten.
Wie in einem Katalog klickt man sich durch die Profilbilder: Wer gefällt, bekommt ein Herz, die anderen werden weggewischt. Mehr als 20 000 Nutzer hat Tinder in der Schweiz. Dabei ist Tinder nur eine von vielen Flirt-Apps, die nach ähnlichem Prinzip funktionieren (siehe untenstehende Box). Beliebt sind diese Programme insbesondere bei jungen Menschen: keine komplexen Profile, keine fixen Kosten, keine Verpflichtungen. Dementsprechend offen ist aber auch, nach was die Menschen dort suchen.
Ein kleiner Selbstversuch zeigt: Ich entscheide nahezu reflexartig. Männer oben ohne? Nope. Im Anzug? Nope. Beim Freeclimbing? Nope. Mit Bierflasche? Nope. Zu alt. Zu jung … Nope. Nope. Das macht schnell süchtig. Herzen verteile ich spärlich. Gemäss einem Singlebörsen-Vergleichsportal ist das ein typisch weibliches Verhalten. Männer herzen grosszügiger. Und irgendwann fällt mir auf: Wenn ich im analogen Leben ähnlich streng vorgegangen wäre, hätte ich meinen Partner nie kennengelernt. Und dann die erste Erfolgsmeldung auf dem Bildschirm: «Es passt! Du und Stephan stehen aufeinander!» Meist passiert gar nicht mehr – obwohl man jetzt die Möglichkeit hätte, sich zu schreiben, kennenzulernen oder zu verabreden. «Viele schauen nur, ob sie jemand attraktiv findet. Das ist ein guter Ego-Schub», sagte Tinder-Gründer Sean Rad neulich in einem Interview mit der «Süddeutschen Zeitung».
Flirten im Internet ist bequemer und besser kontrollierbar als im nichtvirtuellen Raum, sagt Psychologieprofessor Guy Bodenmann von der Universität Zürich. «Man kann dann flirten, wenn man dazu Lust hat, bequem auf dem Sofa sitzend, mit den Personen, mit denen man flirten will. Häufig mit mehreren gleichzeitig. Zudem kann man die Kontakte jederzeit abbrechen, wenn man keine Lust mehr hat.»
Natürlich liegt der Vorwurf nahe, dass so eine Wegwerfmentalität bedient wird. «Menschen werden zur Ware, bekommen einen Schnäppchencharakter», sagte Paartherapeut Rüdiger Wacker kürzlich in der «Südostschweiz». Im US-Gliedstaat Rhode Island klagt gar das Gesundheitsdepartement darüber, dass sich Geschlechtskrankheiten aufgrund der Dating-Apps wieder rasant ausbreiteten.
Der Tinder-Gründer Rat sieht hingegen freilich nur Positives: «Leute bleiben nicht mehr in einer Beziehung, um eine Beziehung zu haben. Wenn ich in einer schlechten Beziehung bin, muss ich nicht bleiben, weil ich sicher sein kann, jemand anderes zu finden. Leute sind glücklicher deswegen.»
Treu sein und doch fremdchatten?
Es gibt also viele Menschen, die mit Hilfe des Internets untreu werden wollen. Doch was heisst eigentlich Untreue? Ist die klassische Definition «Sex ausserhalb der Partnerschaft» noch zeitgemäss? Wie sieht es mit sexuellen Chats aus? Oder mit den Internetbekanntschaften, denen man emotional nahekommt? Was ist mit dem Ex und der Jugendliebe, mit denen die Partnerin in sozialen Netzwerken selbstverständlich Kontakt hält? «Neu ist die Vorstellung, dass bereits eine hohe emotionale Nähe zu einem Fremden oder der Austausch von sexuellen Fantasien als Untreue gelten könnte», sagt Bodenmann. Unter emotionaler Untreue versteht er, dass die Sorgen und die Freuden nicht mehr primär mit dem Partner geteilt werden, sondern mit einer anderen Person. «Verletzt man diese Grenze, opfert man eine der wichtigsten Qualitäten einer intimen Partnerschaft», so Bodenmann.
Und die Zahl derer, die sich in diese Grauzone begeben, ist hoch: Von jenen, die sich selbst als treu bezeichnen, chatten – je nach Studie – 60 bis 80 Prozent emotional oder sexuell fremd. Hinzu kommt, dass viele Partner viel Zeit mit Internetkontakten verbringen, anstatt sich ihren Liebsten zuzuwenden. Oder sie surfen lieber auf Pornoseiten herum, als sexuelle Nähe zu suchen. Ist etwa auch das schon Untreue? Oder ist das die Freiheit, die man sich als Paar lassen sollte?
Eine generell gültige Antwort auf diese Fragen gibt es nicht. Die Definition von Treue ist individueller geworden. Und das macht es nicht nur für Erwachsene komplizierter, sondern besonders für jene, die erste Erfahrungen in Sachen Liebe sammeln: die Jugendlichen.
38 Prozent der Jugendlichen haben schon Fremde aus dem Internet getroffen
«Das Internet hat sicher einen grossen Einfluss auf das Flirtverhalten», sagt die Psychologin Annette Bischof-Campbell vom Verein Lilli, der Jugendliche im Netz in Sachen Liebe und Sexualität berät. «Aber Liebe und Treue werden so sehr wertgeschätzt wie eh und je», meint sie. Gerade weil viele Jugendliche die Erfahrung gemacht hätten, dass Eltern und Grosseltern ihre Beziehung nicht hätten erhalten können, wünschten sich viele Jugendliche, dass es in ihrer Langzeitbeziehung anders sei. Aber sie wüssten auch, dass die erste Liebe nicht die letzte sei. «Natürlich wechseln sie daher zunächst leichter die Partnerinnen und Partner – aber viele kommunizieren das, und die meisten finden das in Ordnung», sagt Bischof-Campbell.
Eltern wünschen sich in erster Linie, dass ihre Teenager bei der ersten Liebe und bei den Flirtspielchen im Netz so wenig wie möglich verletzt werden. Wie können sie ihnen dabei helfen? Zum einen sollten Eltern natürlich mit ihren Kindern über das Medium Internet und die Gefahren und Chancen sprechen, die ein Flirt im Netz bedeuten kann (siehe untenstehende Box mit den goldenen Regeln). Das ist klassische Medienerziehung.
Wenn es um Liebe und Partnerschaft geht, spielt aber auch die Werteerziehung eine grosse Rolle. Hier helfen Eltern, die selbst reflektieren, welche Regeln in ihrer Beziehung gelten sollen, und diese dann vorleben. Aber natürlich hilft es auch, mit dem Teenager darüber zu sprechen, was er sich eigentlich von seinem Internetflirt oder der ersten Liebe erhofft. Viele Ratgeber zum Thema Pubertät schreiben: Erlaubt ist, was sich für beide Seiten gut anfühlt. Doch weiss Ihr Teenager bereits, was sich für ihn gut anfühlt? Wo fängt für ihn Treue an? Und sieht das sein Gschpusi genauso?
Goldene Regeln beim Flirt im Netz
Jugendliche sollten beim Online-Flirten darauf achten, dass …
… sie nicht zu viel von sich preisgeben, besonders nicht den (Nach-)Namen, Wohnort, die Schule und schon gar nicht die Handynummer. Das gilt speziell bei bisher unbekannten Flirtpartnern.
… sie auch hier eine respektvolle Sprache pflegen. Denn schriftlich kommt es leicht zu Missverständnissen.
… sie auf «Safer Sexting» setzen. Nacktbilder können digital ganz schnell unkontrolliert verbreitet werden. Und ein Flirt ist spannender, wenn man ein attraktives Bild verwendet, welches nicht zu viel preisgibt. Falls dennoch Nacktbilder verschickt werden sollen, dürfen keine Rückschlüsse auf die Person möglich sein: neutralen Hintergrund wählen, kein Gesicht und keine speziellen Körpermerkmale zeigen.
… sich hinter dem Profil des Flirtpartners eine ganz andere Person verbergen kann.
… sie sehr vorsichtig sind beim Vereinbaren von Treffen. Sie sollten nie allein oder ohne jemandem Bescheid zu sagen, zu einem Treffen gehen. Erste Treffen sollten an öffentlichen Orten stattfinden. Je jünger das Kind ist, desto eher sollten Eltern von Treffen mit Unbekannten gänzlich abraten.