07. November 2018
«Kinder sind gute Trauernde»
Interview: Claudia Füssler
Bild: Kat Jayne & Pexels
Bild: Kat Jayne & Pexels
Lesedauer: 5 Minuten
Kinder gehen mit Verlust und Trauer anders um als Erwachsene. Die Trauerbegleiterin Beate Weber erklärt, wie Kinder trauern und wie Eltern merken, ob ihr Kind zusätzliche Hilfe beim Trauerprozess braucht.
Frau Weber, wie lernen Kinder trauern?
Wir Erwachsenen sind ihre Vorbilder. Kinder begegnen dem Thema ja schon sehr früh und stellen ihre Fragen völlig unbefangen. Es ist dann entscheidend, wie wir mit solchen Situationen umgehen. Wenn ein Kind beispielsweise mit zwei Stecken einen toten Igel umdreht und erstaunt feststellt, wie viele Würmer in dem Tier krabbeln, sollten wir als erwachsene Begleiter nicht in Panik verfallen. Denn das Erschrecken kommt auch unterschwellig herüber, da werden Kinder schon beeinflusst. Wir müssen uns bewusst machen, dass wir non-verbal sehr viel mehr vermitteln als verbal. Es ist egal, was ich erzähle, wenn das Kind über mein Verhalten eine ganz andere Botschaft bekommt. Man muss aber auch sagen: Von Natur aus sind Kinder zunächst einmal gute Trauernde.
Was heisst das?
Kinder trauern kurz und heftig, sie verharren nicht so lange in einem Stadium wie Erwachsene. Darüber erschrecken Eltern oft, weil sie die Trauer der Kinder mit der eigenen vergleichen, die sie als «normal» im Kopf abspeichern. Dass Kinder in Phasen direkt nach dem Tod auch ausgelassen und fröhlich sein können, irritiert viele.
«Einem trauernden Kind stellt man am besten Fragen: Was glaubst du, wo Mami jetzt ist? Wie stellst du dir den Himmel vor?»
Umgekehrt sind Kinder auch irritiert, wenn sie die ihnen vertrauten Erwachsenen plötzlich in einer Ausnahmesituation erleben.
Das stimmt, und genau deshalb ist hier ein offenes Miteinander so wichtig. Kinder sind ganz tolle Tröster, wenn man sie lässt. Die Empathie und Anteilnahme am Leid des anderen ist in jedem von uns angelegt. Das Schlimmste, was man machen kann, ist so zu tun, als sei nichts. Das Kind sieht ja, wie es einem geht, es nimmt etwas wahr und bekommt als verbale Botschaft: Du nimmst falsch wahr, da ist nichts. Und es wird abgelenkt. Stattdessen sollte man es teilhaben lassen an der eigenen Trauer und gleichzeitig vermitteln, dass dies ein Zustand ist, der vorbeigeht. So wie sich draussen in der Natur ständig alles verändert – ewiges Glück gibt es
nicht.
nicht.
Wie gehen Lehrpersonen am besten mit Kindern um, die einen Todesfall in der Familie haben?
Das ist leider an vielen Schulen kein Thema, Lehrpersonen und Erziehende erhalten kaum Weiterbildungen für solche Situationen. Dabei ist es sehr wichtig, dass auch sie sich hinterfragen, was ihre eigenen Erfahrungen und ihr Standpunkt zum Thema sind. Ich würde immer mit der Familie sprechen und das Kind fragen, ob es darauf angesprochen werden möchte oder nicht. Und zwar nicht nur direkt nach dem Todesfall. Manche Kinder wollen erst Wochen später darüber reden, wenn die Trauer nach dem ersten Schock richtig aufbricht. Doch dann fragt keiner mehr, es ist ja schon zu lange her. Das sehe ich als generelles Problem in unserer Gesellschaft.
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Woran merke ich, dass ein Kind zusätzliche Hilfe beim Trauerprozess braucht?
Ein wichtiges Alarmsignal sind Selbstverletzungen. Auch wenn ein Kind sich sehr lange nach dem Todesfall noch immer zurückzieht, einsam und isoliert ist, nicht mit Freunden spielt, würde mich das stutzig machen. Bei Jugendlichen sollte man ebenfalls schauen, wie gut vernetzt sie sind, wo sie mögliche Gesprächspartner haben. Es ist nämlich nicht gesagt, dass in einer solchen Situation nur Familienmitglieder am besten helfen können. Fachpersonen, die von aussen kommen, können oft stark unterstützen.
Warum schafft das die Familie nicht alleine?
Eine Familie funktioniert wie ein Mobile. Alle hängen an einem Faden und sind untereinander verbunden. Wenn mal ein heftiger Luftzug kommt, sind alle am Flattern, irgendwann hat sich das Mobile wieder beruhigt. Aber was passiert, wenn man eine Figur am Mobile abschneidet? Es klappt in sich zusammen und ist nicht mehr funktionsfähig. Wenn ein Familienmitglied stirbt, wollen die anderen sich gegenseitig schützen, doch jeder hat auch mit seiner eigenen Trauer und emotionalen Not zu tun. Wer selbst kämpft und durch den Verlust belastet ist, kann nur schwer für andere da sein.
Da kann jemand von aussen helfen?
Absolut. Das muss nicht zwingend ein professioneller Trauerbegleiter sein. Auch andere Menschen, die den Familien – und eben vor allem den Kindern – nahestehen, gleichzeitig aber auch eine gewisse Distanz haben, weil sie vom Verlust nicht unmittelbar betroffen sind, können wertvolle Unterstützung leisten.
Kinder sind meist gute Trauernde!
Wie kann eine solche Unterstützung konkret aussehen?
Es gilt: Nicht ansprechen ist keine Lösung. Man kann dem Kind sagen: Ich sehe, dass dich etwas umtreibt. Und von sich erzählen. Wie man selbst solche Situationen erlebt, was einem geholfen hat vielleicht. Aber es ist wichtig, den Kindern Raum zu geben. Einfach da sein, gemeinsam spielen, es muss nicht immer um die Trauer gehen. Es gibt Eltern, die denken, wenn man Kinder auf ihre Trauer anspricht, würden sie sofort darauf einsteigen und Fragen stellen. Das ist eine Illusion. Die meisten Kinder stellen Fragen in den blödesten Momenten. Dass sie das können und dürfen, sollten sie immer vermittelt bekommen. Eine Antwort auf genau diese Frage reicht. Nicht mehr, das überfordert die Kinder. Und schon gar kein Vortrag zum Thema, weil man denkt, das sei jetzt eine gute Gelegenheit.
Wie komme ich denn mit dem Kind ins Gespräch?
Zum Beispiel, indem Sie eine Gegenfrage stellen: Wie stellst du dir den Himmel vor? Was glaubst du, wo die Mami jetzt ist? Solche einfachen Dinge. Da beschreiben die Kinder oft tolle Bilder, wie sich für sie dieses ganze Konzept des Sterbens und des Todes darstellt.
Um im nächsten Moment wieder ausgelassen zu spielen.
Genau, und das ist gut so. Die Trauer ist immer nur eine kurze Sequenz, Kinder sind dem Leben zugewandt. Sie haben da ihren ganz eigenen Rhythmus. Das ist überlebenswichtig, für uns alle. Auch wenn uns das meist nicht bewusst ist: Wir haben alle eine recht gesunde Trauerausstattung mitbekommen. Gäbe es die nicht, wären wir alle permanent schwer depressiv.
Sie sind Mutter von acht Kindern, eines davon ist gestorben. Reden Sie mit Ihren Kindern über den Tod?
Natürlich, wenn es angebracht ist. Noch mehr reden wir aber über das Leben. Bei uns gibt es eine Grundregel: Man darf sich streiten, ärgern, stinksauer sein. Aber am Abend macht man immer Frieden miteinander, da man nie weiss, ob der andere am nächsten Morgen noch da sein wird. So etwas verschiebt man nicht auf morgen oder übermorgen. Und ich bringe meinen Kindern bei, dass jeder einzelne Tag ein Geschenk ist.
Wellen statt Phasen, Pfützen statt Ozean
Kinder trauern anders als Erwachsene. Die Grossen kämpfen sich durch einen grossen Ozean der Trauer und durchleben dabei die vier Phasen des Trauerns, die die Schweizer Psychologin Verena Kast in den 1980er-Jahren definiert hat:
- die Phase des Nicht-Wahrhaben-Wollens
- die Phase der aufbrechenden Emotionen
- die Phase des Suchens und Sich-Trennens
- die Phase des neuen Selbst-und Weltbezugs.
Die Kleinen jedoch springen in ihrer Trauer sinnbildlich von Pfütze zu Pfütze, immer wieder tauchen sie hinein in einen kleinen Trauerteich, finden aber auch sehr schnell wieder heraus – ehe sie in die nächste Pfütze tappen. Der Wechsel ist meist sehr abrupt und kann Erwachsene, die an eine andere Form des Trauerns gewöhnt sind, irritieren.
Zur Person:
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