«Herr Minder, weshalb fehlen so viele geeignete Schulleiter?» - Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
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«Herr Minder, weshalb fehlen so viele geeignete Schulleiter?»

Lesedauer: 7 Minuten

Seit dem 1. August ist Thomas Minder der oberste Schulleiter der Deutschschweiz. Der Thurgauer über akuten Schulleitermangel, Quereinsteiger ­im ­Lehrberuf­ und­ sein­ Ziel,­ grösseren ­Einfluss ­auf­ die Politik zu nehmen.

Wer sich am Bahnhof Eschlikon verabredet, findet sich schnell. Nur wenige Fahrgäste steigen aus dem Zug. Thomas Minder winkt seinen Besuchern zu, führt sie zum nahe gelegenen Parkplatz. «Wir führen das Gespräch am besten in der Schulverwaltung. Das ist nicht weit», sagt der neue Präsident des Dachverbands Schulleiterinnen und Schulleiter VSLCH. Dort angekommen staunen Fotografin und Journalisten nicht schlecht: Thomas Minders Arbeitsort ist eine 130 Jahre alte elegante Villa mit toskanischen Formen und aufwändigem Dekor. Nach einer kurzen Besichtigungsrunde kann das Interview beginnen.

Herr Minder, was macht einen guten Schulleiter aus?

Ganz einfach, der- oder diejenige muss die eierlegende Wollmilchsau sein. Nein, im Ernst, Gesprächsführung, Geduld, Empathie, Konfliktlösefähigkeit sind wichtige Eigenschaften eines Schulleiters. Darüber hinaus muss er oder sie sich auch abgrenzen können, Probleme nicht zu sehr an sich heranlassen. Dann kommen noch betriebswirtschaftliche Aspekte hinzu und Führungskompetenzen.

Thomas Minder: Der heute 43-Jährige begann nach der Matur ein Studium der Ingenieurwissenschaften und arbeitete danach als Flugbegleiter bei der Swissair, bevor er in St. Gallen das Studium als Sekundarlehrer phil II. abschloss und Lehrer wurde. Seit 12 Jahren leitet Thomas Minder die Volksschulgemeinde Eschlikon auf Stufe Kindergarten und Primarschule, viereinhalb Jahre lang präsidierte er den Thurgauer Verband der Schulleitenden VSLTG. Seit August ist er Präsident des Verbands VSLCH, in dem rund 2200 Schulleiterinnen und Schulleiter organisiert sind. Thomas Minder ist verheiratet und Vater dreier Kinder im Alter von 11 bis 14 Jahren.
Thomas Minder: Der heute 43-Jährige begann nach der Matur ein Studium der Ingenieurwissenschaften und arbeitete danach als Flugbegleiter bei der Swissair, bevor er in St. Gallen das Studium als Sekundarlehrer phil II. abschloss und Lehrer wurde. Seit 12 Jahren leitet Thomas Minder die Volksschulgemeinde Eschlikon auf Stufe Kindergarten und Primarschule, viereinhalb Jahre lang präsidierte er den Thurgauer Verband der Schulleitenden VSLTG. Seit August ist er Präsident des Verbands VSLCH, in dem rund 2200 Schulleiterinnen und Schulleiter organisiert sind. Thomas Minder ist verheiratet und Vater dreier Kinder im Alter von 11 bis 14 Jahren.

Würden wir Ihre Kollegen fragen, was Sie als Schulleiter auszeichnet, welche Antwort bekämen wir?

Ich bin einer, der sein Kollegium unterstützt, ein offenes Ohr für die Anliegen der Lehrpersonen hat. Einer, der dazu stehen kann, wenn er Fehler gemacht hat und das Gespräch sucht.

Sagen wir, an Ihre Schule kommt eine neue Schülerin, mit der es an ihrer vorhergehenden Schule schwierig war. Auch die neuen Lehrpersonen haben Probleme mit dem Mädchen. Welche Aufgabe kommt Ihnen als Schulleiter zu?

Meine Aufgabe bestünde darin, ein Netzwerk aufzubauen, damit es nicht zur Eskalation kommt. Vor allem auf der Belastungsseite der Lehrpersonen. Denn obwohl die Situation unheimlich belastend ist, sollen sie gesund ihre Arbeit machen können. Auch wenn das bei uns im Schulhaus sehr selten vorkommt: Es gibt diese Kinder, die einfach ausflippen. Und das ist für Lehrpersonen extrem anspruchsvoll.

Verstehen Sie sich als eine Art Schlichtungsstelle?

Es gibt Situationen, in denen ich mich mit Eltern und Lehrpersonen an einen Tisch setze. Dann höre ich den Eltern zu und nehme ihre Anliegen auf, aber ich fühle mich eher der Organisation Schule verpflichtet. Ich kenne die Lehrpersonen und ihre Stärken und Schwächen, und wenn Eltern Kritik anbringen, dann geht es oft um etwas, woran wir sowieso schon arbeiten. Es wäre unprofessionell, dies öffentlich zu kommentieren. Und nur weil Eltern in dieser Sache nichts weiter von mir hören, heisst das nicht, dass wir intern nicht daran arbeiten.

Ist der Beruf des Schulleiters im Vergleich zu früheren Zeiten anspruchsvoller geworden?

Im Bereich Kommunikation mit Sicherheit. Die Geschwindigkeit, mit der sich Nachrichten verbreiten, nimmt zu, ebenso wie die Taktung. Eltern hören ein Gerücht und tauschen sich darüber mit anderen Eltern via Whatsapp aus.

Eltern sind heute besser vernetzt.

Aber diese Vernetzung nutzen sie nicht, um ihre Kinder besser zu begleiten.

Wie meinen Sie das?

Ich halte es in dieser Sache mit dem israelischen Psychologen Haim Omer, der sagt: Wenn es Probleme mit dem Kind gibt, sollten Mütter und Väter das ganze Unterstützungssystem nutzen, das die Institution Schule anbietet, Lehrpersonen, Schulleiter, Schulsozialarbeiter und Psychologen, aber auch die Peers und deren Eltern.

Und das tun Eltern zu wenig? 

Grundsätzlich machen es die meisten Eltern sehr gut. Es gibt aber Mütter und Väter, die dieses Unterstützungsnetz nicht oder zu wenig in Anspruch nehmen, die regen sich lediglich gemeinsam mit anderen Eltern auf.

Welche Instanzen können Schulleiter um Unterstützung beziehungsweise Hilfe bitten?

Ich nutze beispielsweise das kollegiale Netzwerk bestehend aus anderen Schulleitern, hole Meinungen ein oder erkundige mich nach Fachpersonen. Die Anlaufstelle für Schulleiter ist in der Regel der Präsident des kantonalen Schulleiterverbandes. Dieser verschickt die Anfragen via Mail an sein Netzwerk und bittet um Rückmeldung an den Absender.

Sie führen eine Primarschule in einer eher ländlich geprägten Region. Man kennt sich aus Vereinen, Ihre Frau trifft Väter oder Mütter Ihrer Schüler beim Einkaufen. Fällt es in diesem Fall schwerer, sich abzugrenzen?

Es ist auch eine Chance, wenn man in einer kleineren Gemeinde, in der man lebt, arbeitet. Aber ja, meine Frau hat sicher lernen müssen, sich abzugrenzen. Als ich die Stelle als Schulleiter angetreten habe, waren meine Kinder noch klein. Jetzt gehen sie in die Schule, und die Eltern meiner Schüler kennen mich auch als Vater. Das macht einen menschlicher und entspannt die Situation um einiges.

Ihre Kinder gehen in die Schule, an der Sie Schulleiter sind?

Ja, ich wollte nicht, dass meine Kinder anders behandelt werden. Auch wenn es für die Lehrpersonen nicht immer ganz einfach ist. So haben sie mich als Chef und Vater im Nacken.

Seit dem 1. August sind Sie Präsident des Verbands Schulleiterinnen und Schulleiter Schweiz. Dafür haben Sie Ihr Pensum als Schulleiter auf 60 Prozent reduziert.

Bisher hatte ich zwei Schulstandorte unter mir, einen konnte ich an einen jüngeren Kollegen abgeben. Er war mein Wunschkandidat für den Posten. Es ist nicht selbstverständlich, eine Schulleitungsposition aus den eigenen Reihen besetzen zu können.

Sie spielen auf den Schulleitermangel an.

Der meiner Meinung nach noch gravierender ist als der Lehrermangel. Ich finde es nicht glücklich, wenn «nur» von einem qualitativen Mangel gesprochen wird – anstatt von einem grundsätzlichen Lehrer- beziehungsweise Schulleitermangel. Das bedeutet ja, dass mit dem letzten Aufgebot Stellen besetzt werden, und das ist keine gute Ausgangslage für eine Schulgemeinde, die die ideale Person finden und nicht die letzte verfügbare nehmen muss.

Warum fehlen geeignete Schulleiter? Ist die Position nicht attraktiv?

Es ist eine einsame Rolle. Ich bin bis vor einem Jahr der Vorgesetzte von 50 Personen gewesen. Das ist unheimlich anspruchsvoll. Jeder Einzelne hat Anliegen an seinen Chef, dazu kommt die Kommunikation mit den Eltern und der Schulbehörde. Kaum ein Schulleiter bewältigt seinen Job in einem Vollzeitpensum, viele unterrichten nebenher. Die Pensen sind oft zu knapp bemessen.

Was ist zu tun?

Die Ausbildung attraktiver zu machen, genügt nicht, respektive es ist der falsche Ansatz. Der Job des Schulleiters müsste attraktiver sein. Ein Faktor wäre dabei sicher, den Schulleitern für die anfallenden Aufgaben genügend Zeit zu verschaffen. Da ist die Politik gefordert.

Eveline Hartmann und Nik Niethammer vom Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi im Gespräch mit Thomas Minder (Mitte). Er weiss aus Erfahrung, wie einsam die Rolle des Schulleiters ist. Er fordert, den Job attraktiver zu machen.
Eveline Hartmann und Nik Niethammer vom Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi im Gespräch mit Thomas Minder (Mitte). Er weiss aus Erfahrung, wie einsam die Rolle des Schulleiters ist. Er fordert, den Job attraktiver zu machen.

Wie stehen Sie zu Quereinsteigern?

Natürlich wäre es einfacher, wenn eine Lehrperson, die das System kennt, zum Schulleiter wird. Doch wichtiger ist es, eine Person zu wählen, die eine Leidenschaft für Menschen hat. Es ist ein geflügeltes Wort, aber es ist so: Eine Lehrperson wie auch ein Schulleiter muss Menschen mögen, sonst ist man am falschen Ort. Es gibt Lehrpersonen, wenn auch wenige, die können nicht mit Menschen, die sind dummerweise im falschen Beruf gelandet. Als Schulleiter muss man dafür brennen, gute Situationen zu schaffen, mit den Menschen, die dort arbeiten, für die Kinder, die zu uns kommen.

Verstehen Sie Lehrpersonen, die Mühe mit Quereinsteigern haben? 

Natürlich. Sie meinen, der- oder diejenige habe kein Verständnis für ihre Situation, weil er oder sie das System nicht kennt. Ich selbst bin als Sekundarlehrer Schulleiter auf Kindergarten- und Primarstufe geworden. Mir ist man anfangs auch mit Skepsis begegnet.

Haben Sie Fehler gemacht?

Ja, ich glaube aber nicht zu gravierende. Für den Kindergarten habe ich einmal einen Fragebogen entworfen, auf dem die Schülerinnen und Schüler ankreuzen sollten: «trifft zu», «trifft manchmal zu», «trifft gar nicht zu». Die Kindergartenlehrperson hat mich darauf aufmerksam gemacht, dass die Kinder das noch gar nicht verstehen. Sie arbeite auf dieser Stufe mit Smileys. Als Quereinsteiger macht man vielleicht zwei bis drei Anfängerfehler, doch wenn man selbst grossmütig ist und sein Umfeld einem grossmütig begegnet, schafft man das miteinander.

Was werden die grossen Themen Ihrer Amtszeit als VSLCH-Präsident sein? 

Zum einen habe ich es mir zum Ziel gesetzt, eine bessere Vernetzung der einzelnen kantonalen Schulleiterverbände voranzutreiben. Zum anderen will ich Tools, wie Positionspapiere oder ein Kommunikationskonzept, zur Unterstützung der kantonalen Bildungsarbeit erarbeiten. Darüber hinaus möchte ich den Schulleiterdachverband und seine Arbeit bekannter machen. Unserem Land fehlt eine Vorstellung davon, wie Schule in Zukunft aussehen soll. Dahingehend möchte ich Einfluss nehmen auf die politischen Verantwortlichen und Verbände.

Wie stellen Sie sich die Schule der Zukunft vor?

In meiner Vorstellung wird das perfekte Schulzimmer eine Mischung aus Wohnzimmer, Werkraum und Küche – ein Ort, wo man an einem grossen Tisch zusammenkommt und gemeinsam produktiv wird.

Dann sind Sie ein Befürworter von jahrgangsübergreifenden Klassen und individualisiertem Unterricht?

Schule wird sich dahingehend verändern. Davon bin ich überzeugt. Das preussisch geprägte Schulsystem, der Lehrer als Autoritätsperson vorne an der Tafel, der seinen Schülern Wissen eintrichtert, ist passé.

Diese Vorstellung überfordert einige Lehrpersonen.

Und ich kann diese Kollegen auch verstehen. Aber es geht nicht darum, jedem einzelnen Schüler, jeder einzelnen Schülerin sofort ein passendes Programm zu bieten, sondern vielmehr darum, zuzulassen, dass die Kinder und Jugendlichen selbst etwas kreieren. Manche Kinder werden das sehr gut und eigenverantwortlich leisten können, andere werden dabei stärker begleitet werden müssen. Und dafür braucht es gute Lehrpersonen, sie sich als Motivator beziehungsweise Coach verstehen sollten. Die Zeiten, in denen die Kinder aufgestanden und strammgestanden sind, weil die Lehrperson die Klasse betreten hat, sind vorbei. Heute geht es um den persönlichen Kontakt zu jedem einzelnen Schüler, um Empathie und um Beziehung.

Thomas Minder ist überzeugt, dass sich die Schule zu jahrgangsübergreifenden Klassen und einem individualisierten Unterricht entwickeln wird.
Thomas Minder ist überzeugt, dass sich die Schule zu jahrgangsübergreifenden Klassen und einem individualisierten Unterricht entwickeln wird.

Aber es gibt vielleicht Kollegen, die können und wollen sich nicht mehr auf diese neue Situation einstellen.

Das ist richtig. Die Aufgabe einer Schulleitung wird auch sein, solche Kollegen anständig in die Pension zu begleiten. Ihre Art zu unterrichten ist ja auch nicht per se schlecht. Aber ich bevorzuge den persönlichen Kontakt zu den Schülern.

Gelingt es Ihnen immer, eine gute Beziehung zu Ihren Schülern aufzubauen?

Es ist stets mein Ziel. Aber ich hatte immer wieder Schülerinnen und Schüler, bei denen ich gedacht habe: Die brauchen eigentlich jemand anderen als mich. Wenn man ein System hätte, in dem Kinder frei wählen könnten, bei welchem Lehrer sie Unterricht haben, jemanden, der ihnen guttut, dann könnte man mit diesen Kindern auch anders arbeiten. Natürlich besteht unsere Aufgabe nicht ausschliesslich darin, Wünsche zu erfüllen. Eine gewisse Allgemeinbildung tut not. Aber im Grunde geht es darum, die individuellen Stärken der Kinder zu fördern.

Wenn sich Ihre drei Kinder etwas vom obersten Schulleiter der Schweiz wünschen könnten, was wäre das? 

Sie würden sich wünschen, die Unterstützung zu bekommen, um ihre eigenen Ideen umsetzen zu können. In den Kindern steckt so viel Kreativität, und wir schaffen es doch immer wieder, diese im Keim zu ersticken.


Mehr über die Entwicklung von Schulen:

  • Rituale als Helfer im Alltag. Die Schule wird für Kinder immer mehr zur Lebenswelt, die Strukturen sind komplexer geworden. Umso wichtiger sind stetig wiederkehrende Abläufe.