Wenn Papa trinkt - Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
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Wenn Papa trinkt

Lesedauer: 8 Minuten

In der Schweiz trinkt jede fünfte Person zu viel: Alkoholmissbrauch ist eine Volkskrankheit. Und ist ein Vater oder eine Mutter süchtig, leidet die ganze Familie. Beat Schaffner* war jahrelang alkoholkrank. Zusammen mit seiner Frau Margrit erzählt er, was die Sucht mit ihrer Familie gemacht hat – und wie sie die Krankheit überwinden konnten.

Draussen bricht der Winter herein, in einem einzigen nassen Windstoss. Aber Beat und Margrit* sind drüber hinweg, über die Kälte, über die Schwere, die Verwirrung, den Krach, die Depression. Stattdessen ist Arbeit angesagt: an sich selbst, an der Beziehung, an der Familie. Beat und Margrit haben drei Kinder. «Wir sind endlich angekommen», sagt Margrit. «Wir mussten mit Mitte 30 erst einmal herausfinden, wer wir sind, ohne den Alkohol.»

Beat ist trocken, und zwar schon seit mehr als zehn Jahren. Davor war er es nie. «Ich bin so geboren», sagt er. Beat konnte nie trinken, ohne sich zu betrinken, ohne die Kont­rolle zu verlieren. Das erste Mal als Ministrant. Beat hat mit zwölf den Messwein probiert. Und ist dann die Kirchentreppe hinuntergestolpert. «Ich kann mich an das Gefühl noch gut erinnern», sagt er und lacht, «ich hatte gummige Knie.» 

Als Beat zum ersten Mal verliebt war, kaufte er sich eine Flasche Whisky. «Um es nicht mehr zu spüren», sagt er. So ein Gefühl kannte er nicht, hielt er nicht aus. Eine Strategie, die er bald bewusst einsetzte. Zum Beispiel, wenn er als junger Mann seine depressive Mutter besuchte. «Ich habe es kaum ausgehalten, mit ihr am Tisch zu sitzen. Bis ich ein Glas Weisswein bekommen habe. Dann wurde das Gefühl erträglich.» Beat trank, wenn es darum ging, Emotionen auszuhalten, gute wie schlechte. Es gibt keinen zwingenden Grund für Beats Alkoholkrankheit in seiner Biografie. Sie war schlicht und einfach: eine destruktive Überlebensstrategie, die sich verselbstständigt hat.

Keiner hat etwas gemerkt

«Mir hat er von Anfang an gesagt, dass er sich nicht unter Kontrolle hat», erinnert sich Margrit. «Aber ich dachte als naive Zwanzigjährige: Wenn er es ja weiss, dann ist das kein Problem. Dann kann er es ändern.» Dass er das überhaupt nicht konnte, dass das für einen Alkoholiker gar nicht möglich ist, das habe sie damals nicht gewusst. Zu dieser Zeit standen die Studentin und der gelernte Bäcker am Anfang ihrer Beziehung.

Mit 25 schrieb Margrit ihre Diplomarbeit. Das Thema: Alkoholismus. Beat füllt heimlich einen der Fragebogen aus, die herumliegen. «Es hat mich einfach interessiert.» Das Ergebnis hat ihn erschüttert: «Sie sind Alkoholiker, suchen Sie sich Hilfe

Beat war kein Penner. War nie aggressiv. Beat war erfolgreicher Unternehmer, Familienvater, Kol­lege. So wirkte es für Aussenstehende. Die Familie wohnt in einer kleinen Gemeinde im Kanton Aargau. 7000 Einwohner, man kennt sich, kennt Beat wegen seines Unternehmens. Trotzdem: Gemerkt habe von seinen Problem keiner etwas, sagt das Paar. Bis heute gibt es Leute, die denken, sein Entzug sei völlig übertrieben gewesen. «Die denken, das bisschen Alkohol, deshalb bist du noch lange kein Alkoholiker. Aber das stimmt nicht», sagt Beat. «Es ist nicht die Menge, es ist der Kontrollverlust.» Sobald er ein Glas getrunken hatte, ging es los. Die guten Vorsätze waren weggespült. Am Schluss war er komplett betrunken, hat lautstark philosophiert, war der Grösste. 

Als die Eltern Mitte 30 waren, musste die Familie erst einmal herausfinden, wer sie war, ohne den Alkohol.

Am Tag danach war Beat jeweils wieder zurechnungsfähig. Zumindest teilweise. «Ich habe mich immer rasiert, geduscht, bin immer pünktlich arbeiten gegangen», sagt er. Den Schnaps hat er irgendwann gegen Bier und Wein getauscht. «Da konnte ich die Menge etwas besser dosieren.»

Beat und Margrit waren nicht die verwahrloste Klischee-Alkoholiker-Familie – sie sind damit die Regel, nicht die Ausnahme. Der Alkoholismus ist eine Schweizer Volkskrankheit: Rund 250’000 Menschen sind hierzulande alkohol­abhängig. Und jede fünfte Person trinkt Alkohol missbräuchlich: Zur falschen Zeit, zu viel, zu oft. Jeder zwölfte Todesfall in der Schweiz ist auf Alkohol zurückzuführen. Das sind Zahlen des Bundesamtes für Gesundheit aus dem Jahr 2016.

Die Kinder waren nicht mehr wichtig

«Wenn wir in unserer Beziehung Krach hatten, dann wegen dem Alkohol», erinnert sich Margrit. Aber schlimmer als das Torkeln, das Lallen war der ständige Vertrauensbruch, wenn Beat am Abend für die Kinder zuständig war, während Margrit unterwegs war. «Natürlich bringe ich sie rechtzeitig ins Bett», versprach Beat dann, «natürlich klappt alles gut.» Nur, wenn dann die Freunde da waren und Beat die erste und dann die zweite Flasche Wein getrunken hatte, dann war das nicht mehr wichtig. «Dann sind die Kinder halt irgendwann irgendwo eingeschlafen, wenn sie müde waren», sagt Beat. Seinen Knockout haben sie jeweils nicht mehr mitbekommen. Obwohl: Als Alkoholiker verträgt man viel. «Nach aussen hat man mir das nicht angemerkt, dass ich an einem Abend zwei Flaschen Wein oder fünf bis zehn Bier getrunken hatte», sagt Beat heute. «Als Alkoholiker rechnest du in einer anderen Liga.»

Ein Sattelschlepper als Ausweg

Die Alkoholkrankheit wurde zum Lebensmittelpunkt der Familie. Und Margrit erlebte das, was die Experten als Co-Abhängigkeit bezeichnen: die Verunsicherung, die Hilflosigkeit, das Unvermögen, etwas ändern zu können. Sie wurde depressiv.

Margrit stellt ihren Kaffee auf den Tisch und seufzt. Heute staunt sie über die eigene Vergangenheit. Sie sitzt im Wohnzimmer, schaut aus dem Fenster, Nebel. «Ich bin oft in der Wohnung gesessen und habe mich nicht getraut, hinauszugehen», erinnert sie sich. «Ich hatte Angst, dass sie mir die Kinder wegnehmen. Denn mit mir stimmte ja offenbar etwas nicht.» Nach Jahren voller Unsicherheiten war sie irgendwann davon überzeugt, psychisch krank zu sein.

Von ihrem Umfeld wurde Margrit damals die wütende Mutter, die überstrenge, diejenige, welche ihren Mann an die Kandare nimmt, welche die Familie auf Trab hält. Diejenige, mit der etwas nicht stimmte. Und das, obwohl sie solch einen Mann hat: Einen, der sie alles machen lässt, der so liebenswürdig ist, den sie gar nicht verdient hat. Margrit sagt: «Irgendwann hatte ich es so oft gehört, dass ich angefangen habe, es zu glauben: Ich bin krank, nicht der Beat.» Dass das typisch ist für die Frauen von Alkoholkranken, wusste sie damals nicht. 

Irgendwann hatte es Margrit so oft gehört, dass sie es glaubte: Sie war krank, nicht ihr Mann.

Margrit hat das Problem übernommen. Er hatte die Sucht, sie die Symptome. «Ich war gar nicht da», sagt Margrit, «immer irgendwie abwesend. Dass ich für die Kinder emotional nicht vorhanden war, bereue ich heute am meisten. Sie sagen mir zwar, dass sie das nicht gemerkt haben. Aber ich merke es.» Beat auch. Er war nach aussen charmant, lebensfreudig, gut organisiert. Innerlich aber war er betäubt, unglücklich, selbstmordgefährdet. «Dieser Sattelschlepper da, der könnte reichen», hat er manchmal gedacht, am Morgen, auf dem Weg ins Büro.

Beat hat sich damals bei jeder Gelegenheit betrunken. Das heisst: nicht immer. Sondern so, dass alles weiter funktioniert hat. «Ich wusste ja, dass etwas nicht stimmte. Deshalb habe ich angefangen, mir den Alkohol einzuteilen. Ich trank montags und dienstags nicht, mittwochs nur bei Besuch. Also musste ich für Besuch sorgen.» Beat lacht, heute steht er anders da im Leben. Heute schaut er in den Spiegel und weiss, dass er sich gern hat. Früher hat er sich verachtet. Und ein schlechtes Gewissen gehabt. Immer. «Das war ja auch angenehm für mich», sagt Margrit, «wegen seines schlechten Gewissens durfte ich alles tun, was ich wollte. Ich bin geflüchtet: in den Ausgang zum Beispiel. Es hat mir geschmeichelt, wenn Männer mich angesprochen haben. Und dann ist ja auch etwas passiert.» Der dritte Sohn der Familie ist nicht von Beat. Und schon wieder: Er war der Verständnisvolle, sie die, die über die Stränge schlägt. «Mich hat niemand gefragt, wie ich das finde», sagt Margrit. Schwanger, von einem anderen Mann. «Nur ihn haben sie gefragt, wie er das so gut akzeptieren kann.»

Die Rettung – und eine neue Bedrohung

Und dann kommt das Ende. «Man muss einen Tiefpunkt erreichen, um aussteigen zu können», sagt Beat. «Man muss ganz unten sein.» Beat trank mittlerweile jeden Tag. Und wenn er einmal nicht trank, wachte er mitten in der Nacht schweissgebadet auf – wegen des kurzen Entzuges. Das war der Tiefpunkt. Das Ende: Auf einem Geschäftsausflug traf er eine andere Frau. «Sie hat mich völlig aufgewühlt», sagt Beat. «Er kam nach Hause und wollte trocken werden», erinnert sich Margrit. «Das war für mich extrem bedrohlich, dass eine andere Frau das in ihm auslösen konnte, was ich nicht geschafft hatte

Beat wollte wieder etwas fühlen. «Noch in der selben Woche sind wir ans erste Treffen der anonymen Alkoholiker gegangen.» Und seither jede Woche. Trennung kam nicht in Frage. «Man liebt ja den Menschen dahinter», sagt Margrit. «Den, der er sein könnte. Er sieht den Menschen hinter meiner De­­pression und ich den hinter seinem Alkohol.»

«Man liebt den Menschen ­dahinter», sagt Margrit. «Den, der er sein könnte.»

Den körperlichen Entzug machte Beat zu Hause. Damals war der älteste Sohn zwölf Jahre alt, der mittlere acht, der jüngste drei. «In meiner Arroganz dachte ich damals, ich schaffe das. Das war für Margrit und die Kinder vielleicht das Schlimmste von allem», sagt Beat. «Das tut mir heute noch unglaublich leid.» Drei Wochen lang war Beat ausser sich. «Ich war Jesus und Teufel zugleich», erinnert er sich. Sagte Margrit und den Kindern Dinge wie: «Ich weiss nicht mehr, ob irgendetwas, das ich euch jemals gesagt habe, stimmt. Ich weiss nicht, ob ich euch jemals wirklich geliebt habe. Ich weiss nur, dass ich im Moment gar nichts spüre.» Im Nachhinein ist ihm klar: «Das war für Margrit und die Kinder unglaublich verletzend.» 

Margrit: «Wir waren für die Kinder überhaupt nicht mehr berechenbar, wir haben als Familie nur noch geradeso funktioniert. Das war für uns sicher die traumatischste Phase.»

Dass er den Entzug zu Hause machte, vor Margrit und den Kindern, sieht Beat heute als grossen Fehler. 

Was man bei den Anonymen Alkoholikern als Erstes lernt? «Dass das, was uns passiert ist, alle Familien mit Alkoholikern erleben», sagt Margrit. Ihre Symptome, die Versuche, etwas zu ändern, die Unmöglichkeit, das Flüchten. «Bei den Anonymen Alkoholikern haben sie das alles schon x-Mal gehört.» Das ist eine Erleichterung. Mit Hilfe der Selbsthilfegruppe konnte die Familie die Sucht loswerden. Das ist für die beiden ein Geschenk. Und die Kinder? Ob sie einen Schaden davongetragen haben, können Beat und Margrit nicht beurteilen. «Meine Alkoholsucht hat sicher alle Familienmitglieder getroffen», sagt Beat. Aber der Umgang mit der Suchtkrankheit und das gemeinsame Aufarbeiten derselben habe die Familie auch gestärkt. Inwieweit die jetzige Lebensituation der Kinder anders wäre ohne die Trinkerei, könne man nicht wissen, sagt Beat. «Aber alle drei stehen heute selbständig und sicher im Leben.»

* Alle Namen von der Redaktion ­geändert. 


Falco Meyer

ist freier Journalist, Psychologe und Vater einer kleinen Tochter, die er zusammen mit seiner Partnerin betreut. Er lebt und arbeitet in Zürich.
ist freier Journalist, Psychologe und Vater einer kleinen Tochter, die er zusammen mit seiner Partnerin betreut. Er lebt und arbeitet in Zürich.

Hier gibt es Hilfe

In der Schweiz besteht ein dichtes Angebot an Hilfestellen für Familien mit einem alkohol­kranken Mitglied. Wenn Sie Hilfe suchen, sind Sie hier gut aufgehoben: 

  • Anonyme Alkoholiker: anonyme-alkoholiker.ch
    Die Anonymen Alkoholiker sind eine Selbsthilfegruppe für Alkoholkranke. Sie steht allen offen. Die einzige Bedingung ist der Wunsch, mit dem Trinken aufzuhören. Ein erster Kontakt erfolgt über die 24-h-Hotline: 0848 848 885 oder per Mail an info@anonyme-alkoholiker.ch
  • Al-Anon: www.al-anon.ch
    Al-Anon dagegen ist für Angehörige und Freunde von Alkoholkranken. Al-Anon verfügt über ein 24-h-Hotline: 0848 848 843. 
  • Blaues Kreuz: www.blaueskreuz.ch
    Das Blaue Kreuz ist eine Fachorganisation für Alkohol- und Suchtfragen. Es bietet kostenlose Beratung für Betroffene und Familienmitglieder an. In den meisten grösseren Städten der Deutschschweiz gibt es eine Sektion. 
  • Safezone: www.safezone.ch
    Safezone ist eine Online-Beratung für Suchtfragen. Das Portal wird vom Bundesamt für Gesundheit in Zusammenarbeit mit kantonalen Fachstellen und Fach­organisationen betrieben. Hier können Betroffene und Angehörige auf verschiedene Arten Online zu einer Beratung kommen, zum Beispiel per Mail. Die Be­ratung ist anonym.
  • Kantonale Stellen für Suchtberatung: suchtindex.infodrog.ch
    Die meisten Kantone bieten eine eigene Suchtberatung an. Betroffene erhalten da eine kostenlose, persönliche Beratung. Über das Portal suchtindex.infodrog.ch können lokale Angebote schnell gefunden werden.
  • Alcohol-Facts: www.alcohol-facts.ch
    Auch über dieses Portal können lokale Beratungsstellen gefunden werden. Zudem bietet das Portal eine grosse Auswahl von Inhalten zum Umgang mit Alkohol an, ­darunter ein interaktives Quiz zum Thema.

Weiterlesen: 

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    Suchtspezialistin Vanessa Brandestini rät dazu, einen übermässigen Alko­holkonsum mit dem betreffenden Familienmitglied direkt anzusprechen. Die Ansicht, das Problem in der Familie regeln zu müssen, könne jedoch fatal sein.
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