Wir müssen mehr Freiräume schaffen, um Talente zu fördern - Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
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Wir müssen mehr Freiräume schaffen, um Talente zu fördern

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Welche Folgen hatte der Lockdown für den Lernstand unserer Kinder? Keine allzu negativen, sagt der oberste Schulleiter der Schweiz, Thomas Minder, und plädiert dafür, Schülerinnen und Schülern mehr Raum zur freien Entfaltung zuzugestehen.

Das Coronavirus hat das Leben von uns allen auf den Kopf gestellt. Inwiefern uns eine zweite Welle treffen wird, bleibt abzuwarten. Die Politik streitet, ob die getroffenen Massnahmen angebracht waren, während die meisten Menschen froh sind, dass die Pandemie bisher vergleichsweise harmlos an ihnen vorübergezogen ist. Unsere Gedanken sind aber auch bei den Menschen, die es – sei es gesundheitlich oder wirtschaftlich – härter getroffen hat. Viele Menschen haben während des Lockdowns ihre Arbeit verloren und kommen darum finanziell in arge Nöte.

Da sind wir in den Schulen glimpflich davongekommen. Es war wohl eine sehr arbeitsreiche und auch emotional anspruchsvolle Zeit. Und doch konnten wir alle unsere Arbeit behalten. Schlussendlich sind auch die Schülerinnen und Schüler zurück und wir Lehrpersonen sind glücklich, wieder das machen zu dürfen, wofür wir uns beruflich entschieden haben.

«Die Corona-Zeit zeigt auf, dass den Zeugnissen eine zu hohe Bedeutung zugemessen wird.»  Thomas Minder ist Präsident des Verbands Schulleiterinnen und Schulleiter VSLCH und leitet die Volksschulgemeinde Eschlikon TG auf Stufe Kindergarten und Primarschule.  (Bild: Anne Gabriel-Jürgens / 13 Photo)
«Die Corona-Zeit zeigt auf, dass den Zeugnissen eine zu hohe Bedeutung zugemessen wird.»

Thomas Minder ist Präsident des Verbands Schulleiterinnen und Schulleiter VSLCH und leitet die Volksschulgemeinde Eschlikon TG auf Stufe Kindergarten und Primarschule.

(Bild: Anne Gabriel-Jürgens / 13 Photo)

Die Verunsicherung bei den Eltern war jedoch phasenweise gross. Muss mein Kind eine Klasse wiederholen? Schafft mein Kind mit nur wenigen Stunden Fernunterricht pro Tag den Anschluss, wenn der Präsenzunterricht wieder losgeht?

Diese Unsicherheit ist in der Zwischenzeit gewichen. Kaum ein Kind musste wegen des Lockdowns eine Klasse wiederholen. Vielerorts wurden Zeugnisse angepasst oder mit einem Vermerk versehen, dass die Beurteilungsperiode in die Zeit der Corona-Pandemie fiel. Und es wird uns aufgezeigt, dass der Beurteilung, sprich den Zeugnissen, zuweilen eine zu hohe Bedeutung zugemessen wird. Aber was sind die Auswirkungen des Lockdowns auf die Schülerinnen und Schüler?

Sechs Wochen Lockdown fallen kaum ins Gewicht 

Bei mehreren Gelegenheiten habe ich in Interviews darauf hingewiesen, dass diese sechs Wochen während total elf Jahren Volksschulzeit – den Kindergarten eingeschlossen – kaum ins Gewicht fallen. Aber ­warum ist das so? 

Lernen lebt von Wiederholungen. Die Unterrichtsinhalte sind curricular aufgebaut. Das bedeutet, dass Themen immer wieder zum Inhalt gemacht werden. Ein Beispiel dafür aus der Mathematik ist die Addition. In der ersten Klasse wird die Addition im Zwanzigerraum trainiert. Gegen Ende des ersten Schuljahrs wird das Zusammenzählen von Zahlen sukzessive auf den Hunderterraum erweitert. In der Sekundarschule wird mit Buchstaben gerechnet – Variablen werden addiert. Hinzu kommt, dass die Addition in anderen Bereichen und Fächern ebenfalls vorkommt. Auch im Geografie-Unterricht (oder wie es neu heisst: «Räume, Zeiten, Gesellschaft») kann es vorkommen, dass in Werttabellen Zahlen addiert werden. In einem ganzheitlichen Unterricht wird ausserdem fächerübergreifend gelehrt und gelernt.

Oft lassen sich die ­Lehrpersonen die ­Unterrichtsinhalte durch das Lehrmittel diktieren. Dabei gibt der Lehrplan nur die Inhalte vor. 

Doch was passiert, wenn die Lehrperson vor den Ferien die schriftliche Division mit zweistelligem Divisor (z. B. 994,46 : 19 = ?) nicht mehr «durchnehmen» konnte?

Oft – und da spreche ich aus eigener Erfahrung als Sekundarlehrer – lassen sich die Lehrpersonen durch das Lehrmittel, beispielsweise das Mathematik- oder das Sprachbuch, die Unterrichtsinhalte diktieren. Dabei gibt der Lehrplan, in den Deutschschweizer Kantonen ist das nun der Lehrplan 21, die Inhalte vor und nicht das Lehrmittel. Und mit dem Lehrplan wird beabsichtigt, im Durchschnitt 80 Prozent der Unterrichtszeit auszufüllen. Damit sollen die Lehrpersonen die Möglichkeit haben, selbst Schwerpunkte zu setzen – je nach Klasse und eigenen Talenten. Die sechs Wochen Lockdown sind von diesem Blickpunkt aus verkraftbar. Somit müsste es eigentlich möglich sein, spätestens im nun laufenden Schuljahr allfällige inhaltliche Defizite zu kompensieren.

Was passiert mit dem Lernen ausserhalb der Schule?

Eine weitere Aufgabe der Volksschule ist, die Kinder zu befähigen, ihr Leben selbständig meistern zu können. Dazu gehört meines Erachtens auch sehr viel Wissen und ­Können, das man nicht nur in der Schule erlangen kann. So hat beispielsweise eines meiner Kinder in der Lockdown-Phase zu viel Sauce gekocht, weil ihm beim Umrechnen einer Mengenangabe ein Fehler unterlaufen ist. Ein wunderbarer Fehler, da wir uns noch lange an ihn erinnern werden. Und damit ein grossartiger Moment zum Lernen. So konnten wir auch in der Schule bei vielen Kindern Fortschritte ­feststellen, die sie in der Zeit des Distance-Learnings gemacht haben. Fortschritte, die wir im Voraus kaum für möglich hielten. Darüber werden wir nachdenken müssen. Offensichtlich schaffen auch Freiräume das Potenzial für Entfaltung.

Den bestehenden Druck gut ­bewältigen

Darum sollten wir aus dieser Zeit mitnehmen, auf keinen Fall mehr Druck auf die Kinder und Jugendlichen auszuüben, davon gibt es schon genug. Wir verantwortlichen Personen in der Schule (und die Eltern) tun gut daran, den Schülerinnen und Schülern zu helfen, den bestehenden Druck gut zu bewältigen, indem wir ihnen Zuversicht vermitteln. Ausserdem müssen wir Freiräume schaffen, um Potenziale freizulegen respektive Talente zu fördern – alle Kinder und Jugendlichen haben Talente.

Wir sollten aus dieser Zeit mitnehmen, dass wir auf keinen Fall mehr Druck ­ auf die Kinder und ­Teenager ­ausüben dürfen.

Eine Blume wächst nicht, wenn wir einen schweren Stein auf den Keimling legen. Die Blume will gehegt und gepflegt werden, ganz so wie im Buch «Der kleine Prinz» von Antoine de Saint-Exupéry. Der kleine Prinz entdeckt eine Blume auf seinem Planeten und tritt mit ihr in einen Dialog:

«Ich glaube, es ist Zeit für das ­Frühstück», nahm sie [die Blume] das Gespräch wieder auf, «hätten Sie die Güte, an mich zu denken …» Da errötete der kleine Prinz, holte frisches Wasser und goss die Blume.


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