«In Mathe aufzuholen, ist schwierig»
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Peter Geering, emeritierter Professor für Mathematikdidaktik, unterrichtete angehende Lehrfachkräfte darin, Kinder in der Mathematik zu unterstützen. Er sagt, dass Erfolge die Freude an Mathe fördern und die Kinder vor allem eines brauchen: mehr Zeit.
Herr Geering, Sie waren Lehrer für Mathematik und Mathematikdidaktik. Welche Erfahrungen prägten Sie besonders?
Am Lehrerseminar erlebte ich viele Schülerinnen und Schüler, die eher Mühe hatten mit Mathematik – eine Mühe, die manche Kinder bereits in der Primarschule bekunden. Sie können im Mathematikunterricht nicht mehr folgen, verlieren das Interesse, das Selbstvertrauen und können eine Abneigung gegen das Fach entwickeln. Das veranlasste mich, meine Herangehensweise zu ändern. Ich wollte meinen Schülerinnen und Schülern positive Erlebnisse in der Mathematik vermitteln, statt sie auf ein mathematisch-naturwissenschaftliches Studium vorzubereiten.
Was sind mögliche Auslöser für die Abneigung von Schülerinnen und Schülern gegenüber der Mathematik?
Von der ersten Klasse an haben viele Kinder zu wenig Zeit. Das Lerntempo ist durch die Lehrmittel vorgeschrieben. Ende Jahr muss die Lehrperson mit dem vorgesehenen Stoff durch sein, denn es geht gleich weiter. Einige Kinder brauchen aber länger für gewisse Lernschritte. Ihnen fehlt die Zeit, um diese genügend zu verarbeiten. In der Folge bricht bei diesen Kindern die Entwicklung in diesem Fach ab. Sie tun nur noch, was der Lehrer sagt, ohne wirklich zu verstehen, was sie tun. Das macht Angst. Die Angst wird durch Prüfungssituationen verstärkt. Die Kinder wissen, dass sie nicht alles können, was von ihnen verlangt wird. Der Druck steigt, denn wer schlecht ist in Mathematik, der hat erschwerten Zugang zu weiterführenden Schulen: Mathematik ist ein bequemes Selektionsfach.
Resignieren Kinder, die nicht mithalten können?
Sie entwickeln Überlebensstrategien. Sie begründen zum Beispiel ihr Versagen mit ihrer Veranlagung: «Ich bin halt nicht begabt» oder «Meine Mutter war ja auch schlecht im Rechnen». Diese Einstellung ist natürlich kontraproduktiv. Sie versuchen nicht anzuecken, mogeln sich mit Tricks und auf Umwegen durch den Unterricht. Sie leisten möglichst das Minimum, lernen alles auswendig. So wird Mathematik zum unverstandenen Regelspiel. Das Problem ist: Wer Unverstandenes auswendig lernt, hat in der Mathematik kein Fundament für schwierigere Inhalte.
Wie können Lehrerinnen und Lehrer das Verständnis der Kinder fördern?
Ich sehe die primäre Aufgabe der Lehrperson darin, dem Kind zu zeigen, dass es etwas kann, und nicht auf Fehlern herumzureiten. An gewissen Schulen werden ausserdem noch Rechenverfahren instruiert, die undurchsichtig und schlecht erklärbar sind. Die abgekürzten Verfahren stammen aus einer Zeit, in der es darum ging, möglichst wenig aufzuschreiben. Das Verrückte ist: Man passt das Verfahren nicht den Kindern an, sondern das Kind den Verfahren.
Haben Sie ein Beispiel für ein solches Rechenverfahren?
Zum Beispiel die schriftliche Multiplikation: Mit einer Zeile mehr ist für die Lehrperson ersichtlich, wenn etwas nicht stimmt. Auch für das Kind ist es wichtig zu sehen, wo es sich verrechnet hat. Schreibt es einen Text, braucht es eigene Wörter und kann damit eine Vielzahl von richtigen Sätzen schreiben. In der Mathematik gibt es aber nur eine richtige Lösung. Darum müssen wir Fehler sichtbar machen.
Erachten Sie die heutigen Lehrmittel als Verständnis fördernd?
Sie fördern das Verständnis, indem sie an den Alltag anknüpfen. Nur ist es nicht immer der Alltag des Kindes. Wir gaben Erstklässlern mal ein Buch mit fünfundzwanzig leeren Seiten. Sie durften auf jeder Seite etwas schreiben oder zeichnen, was zur Seitenzahl passte. Das war eine Welt für sich, die da zum Vorschein kam. Wir sollten die Kinder und ihren Alltag mehr in den Unterricht einbeziehen. Das ist aber zeitintensiv. Vieles scheitert am Zusatzaufwand. Ausserdem braucht es einen starken Rücken, um als Lehrer vom Jahresplan des Lehrmittels abzuweichen. Da kommen Ansprüche von Eltern, Kollegen und Schulleitern.
Stimmt es, dass Sie selbst einmal zum Direktor zitiert wurden?
Ja. Ich führte ein, dass Schülerinnen und Schüler bei einer ungenügenden Testnote in ihrer Freizeit eine Wiederholungsprüfung schreiben konnten. Plötzlich interessierten sie sich dafür, was sie falsch gemacht hatten. Gemeinsam schauten wir ihre Schwierigkeiten an. Sie verbesserten sich und ich konnte Verantwortung abgeben. Der Direktor sagte, so könne ich das nicht machen. Sein Argument: Das macht niemand so. Pädagogisch begründen konnte er es nicht. Also machte ich es trotzdem.
Zusammen mit ihrem Kollegen Werner Fessler entwickelten Sie den «Atlas Mathematik». Verfolgt dieses Lehrmittel eine ähnliche Ideologie?
Im «Atlas Mathematik» ist der Unterricht zyklisch aufgebaut. Jedes Schuljahr beginnt von vorne. Wer Mathematik gut versteht, arbeitet sich rasch zu neuen und schwierigeren Aufgaben durch, wer noch Lücken hat, wiederholt denselben Stoff so lange, bis er ihn versteht. Die Lehrperson sieht, auf welchem Stand die einzelnen Schüler sind. Der Vorteil dieses Lehrmittels ist, dass auch ein Kind mit Lernschwierigkeiten auf einem zu ihm passenden Niveau arbeiten und etwas erreichen kann. Würde das Kind nach der ersten Klasse abhängen, nähme es nichts mit bis auf das Gefühl: Ich kann es nicht.
Ab wann raten Sie zur Abklärung einer Dyskalkulie?
Ich zögere mit einer Antwort. Dass nur im Rechnen Probleme vorliegen, kann ich mir nicht vorstellen. Was ein Kind vor allem braucht, ist Zeit. Kommt es zu einer Förderlehrperson, bearbeitet diese zusätzlichen Stoff, damit das Kind irgendwann wieder Anschluss in der Regelklasse findet. Nur: Das zu langsame Kind wird gestossen, bis es dem Zug, dem es hinterherrennt, in die Nähe kommt. Wieder aufzusteigen, ist meiner Erfahrung nach schwierig. Gelöst werden könnte dieses Problem eben mit dem zyklischen Unterricht. Aber das widerspricht dem Lehrmittel. Eine Reform ist nicht absehbar.
Welche Reform erlebten Sie bisher als die beste?
Dass die Mengenlehre abgeschafft wurde. Sie ist klar und einleuchtend, aber zu abstrakt. Kinder müssen eine Entwicklung von Beginn weg durchlaufen, bis sie die Abstraktion selbst verstehen. Aber wie gesagt: Dafür brauchen sie mehr Zeit.
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