Schlaf! Kindlein! Schlaf!

Fotos: Gabi Vogt / 13 Photo
Mit zunehmendem Alter des Kindes verblassen die Augenringe der Eltern. Tage sind wieder Tage und Nächte sind wieder Nächte. Doch dann kommt ein Entwicklungssprung und das Schlaf-Problem geht von vorne los. Was tun, wenn die schlaflosen Nächte zurückkehren?
Schlafstörungen sind Alpträume für Eltern und Kinder, die beide immer wieder ereilt. Die Folge: Das Kind schläft im Elternbett. Die Eltern auf den Elternbettkanten, das Mantra aller übernächtigten Eltern flüsternd: «Es ist eine Phase. Nur eine Phase.»
Doch bei manchen Kindern dauert diese Phase lange, sehr lange. Bei Sina zum Beispiel. Die Neunjährige schlief, so erinnert sich ihre Mutter Doris, von Geburt an tagsüber praktisch nie und nachts auch nicht. Zehnmal zwischen 22 Uhr abends und 6 Uhr morgens hiess es für Mama: Alarm! Nach einem Jahr wurden die Abstände grösser. Aber noch heute braucht die Tochter ab und zu die Nähe ihrer Eltern.
Diese über Jahre ertragenen zerstückelten Nächte blieben nicht ohne Folgen. «Mein Schlaf ist nicht mehr der, der er einmal war. Wache ich in der Nacht auf, kann ich nur schwer wieder einschlafen», erklärt Sinas Mutter.
Es gibt kein sogenannt normales Schlafverhalten, sagt der Schlafforscher.
Erklärungen, warum Schlaf zwingend notwendig ist, gibt es viele. Schlaf diene der körperlichen Erholung, der Gedächtnisbildung, dem Lernen und weil unsere Sinnesfunktionen nachts sowieso eingeschränkt sind. Ein populärwissenschaftlicher Ansatz, der seinen Beweis jedoch schuldig bleibt, ist derjenige nach der Gehirnentwicklung.

Warum Schlaf und Gehirnreife zusammenhängen
Jedes Kind braucht also eine individuelle Zahl von Schlafstunden. Diese im Rahmen der jeweiligen Lebensund Entwicklungsphase zu erkennen vermögen: Darin liegt die wahre Herausforderung eines Elternlebens. Wie viel Schlaf braucht mein Kind? Wie viel ist normal? Und ab wann ist etwas nicht mehr normal?
Eine tröstliche Antwort für die Eltern hat der Entwicklungspädiater Peter Hunkeler vom Schlafzentrum des Kinderspitals in Zürich zur Hand. Er sagt nämlich: «Es gibt kein sogenannt normales Schlafverhalten.» Bei gleichaltrigen Kindern könne die Differenz bis zu 6 Stunden ausmachen. Kenntnisse der normalen Entwicklung des kindlichen Schlafs seien für Eltern aber hilfreich, damit sie das Schlafverhalten ihres Kindes besser verstünden, sagt der Kinderarzt.
«Kinder sind nicht einfach kleine Erwachsene, die etwas länger schlafen, sich aber sonst im Schlafverhalten von dem der Erwachsenen nicht unterscheiden», so Hunkeler. Kinder schliefen anders. Sie müssen das Schlafen und vor allem das Durchschlafen erst erlernen: Die Schlafstruktur widerspiegelt immer den Reifungsprozess des Gehirns.
Geheimnisvoller Schlaf
Der Schlaf selbst besteht zu einem Grossteil aus leichtem Traumschlaf und nur zu einem kleinen Teil aus Tiefschlaf. Nach der Tiefschlafphase tauchen wir nach ungefähr 60 Minuten auf, um am Ende des Zyklus für etwa 20 Minuten einen leichteren Traumschlaf zu durchleben, den sogenannten REM-Schlaf (Rapid Eye Movement). Dabei bewegen sich die Augen in dieser Phase schnell. Das Gehirn ist dann ähnlich aktiv wie im Wachzustand, wir zucken im Schlaf, atmen unregelmässig und sind leichter weckbar. Der REM-Schlaf wird anschliessend wieder vom Tiefschlaf abgelöst. Je näher der Morgen rückt, desto kürzer dauert der Tiefschlaf.
20 bis 30 Prozent aller Kinder unter 6 Jahren haben Schlafstörungen.
Je älter ein Kind wird, desto mehr lernt es schlaftechnisch dazu. Die Unterschiedlichkeit von Tag und Nacht etwa, dass tagsüber Leben herrscht und nachts Ruhe. Allerdings ist auch hier individuell, wie sich das Gehirn entwickelt.
Mit 24 Jahren, bei abgeschlossener Gehirnreifung also, dauert ein Schlafzyklus etwa 90 Minuten. Dabei wechseln sich leichtere Phasen mit Traumschlaf mit solchen mit festerem Tiefschaf ab. Dann beginnt ein neuer Zyklus. Schlafen wir ein, sinken wir zu Beginn der Nacht ziemlich schnell in eine tiefe Ruhe, aus der wir nur schwer zu wecken sind: Die Muskeln sind entspannt, und die Frequenz der Gehirnströme nimmt ab, je tiefer wir schlafen.

Nächtliche Karawanen sind total normal
Es gibt viele Gründe, warum ein Kind nachts aufwacht (obwohl es möglicherweise zuvor immer tief durchgeschlafen hat). «Nur in den seltensten Fällen steckt eine Entwicklungsstörung dahinter», sagt Kinderarzt Peter Hunkeler. Zahlen beweisen es.
Schlafstörungen kennen fast alle Kinder. 20 bis 30 Prozent aller Kinder unter 6 Jahren haben Einschlaf- oder Durchschlafstörungen. 10 Prozent der Kinder zwischen 6 und 12 Jahren und 15 bis 20 Prozent der Jugendlichen klagen über Schwierigkeiten, einzuschlafen, oder über nächtliche Wachphasen.
Gewiss, die Aussage des Mediziners beruhigt. Dennoch: Ein Kind, das regelmässig in der Nacht angetapst kommt und später hartknochig und schnaufend im Elternbett liegt, kann gehörig nerven. Schlafmangel lässt bekanntlich auch die liebevollsten Eltern zu Zombies werden – Entwicklungsphase hin, Mantra her.
Denn: Ein Kind kann nur so viel schlafen, wie es seinem persönlichen Bedarf entspricht. Muss es mehr Zeit im Bett verbringen, kommt es je nach Alter des Kinds zu Einschlaf- oder Durchschlafstörungen.
Im Schlaf auftretende Störungen
Zu den Aufwachstörungen gehört der Pavor nocturnus, der sogenannte Nachtschreck im Kleinkindalter und das Schlafwandeln im Schulalter. Der Nachtschreck tritt bei etwa 5 Prozent aller Kinder auf, beginnt meist mit 2 bis 3 Jahren und erreicht eine Häufung um 6 bis 7 Jahren. Beim Nachtschreck ist das Kind ausser sich, es schreit, schwitzt; es ist nicht ansprechbar und kann auch nicht geweckt werden. Nach fünf Minuten ist die Episode vorbei, das Kind schläft sofort wieder ein und erinnert sich am Morgen danach auch nicht mehr daran.
Beim Schlafwandeln sind die Kinder ruhig, stehen aber plötzlich auf und gehen herum. Sie können dabei Türen und sogar Fenster öffnen. In beiden Fällen raten Kinderärzte Eltern, beim Kind zu sein, es aber nicht zu wecken, sondern es vor Verletzungen oder ungesicherten Türen zu schützen.
Auch Angstträume sind sogenannte Aufwachstörungen. Sie treten in der zweiten Nachthälfte und im REM-Schlaf auf. Das Kind ist wach, weint oder schreit und ruft nach den Eltern, weil es getröstet werden will. Auslöser ist ein Angsttraum, an den sich das Kind auch erinnert.
Auch die neunjährige Sina kennt sie. «Wenn ich böse Träume habe, träume ich von Räubern oder Einbrechern», erzählt sie. Dann geht sie zu Mama und Papa ins Bett. Dort ist dann alles gut.
Schlafstörungen mit organischer Ursache
Begleiterscheinungen können Tagesmüdigkeit oder Hyperaktivität sein. Die Atempausen können zu Sauerstoffmangel mit Auswirkungen auf das Gehirn und das Herz führen. Die Diagnose zur OSAS erfolgt deshalb im Schlaflabor durch eine apparative Überwachung.
Eine andere sehr seltene Erkrankung – nur 0,1 Prozent der Bevölkerung ist davon betroffen – ist die Narkolepsie. Narkoleptische Kinder können beim Sprechen, Essen oder sogar auf dem Fahrrad plötzlich einschlafen.
Die Dauer solcher Schlafattacken reicht von wenigen Sekunden bis zu einer halben Stunde. Im frühen Stadium der Narkolepsie haben Kinder oftmals enorme Schwierigkeiten, morgens aus dem Bett zu kommen. Kurz nach dem Aufstehen sind sie verwirrt, aggressiv und werden leicht ausfallend.

Tagesmüdigkeit kann viele Ursachen haben, beispielsweise eine inadäquate Schlafhygiene, neurologische und psychiatrische Störungen, schlafbezogene Atmungsstörungen oder auch die Einnahme bestimmter Medikamente. Bekommt das Kind nicht genug erholsamen Schlaf, können Stimmungsschwankungen, Aufmerksamkeits- und Gedächtnisstörungen sowie eine Beeinträchtigung komplexer und kreativer Denkvorgänge resultieren.
Besonders Teenager kennen das verzögerte Schlafphasensyndrom. Sie klagen darüber, dass sie erst kurz vor Mitternacht einschlafen können und grosse Mühe haben, rechtzeitig zur Schule aufzustehen. Dadurch ergeben sich auch für die Eltern Probleme, die sich oft darüber beschweren, dass sie ihr Kind jeden Morgen regelrecht aus dem Bett zerren müssen. Dieses Syndrom muss nicht bedenklich sein.
Für Eltern ist wichtig zu wissen, dass das schlafinduzierende Melatonin bei Jugendlichen später ausgeschüttet wird als bei Kindern vor der Pubertät. Deshalb können Teenager erst gegen 22 Uhr oder später einschlafen. «Bei vielen Teenagern wirkt eine Radikalkur über ein oder zwei Wochen», sagt Peter Hunkeler.
Während dieser sogenannten Schlafrestriktion schläft der Teenager so wenig, dass er beispielsweise am Freitagabend so müde ist, dass er von selbst einschläft, meist vor Mitternacht. Am Sonntag sollte er dann zu der an Schultagen üblichen Zeit aufstehen respektive geweckt werden. Aber auch hier gelte es, so Hunkeler, die Variabilität der Schlafdauer zu beachten. Ein 16-Jähriger benötigt zwischen 6,5 und 9,5 Stunden Schlaf pro Nacht. Ein Kurzschläfer also kann dann nicht um 22 Uhr ins Bett geschickt werden, weil er sonst zu allzu früher Stunde erwacht.
Die meisten Schlafstörungen lassen sich erfolgreich therapieren.

Lerche oder Eule?
Er kann einfach nicht anders – und findet das auch nicht schlimm: «Dann habe ich doch viel mehr vom Tag», sagt er. Er würde zwar gerne einmal am Morgen länger schlafen, weil das seine Kollegen auch tun, gesteht er. «Doch das ist nicht so einfach.»
Seine Schulkollegin Lisa und auch deren kleine Schwester Sina sind das pure Gegenteil. Beide machen gern die Nacht zum Tag. Sogar die Siebenjährige geht selten vor halb zehn ins Bett, erzählt ihre Mutter Brigitte. «Sie ist eine totale Nachtrakete.» Ein Kind beispielsweise, das erst gegen den späteren Abend müde wird, sollte nicht bereits um 19 Uhr ins Bett gelegt werden, stellt auch eine neue Studie des Kinderspitals Zürich zur Schlafphysiologie fest.
Überhaupt hätte sie Kinder, die sich rein gar nichts aus Schlaf machen würden. «Nach fast elf Jahren habe ich mich daran gewöhnt», meint Brigitte lakonisch. Besonders schlimm war aber der Satz: «Was? Dein Kind schläft immer noch nicht durch?» Damit könne man eine Mutter so richtig fertigmachen.
Das unterschreibt auch Kinderarzt Peter Hunkeler. In Zeiten, in denen schon Kleinkinder immer mehr normiert werden, in dem sie sich in eine ganz bestimmte Richtung entwickeln sollen, gewinnt die Schlafentwicklung noch mehr an Bedeutung. «Die gesellschaftliche Erwartung, dass ein Kind spätestens mit sechs Monaten alleine und durchschlafen sollte, setzt viele Eltern unter grossen Druck», erzählt er.

Denn der hemmungslose Drang zum (meist weiblichen) Kräftemessen mit dem heranwachsenden Kind hört ja bekanntlich auch nicht auf, wenn das Kind 1,90 Meter gross ist und türbreite Schultern hat.
Tipps gegen Schlafprobleme für Kinder zwischen 6 und 12 Jahren
Tipps für Jugendliche (Schlafhygiene)
- Verzichte auf Nikotin und geh erst zu Bett, wenn du dich müde fühlst.
- Körperliche Anstrengungen, Mahlzeiten und Koffeinkonsum sollten zwei Stunden vor dem Zubettgehen vermieden werden, weil sie das Einschlafen erschweren können.
- Widme dich vor dem Schlafengehen einer ruhigen Tätigkeit und verzichte auf Radio, Fernsehen, Computer und Telefon.
- Im Schlafzimmer sollte es nachts dunkel sein; auf der Toilette nur gedämpftes Licht verwenden.
- Versuche, immer zur gleichen Zeit aufzustehen – auch am Wochenende.