13. Juni 2017
Frau Dunitz-Scheer, müssen unsere Kinder mehr Gemüse essen?
Interview: Claudia Füssler
Bilder: Regina Hügli / 13 Photo
Bilder: Regina Hügli / 13 Photo
Lesedauer: 9 Minuten
Wie vermeidet man Kämpfe am Esstisch? Sollen Ihre Kinder beim Einkaufen mitbestimmen dürfen? Die Kinderärztin und Ernährungsexpertin Marguerite Dunitz-Scheer über schwierige Esser, Kinder, die plötzlich abnehmen möchten, und gesundes Essverhalten.
Frau Dunitz-Scheer, machen wir uns zu viele Gedanken ums Essen?
Auf jeden Fall. Das liegt daran, dass wir unsere Intuition und den Alltag in Sachen Esskultur und Kochkultur verloren haben. Einerseits kochen wir weniger oft als jemals zuvor selbst, andererseits messen wir einzelnen Nahrungsmitteln so viel Bedeutung bei wie noch nie. Dieses Pendeln zwischen zwei Extremen zeigt: Uns ist die Normalität beim Essen abhandengekommen.
Marguerite Dunitz-Scheer ist Professorin für Kinderheilkunde und Leiterin der Psychosomatischen Kinder- und Jugendstation an der Universitätsklinik Graz. Die Expertin für Essstörungen und sonderernährte Kinder hat sechs Kinder und sieben Enkelkinder. Gemeinsam mit ihrem Mann hat sie das Buch «Jenseits von dick und dünn: Kochen – Essen – Familie. Der etwas andere Ratgeber. Mit vielen praktischen Beispielen und Rezepten» geschrieben. Mehr dazu: www.notube.com/de
Wie konnte das passieren?
Das hat viele Gründe. Schauen Sie sich die vergangenen 70 Jahre seit dem Zweiten Weltkrieg an: Europa hat sich zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit in eine Nahrungsüberflussgesellschaft verwandelt. Die Nahrungsmittelindustrie ist notwendigerweise offensiv bis aggressiv. Sie füttert nicht nur die Supermarktregale mit Angeboten, sondern auch unsere Köpfe mit Ideologien und viel zu viel Information. Das führt dazu, dass die Menschen Nahrung als Religions- und Identitätsersatz sehen.
Das klingt, als ob wir uns ziemlich absurd verhalten.
Und ob. Dieses riesige Angebot führt aber auch dazu, dass wir zum ersten Mal in einer Gesellschaft leben, in der die tägliche Beschaffung der Nahrung mit minimalstem Aufwand möglich ist: Tütchen kaufen, aufreissen, warm machen, essen – fertig. Wer nicht will, muss sich überhaupt keine Gedanken ums Essen machen. Dahinter steht der Verlust einer ganzen kulturspezifischen sinnlichen Welt.
«Wer ein gutes Mittelmass bei der Ernährung vorlebt, hat kaum essgestörte Kinder.»
Marguerite Dunitz-Scheer , Kinderärztin und Ernährungsexpertin
Aber daran sind nicht nur die Lebensmittelhersteller schuld, oder?
Nein, natürlich nicht. Es sind zahlreiche gesellschaftliche Veränderungen, welche man keinem Einzelnen oder einer Gruppe allein zum Vorwurf machen kann. Als ich in den 60er-Jahren in der Schweiz aufgewachsen bin, ist keine Mutter arbeiten gegangen. Heute bleiben vielleicht zehn Prozent der Mütter daheim. In der Folge hat sich die Kochkultur zu einem Event verändert, der oft nur einmal in der Woche stattfindet. Mama steht am Herd und kocht – das ist eine Ausnahme, nichts Normales.
Wie sieht diese Normalität denn aus?
Ganz unspektakulär: seinen Kindern ein abwechslungsreiches Essen hinstellen und mindestens einmal am Tag kochen. So lernen die Kinder nebenbei, was eine lustvolle und gute Esskultur ist. Und natürlich das Kochen. Aber fragen Sie mal Zehnjährige, wie das bei ihnen zu Hause ist. Die meisten können sich nicht einmal ein Spiegelei braten oder Pasta für sich und ein Geschwisterkind kochen. Später schickt man den Nachwuchs in spezielle Kinderkochkurse. Da wird dann künstlich etwas in ihr Leben hineingebracht, was sie ganz automatisch daheim hätten lernen können.
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Ist die Familie der Schlüssel zu einem gesunden Essverhalten?
Unbedingt. Die Eltern – und nicht nur die Mutter – haben eine Rollenmodellverpflichtung. Wenn sie es schaffen, ein vernünftiges, lustvolles Mittelmass bei der Ernährung vorzuleben, haben wir kaum essgestörte Kinder. Die kulinarische Familienkultur ist die erste soziale Bühne, auf der Kinder Essverhalten erleben und erlernen – die ist sinnlich fast lebenslang präsent und absolut entscheidend. Essen ist eine interaktive und soziale Entwicklungsleistung, und wenn die daheim gut funktioniert, muss in der Schule nicht die Bedeutung von Kohlenhydraten oder Ernährungspyramiden erklärt werden.
«Kinder lernen das zu mögen, was man ihnen serviert. Das ist eine Frage der Erziehung.»
Marguerite Dunitz-Scheer
Viele Eltern machen die Erfahrung, dass Kinder einfach schwierige Esser sind.
Kinder lernen das zu mögen, was Eltern ihnen servieren. Das ist auch eine Frage der Erziehung. So, wie wir auf eine Hygieneentwicklung achten und den Kindern beibringen, sich die Haare zu kämmen, die Zähne zu putzen oder die Hände zu waschen. So selbstverständlich und diskussionslos muss auch die tägliche Essentwicklung stattfinden. Wir haben dafür ja zwölf, dreizehn Jahre Zeit.
«Wer Süssigkeiten als Belohnung einsetzt, hat verloren», sagt Dunitz-Scheer.
Und wann fängt man am besten mit der Esserziehung an?
Es gibt kein Alter, wo man sagen könnte, dass die Kinder nicht empfänglich sind für die Esskultur um sie herum. Genau genommen fängt das alles schon vor der Geburt an, bei der Ernährung der Schwangeren. Und auch ein drei Monate altes Baby, das der Papa im Tragegurt vor sich hat, registriert, ob der Papa eine Suppe löffelt oder in eine Wurst beisst.
Viele Kinder, die von ihren Eltern als schwierige Esser beschrieben werden oder die tatsächlich essgestört sind, fallen aber in der Kindertagesstätte überhaupt nicht auf.
Diese Beobachtung mache ich auch. Dort essen sie völlig normal, und die Erzieher sind erstaunt, wenn sie hören, dass es damit zu Hause Probleme geben soll. Das Problem ist eigentlich, dass Eltern dazu neigen, das Essen zu analysieren, und eine halbe Wissenschaft daraus machen, was das Kind isst oder eben verweigert. Damit entsteht ein Machtpotenzial, eine Konfliktzone, wo ein wichtiger Bestandteil des Essens kaputtgeht: der Lustanteil, der stark durch das Umfeld bestimmt wird.
Aber wenn mein Kind nun mal strikt Gemüse boykottiert? Das ist doch eine Situation, mit der ich mich aus einandersetzen muss.
Der Wahn mit dem Gemüse kommt aus der Erwachsenenwelt, meist von solchen Leuten, die oft selbst gegen Übergewicht kämpfen und vielleicht schon ein Leben lang Diät halten. Nur etwa fünf Prozent der Kinder sind im Volksschulalter bereits echte Gemüseliebhaber. Die Minderheit aller gesunden Kinder liebt also Gemüse, ab der Pubertät ändert sich das dann.Das macht überhaupt nichts, kein Kind muss gezwungen werden, Gemüse zu essen. Damit macht man schlimmstenfalls sogar die Geschmackspräferenzentwicklung kaputt und sorgt höchstens dafür, dass dieser Mensch dann auch in späteren Jahren kein Gemüse mag. Natürlich soll niemand Zucker pur löffeln, aber man kann Gemüsemuffeln Vitamintropfen geben, und von Gemüse allein kann sowieso kein Kind wachsen.
Wovon dann?
Von einem Mix aus allen Nährstoffen: Kohlenhydrate, Eiweiss und Fett. Plus Vitamine und Mineralstoffe. Kein Extrem ist gut. Monotone Kost ist das Schlimmste, was Sie Ihrem Kind antun können. Als Faustregel gilt, dass ein wachsendes Kind ein Gramm Eiweiss pro Tag und Kilo Körpergewicht zu sich nehmen sollte – und es ist egal, ob das aus vollwertigem Getreide, aus Käse, Fleisch, Fisch, Wurst oder der Schokomilch kommt. Selbst wenn ein Kind mal Phasen hat, in denen es bestimmte Dinge absolut nicht isst, muss man sich keine Sorgen machen – bei einer einfach gemischten Kost gleicht sich das über Wochen und Monate wieder aus. Noch einmal: Die Kost sollte so ausgewogen wie möglich sein.
Wie schaffe ich das?
Indem ich nicht nur ein Lebensmittel auf den Tisch bringe, sondern verschiedene. Und dem Kind die Wahl lasse. Vielleicht will es nur zwei oder drei der angebotenen Sachen, aber das ist total in Ordnung. Warum sollten Kinder da anders sein als wir? Wir suchen uns ja auch das aus, was uns schmeckt. Ich kann nicht steuern, was das Kind sich aussucht, aber ich kann sehr wohl steuern, worin die Auswahl besteht.
Darf das Kind dann auch beim Einkaufen aussuchen, was es essen möchte?
Das ist ein zweischneidiges Schwert. Zum einen: Eltern sollten ihre Kinder auf jeden Fall mitnehmen zum Einkaufen. Allerdings würde ich mit Kindern vor allem auf Märkte gehen. Dort kann eigentlich nichts schief gehen. Auf so einem grossen Bauernmarkt sieht ein Kind die Äpfel neben den Tomaten und den Eiern, die Salate, die Käsesorten, das Fleisch im Metzgerwagen. Es erlebt die jahreszeitlichen Variationen. So ein Einkauf hat einen ungeheuer sinnlichen Aspekt, ich empfehle, das so oft wie möglich zu machen, auf alle Fälle einmal wöchentlich.
Haben Sie noch einen Tipp?
Man sollte es, so gut es geht, vermeiden, gerade jüngere Kinder mit in einen Supermarkt zu nehmen, der ja von Haus aus auf Verführung angelegt ist. Ich bin dort diejenige, welche die Auswahl aktiv beeinflusst. Die Kinder dürfen sich bei der Auswahl der Joghurts und Müeslis austoben. Meine Kinder wussten immer, dass ich keine Süssigkeiten kaufe. Wir hatten nie welche zu Hause, weil mir klar war, dass sie genug unterwegs bekommen, bei Freunden, an Geburtstagspartys oder wenn wir auf Reisen waren. Das genügt vollkommen. Also habe ich nie etwas gekauft, von dem ich nicht wollte, dass meine Kinder es essen.
Sehr diszipliniert.
Ich halte das für eine sinnvolle Herangehensweise. So erspart man sich unzählige Debatten und anstrengende Situationen. Am schlimmsten finde ich Süssigkeiten-Belohnungsschubladen. Denn dann fängt man an, Essen in gutes und schlechtes einzuteilen, und dabei sind plötzlich die ungesunden Sachen die erstrebenswerten. Der Klassiker: Komm, jetzt iss noch was von den Nudeln und dem Brokkoli, dann gibts danach auch die Schokolade. Wer Essen hierarchisiert, sorgt dafür, dass es schnell begehrte Lieblinge und einen Kampf darum gibt. Wenn Sie diese Belohnungsstrategien einmal anfangen, haben Sie verloren und sind erpressbar. Ganz zu schweigen davon, dass ein Kind so kein vernünftiges Verhältnis zu Nahrungsmitteln aufbauen kann.
Welche Rolle spielen gemeinsame Mahlzeiten für die Essentwicklung?
Da treffen Sie einen Nerv, denn der aktuelle Zustand ist eine Katastrophe. Eine gemeinsame Mahlzeit am Tag in einer Familie – das muss man doch mit ein bisschen Organisationstalent schaffen! Aber nein, einer isst um fünf, der andere um sechs, der Dritte abends um neun, wenn er endlich nach Hause kommt. Recht häufig ist, dass die Kinder um sechs essen und die Eltern dann allein um acht, wenn die Kinder im Bett sind. Ich finde das traurig. Wenn das gemeinsame Mahl ein schönes, wichtiges Ritual ist, nimmt sich auch ein hungriges Kind um sechs nur eine Kleinigkeit und wartet gerne, bis dann um halb acht alle essen – weil es dieses Ereignis nicht missen möchte. Dabei geht es dann ums Erzählen, ums Zuhören, also um Kommunikation, und ja, auch ums Essen, aber das passiert eher nebenbei und wird nicht übertrieben zelebriert.
«Gemeinsame Mahlzeiten sind für die gesunde Essentwicklung enorm wichtig.»
Marguerite Dunitz-Scheer
Wie sollten Eltern reagieren, wenn die 13-jährige Tochter beschliesst, sie müsse jetzt abnehmen, weil sie zu dick sei?
Zunächst einmal guckt man sich die Situation faktisch an. Die Mutter einer 13-Jährigen sollte wissen, ob ihre Tochter 50, 60 oder 70 Kilo wiegt. Erstrebenswert ist in diesem Alter etwa ein BMI von 20. Ist das Mädchen wirklich zu dick, sagt man ihm: Du, wir kriegen das gemeinsam hin, wir kochen etwas kohlenhydratärmer, und ich mache uns einfach mehr Salate. Am besten zieht die ganze Familie mit. Auch hier gilt: Das Ganze sollte so normal wie möglich gehandhabt werden. Auch bei jüngeren Kindern, die zu dick sind, kann so eine Veränderung des Angebots schnell Abhilfe schaffen. Das liegt in der Hand der Eltern, ebenso wie die Entscheidung, dass es dann mal bis auf Weiteres nur einmal pro Woche ein Dessert gibt.
«Monotone Kost ist das Schlimmste, was Eltern einem Kind antun können», sagt die Ernährungsexpertin Marguerite Dunitz-Scheer.
Viele Teenager sind gar nicht zu dick, aber dennoch vom Gedanken des Abnehmens besessen.
Auch hier gucke ich mir als Elternteil das Kind selbst und seinen BMI an. Liegt der bei 18, bin ich besonders aufmerksam und stelle das Kind einmal die Woche auf die Waage. Ab einem BMI von 16 muss man Klartext reden und handeln. Dann muss dem Kind gesagt werden: Wir gucken ab jetzt nicht mehr zu, wie du dich kaputthungerst, wir holen jetzt Hilfe von ausgebildeten Menschen dazu. Niemand hat ein Problem damit, seinem Sohn oder seiner Tochter zu sagen, dass es auf keinen Fall ein Piercing oder weiche Drogen gibt, aber beim Essen stellen wir uns alle irgendwie an.
Vielleicht, weil es dazu so viele widersprüchliche Informationen gibt?
Das mag sein. Doch es ist wichtig, dass Eltern gleichzeitig verstehen, dass die Essentwicklung ein ganz normaler Teil der Kindesentwicklung ist, so wie die motorisch-sportliche, die schulisch-intellektuelle oder emotional-moralische auch. Der Einfluss, den die Eltern und alle Familienmitglieder auf diese Entwicklung haben, ist enorm, nimmt aber mit zunehmendem Alter langsam ab. Je mehr ich für mich selbst geklärt habe, wer ich bin und was ich esse, desto einfacher wird die autonome Essentwicklung des Kindes. Eine Mutter, die sich beim Essen entschuldigt und erklärt, dass sie heute nur Salat essen dürfe, und ein Vater, der vorrechnet, dass er die ganze Woche nur drei Scheiben Wurst hatte und dafür heute zwei Schnitzel darf – das sind die besten Voraussetzungen dafür, dass das Kind ein kompliziertes Verhältnis zu Nahrungsmitteln entwickelt.
Marguerite Dunitz-Scheer über …
- bio: Grundsätzlich ist jede Nahrung so naturbelassen wie möglich einzukaufen und so wenig verarbeitet wie möglich zu konsumieren. Je mehr Konservierungsstoffe ein Produkt hat, umso eher lasse ich die Finger davon – ausser wenn ich mich für eine Südpolexpedition ausrüste.
- vegan: Das ist für mich eine extreme Form der Ernährung, von der ich Eltern von heranwachsenden Kindern abrate. Eltern, die ihr Kind streng vegan ernähren möchten, sollten auf jeden Fall einen Diätologen konsultieren und darauf achten, dass die Eiweissversorgung sichergestellt ist.
- vegetarisch: Kinder können problemlos mit einer vegetarischen Ernährung aufwachsen, sie ist eiweissreich und enthält genügend Kalzium. Vegetarische Kost kann fantastisch geschmackvoll sein, aber leider muss man erst nach Indien reisen, um das im Alltag zu erleben.
- Geschmack: Ein Schweizer Kind kann meist mit zwölf Monaten zehn verschiedene Geschmäcker unterscheiden, ein französisches vierzig. Während Schweizer und deutsche Restaurants eigens Menüs mit angeblich kinderkompatiblen Fischstäbchen, Pommes und Spaghetti mit Tomatensauce auf die Karte setzen, liegt der Gedanke eines speziellen Kinderessens Eltern in vielen anderen Kulturen völlig fern. Indische Kinder wachsen zum Beispiel mit sehr würzigen Speisen auf, der Nachwuchs von Eskimos mit rohem Fisch, und in Israel essen selbst die Kleinsten schon geschmacksintensiven Hummus, Falafel und Oliven. Weil sie es von den Grossen so kennen.
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