Null Bock auf Mathe
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Null Bock auf Mathe

Lesedauer: 13 Minuten

Kaum ein anderes Fach löst so viel Unmut aus wie Mathematik. Viele Kinder erleben sie als schwierig, manchen macht sie Angst. Sie verlieren das Interesse und das Selbstvertrauen. Warum? Und wie finden Kinder Freude an Mathe?

Text: Sarah King
Bilder: Marion Bernet

Ein Zehntel geht. Ein Hundertstel auch. Aber ein Tausendstel? «Das kann ich», sagt Iman. Mit Bedacht klaubt die 11-Jährige mit dem Fingernagel ein Teilchen Knetmasse von einem Hundertstel, den sie zuvor einem Zehntel entnommen hatte. Und dann noch eines und noch eines, bis zehn winzige Teilchen vor ihr liegen. «Geschafft», sagt sie.

Stolz lächelt Iman ihre Förderlehrerin an. Noch vor fünf Jahren hätte niemand gedacht, dass sie einmal mit Freude Bruchrechnen lernt. Im Kindergarten versteckte sie das Lernmaterial zuhinterst im Schrank. In der ersten Klasse wusste sie während der Mathestunde nicht, was tun. Ihr wurde langweilig, dann angst und bange. Sie war sicher: Mathematik ist schwierig. Und mit dieser Überzeugung ist sie bei Weitem nicht allein.

Ein Teufelskreis: Steigt die Angst vor Mathe, sinkt die Leistung, was wiederum die Angst verstärkt.

Laut der Pisa-Studie 2012 denkt mehr als die Hälfte der 15-jährigen Schülerinnen und Schüler, dass der Mathematikunterricht schwierig sei für sie. Anspannung, Hilflosigkeit und Angst vor schlechten Noten sind Begleiterscheinungen dieser Besorgnis. Bei einigen dieser Kinder entwächst daraus eine Angst vor Mathematik. Sie erleben Furcht, Verzweiflung, Handlungsunfähigkeit und Konzentrationsstörungen in Situationen, die mit Mathematik zu tun haben.

Die Angst kann schon in den ersten Schuljahren auftreten und sich über die Jahre verstärken. Kinder mit einer Lernstörung im Bereich Mathematik sind besonders betroffen. Sie können in einen Teufelskreis geraten: Steigt die Angst, sinkt die Leistung, was wiederum die Angst verstärkt.

Mathe ist dennoch beliebt

Mathematik wird in der er­wähnten Studie zwar von vielen als schwierig empfunden, aber offensichtlich schmälert dies nicht die Leistung. Schweizer Schülerinnen und Schüler schneiden im Ländervergleich gut ab. Angst und Schwierigkeiten führen also nicht zwingend zu schlechten Leistungen.

Umgekehrt haben auch nicht alle leistungsschwachen Kinder Angst vor diesem Fach. Einigen bereitet es sogar ­Freude, wie eine Studie von Elisabeth Moser Opitz zeigt. Um zu überprüfen, inwiefern gute Leistungen mit der Beliebtheit des Fachs zusammenhängen, verglich die Profes­sorin für Sonderpädagogik, Bildung und Integration (SBI) an der Universität Zürich die Einstellung gegenüber der Mathematik von Kindern mit unterschiedlichen mathematischen Leistungen. Die Erkenntnis: Auch bei einem grossen Teil der Kinder mit schlechten Mathematikleistungen ist das Fach beliebt. Die Begründungen der Kinder dafür sind vielfältig: die Lust mit den Zahlen zu spielen oder die Relevanz für den späteren Beruf zum Beispiel.

Die widersprüchlichen Erkenntnisse – die Beliebtheit des Fachs oder die gute Leistung in den Pisa-Studien einerseits und der Ruf des Fachs als schwierig andererseits – werfen Fragen auf. Warum erleben so viele Kinder die Mathematik als schwierig oder haben Angst vor ihr? Wie schaffen es leistungsschwächere Kinder, ihre Freude an diesem Fach zu bewahren? Und wie können Eltern und Lehrpersonen diese Freude fördern?

Einheitliche Antworten gibt es nicht. In den Worten von ­Elisabeth Moser Opitz: «Die Zusammenhänge sind komplex.» Verschiedene Faktoren spielen eine Rolle, ob ein Kind Mathematik mag oder nicht: das Thema, die Beziehung zur Lehrperson, die Unterrichtsform oder die Erfahrungen beim Mathematik­lernen, um nur einige zu nennen.

«Mathe braucht es überall», hat Lian, 8, aus dem Berner Seeland festgestellt. Lesen Sie hier seine Erzählung: «Kann dich die Mathematik fressen?»
«Mathe braucht es überall», hat Lian, 8, aus dem Berner Seeland festgestellt. Lesen Sie hier seine Erzählung: «Kann dich die Mathematik fressen?»

Ob nun Interesse an Mathematik vorhanden ist oder nicht, wir leben von Anfang an mit und in ihr, weiss Imans Förderlehrerin Lis ­Reusser. Sie ist Heilpädagogin und Dozentin am Institut für Heilpädagogik in Bern und bietet nebenbei vereinzelt Privatlektionen für Schülerinnen und Schüler mit Schwierigkeiten in der Mathematik an.

«Der Zahlensinn ist angeboren», sagt sie. «Schon nach der Geburt realisieren Babys, wenn sich eine Menge verändert.» Vielleicht fokussieren sie dabei nicht auf die Anzahl, sondern auf die Ausdehnung. Drei Puppen brauchen mehr Platz als zwei. Mit der Sprachentwicklung beginnen Kinder, Zahlwörter zu brauchen, sofern ihr Umfeld auch solche benutzt. Diese werden sozial vermittelt. Im Kleinkindalter verstehen Kinder deren Bedeutung noch nicht. Sie verwenden sie trotzdem, indem sie das Zählen imitieren: «Eins, vier, sieben, sieben.» 

Mathematik ist hierarchisch aufgebaut und wird immer komplexer. Daher müssen die Grundlagen sitzen.

Später lernen sie verstehen, dass die Zahlen beim Zählen eine be­stimmte Reihenfolge haben und dass man nicht immer wieder von vorne beginnen muss, sondern unterwegs einsetzen kann. Sie er­kennen ausserdem, dass jedes ­dieser Zahlwörter ein einzelnes Wort ist. Man kann eine bestimmte Anzahl Schritte weiterzählen. Diese Fähigkeiten sollte ein Kind bei der Einschulung mitbringen. Die letzte Stufe der Zählentwicklung umfasst das Benennen von Nachbarzahlen und das Zählen in Schritten. «Diese Stufe der Zählentwicklung erreichen Kinder mit einer Rechenstörung zum Teil nicht», sagt Lis Reusser.

Wir kommen also früh mit Mathematik in Berührung. Und doch löst sie oft Berührungsängste und Verständnisschwierigkeiten aus. Ein Grund liegt im hierarchischen Aufbau der Mathematik. Versteht ein Kind im Deutschunterricht den Unterschied zwischen Dativ und Akkusativ nicht, kann es trotzdem einen Aufsatz über die letzten Sommerferien schreiben. In der Mathematik baut das Wissen aufeinander auf, die Anforderungen werden komplexer, entsprechend müssen die Grundlagen sitzen. «Wer das dezimale Stellenwertsystem nicht versteht, hat keine Chance in der Arithmetik voranzukommen», sagt Elisabeth Moser Opitz.

Bauchschmerzen und Schreikrämpfe

Iman weiss, wie es sich anfühlt, nicht voranzukommen. «In der ersten Klasse verstand ich Mathe nicht. Ich hockte da und wusste nicht, was tun. Vielleicht fragte ich die Lehrerin. Vielleicht nicht. Sie war streng.» Streng erlebte diese Zeit auch Imans Mutter Mirka. «Nach drei Wochen erkannte die Lehrerin, dass Iman nicht auf demselben Wissensstand ist wie die anderen Kinder. Nach fünf Wochen stand fest, dass sie die erste Klasse wiederholen soll. Mir ging das zu schnell.»

Iman erhielt Unterstützung von einer Heilpädagogin, die Mitschüler wurden informiert. Sie schämte sich. Ihre Blockaden waren so gross, dass sie Fragen und Kommentare der Lehrerin fürchtete. Dann kamen die Bauchschmerzen, frühmorgendliche Schreikrämpfe, wenn Mathe auf dem Stundenplan stand, schliesslich nach der Schulverweigerung der Schulwechsel.

«Ausser in der Mathematik kann ich mir Dinge gut merken», sagt Samuel, 14, aus Schüpfen BE. Lesen Sie hier seine Erzählung: «Manchmal sass ich einfach da und wartete»
«Ausser in der Mathematik kann ich mir Dinge gut merken», sagt Samuel, 14, aus Schüpfen BE. Lesen Sie hier seine Erzählung: «Manchmal sass ich einfach da und wartete»

So kann sich also «nicht vorankommen» anfühlen. Nicht wissen, wo das Denken ansetzen soll, erstarren und sich von dieser hartnäckigen Gewissheit gefangen nehmen lassen: «Ich bin blöd.» Davon war Iman als 6-Jährige überzeugt. Auch der 14-jährige Samuel aus Schüpfen fühlte sich blöd, vor allem, wenn er den Lehrer alle fünf Minuten um Hilfe bitten musste. Aber für Samuel war klar, was ihn in diese missliche Lage geführt hatte: die fehlende Zeit. Alles ging ihm zu schnell.

Einer, der die fehlende Zeit als Hauptursache für die Schwierigkeiten der Kinder mit Mathe sieht, ist Peter Geering, ehemaliger Professor für Fachdidaktik an der Pädagogischen Hochschule Zürich. Er kennt die Folgen des Zeitdrucks: fehlendes Verständnis, die Entwicklung bricht ab, Motivation und Interesse gehen verloren, und all das versuchen Kinder zu relativieren, indem sie eine schlüssige Erklärung suchen: Ich bin halt nicht begabt. «Das ist natürlich kontraproduktiv», sagt Geering.

Dass sich Kinder selbst die Schuld geben für ihren Misserfolg, beobachtete er mehr bei Mädchen als bei Jungen. Das Mädchen denkt «Ich kann es nicht», der Junge sagt «Die Aufgabe war zu schwer». Das ­entspricht auch den Beobachtungen von Stefanie Rietzler und Fabian Grolimund von der Akademie für Lerncoaching in Zürich. Sie sagen, der Haupt­unterschied zwischen den Geschlechtern bestehe nicht in der Leistung, sondern im Vertrauen in die eigenen mathematischen Fähigkeiten.

Aussagen wie «Ich habs nicht so mit Zahlen», «Logisches Denken liegt mir nicht» oder «Ich bin einfach zu blöd für Mathe» kämen oft aus der Reihe der Mädchen und Frauen. «Solche Gedanken wirken wie eine sich selbst erfüllende Prophezeiung. Wird einem zudem bewusst oder unbewusst immer wieder signalisiert, dass man für die Mathematik einfach nicht gemacht sei, ist die Entmutigung programmiert», sagt Stefanie Rietzler. Diese Haltung ist nicht angeboren. Studien zeigen, dass Eltern und Lehrpersonen zu negativen Haltungen gegenüber Mathe beitragen können, wenn sie selbst solche Haltungen hatten oder haben.

Als das Interesse kam, gingen Welten auf für mich.

Mirka, Mutter der 11-jährigen Iman

Diesem Thema begegnet Lis Reus­ser oft in ihrem Berufsalltag. Darum thematisiere sie in der Ausbildung auch den Genderaspekt. «Ich sensibilisiere die Studierenden für die noch immer vorherrschenden, aber nicht gerechtfertigten Stereotypen.» Ihre Studentinnen wie auch Mütter von Schulkindern hätten oft ein zwiespältiges Verhältnis zur Mathematik. Den Eltern zu raten, sie sollen ihre Mädchen mehr fördern oder eine andere Haltung einnehmen, funktioniere in der Regel nicht. «Die Emotionen sind stärker als der Kopf. Solange sie nicht ihrer eigenen Angst begegnen und andere Erfahrungen machen können, ändert sich nichts.»

Eltern ihrer Nachhilfeschüler rät sie dann, sich bei Bedarf selbst Unterstützung zu holen. So auch Imans Mutter Mirka. Diese erlebte Mathematik früher selbst als schwierig. «Ich war abgelenkt, erhielt keine Unterstützung, also verlor ich ab der 4. Klasse den Anschluss.» Sie dachte damals: «Ich kann es nicht.» Heute weiss sie: «Ich kann es. Mir fehlte einfach das Interesse. Als das Interesse kam, gingen Welten auf für mich.»

Mit beharrlicher Arbeit konnte die 11-jährige Iman ihre Mathe-Angst stark abbauen.
Mit beharrlicher Arbeit konnte die 11-jährige Iman ihre Mathe-Angst stark abbauen.

Dann stellt sich die Frage: Wie ­finden Kinder dieses Interesse an der Mathematik? Wichtig sei der Alltagsbezug, sagt Peter Geering. Aktiv-entdeckendes Lernen mit geeigneter Veranschaulichung ist inzwischen Bestandteil jedes ­konventionellen mathematischen Lehrbuchs. Der Alltagsbezug hilft, innere Bilder aufzubauen, was die abstrakte Zahlenwelt begreifbar macht. Aber: Lehrmittel knüpfen nicht immer an den Alltag der Kinder an.

Diese Erfahrung machte auch die 12-jährige Michelle aus Bern. Sie ist gut in Mathe, aber mit dem Arbeitsbuch zum Zahlenbuch ist sie nicht ganz zufrieden. Um mehr Spass daran zu haben, würde sie die Aufgaben anders stellen: Warum eine Zahl mit der anderen addieren und nicht gleich Pferde? «22’135 Pferde + 39’798 Pferde?» Damit schafft sie Bezug zu ihrem Alltag und ihrer Leidenschaft: den Tieren. Ausserdem wünscht sie sich, dass Lehrer mehr Spiele erfinden. So lerne sie leicht. «Spiele können den Lernfortschritt unterstützen», bestätigt Elisabeth Moser Opitz. «Aber nicht generell Spiele, sondern spezifisch mathematikhaltige Spiele. Das weiss man aus Untersuchungen im Kindergarten.»

Auf Spiele reagieren Kinder individuell. Iman zum Beispiel hat weniger Mühe, sich Zahlen vorzustellen, als sich beim Rechnen zu exponieren. «Manchmal gehen wir im Klassenzimmer herum. Die Lehrerin stellt Aufgaben: Etwas plus etwas, dann wieder minus. Wer die Lösung still für sich weiss, darf in die andere Ecke gehen.» Weil sie vor anderen nicht rechnen kann, hilft sie sich mit sozialen Mitteln: Sie schliesst sich ohne gerechnet zu haben der Freundin an, wenn ­diese die Ecke wechselt. Was ihr mehr helfe, sei Mut. «Meine Lehrerin lobt mich manchmal. Sie sagt, wenn ich etwas gut mache.»

Zeit, Haltung, Alltagsbezug, innere Bilder, Spiele, Lob – fehlt noch etwas Wesentliches, das der 8-jährige Lian aus dem Berner Seeland auf den Punkt bringt: Üben. Die Reihen lernen. Wenn man die gut könne, komme die Freude an der Mathematik schon noch.

Mathematik mit allen Sinnen

Üben setzt Verständnis voraus. Sind die Schwierigkeiten zu gross, um dieses im regulären Unterricht anzugehen, bieten sich Massnahmen wie heilpädagogische Unterstützung, Coaching oder Lern­therapie an. Mit individueller Betreuung wird möglich, was im regulären Klassenunterricht aus Zeitgründen kaum umsetzbar ist: Das Kind wird dort abgeholt, wo es steht, der Unterricht seinen individuellen Eigenschaften angepasst.

Samuel profitierte sehr von dieser Massnahme. Seine Lernziele wurden angepasst, er konnte nach seinem Tempo arbeiten und lernte mit seiner Heilpädagogin die Mathematik mit allen Sinnen kennen. Sie wurde lebendig für ihn. Seit er in der Oberstufe ist, arbeitet er nun mehrheitlich nach demselben Plan wie die Klasse. Er fühlt sich wohl. Die Klassenkameraden akzeptieren ihn, wie er ist. Und wie ist er? «Ich bin eine Loki, die anderen sind ein ICE», lacht er.

Lesen Sie auch das Interview mit Peter Geering: «In Mathe aufzuholen, ist schwierig». Er sagt, dass Erfolge die Freude an Mathe fördern und die Kinder vor allem eines brauchen: mehr Zeit. 
Lesen Sie auch das Interview mit Peter Geering: «In Mathe aufzuholen, ist schwierig». Er sagt, dass Erfolge die Freude an Mathe fördern und die Kinder vor allem eines brauchen: mehr Zeit. 

Iman liess sich auf Wunsch der Schule hin auf der Erziehungsberatung abklären. Sie erhielt die Diagnose «Rechenstörung», was einen Nachteilsausgleich erlaubt. Darauf wurde bei Iman verzichtet. Wie Samuel erhielt auch sie individuelle Lernziele und Unterstützung durch eine Heilpädagogin, aber nicht durchgehend. Die Anzahl heilpädagogischer Lektionen, die einer Schule zur Verfügung steht, ist beschränkt. Im Kanton Bern sind es in der Regel zwei bis drei Lektionen pro Woche und Klasse. Das reicht nicht immer für alle, die Unterstützung brauchen.

Individuelle Lernziele und Nachteilsausgleich: Wann und für wen?

Individuelle Lernziele werden festgelegt, wenn ein Kind die Menge und Komplexität des zu lernenden Stoffs nicht in der vorgesehenen Zeit bewältigen kann. Die Inhalte werden seinem Entwicklungsstand angepasst, was dem Kind wieder Erfolgserlebnisse ermöglicht. Eine Beurteilung durch eine Fachstelle ist nicht notwendig, ausser die Schwierigkeiten betreffen mehr als zwei Fächer. Es erfolgt ein Vermerk im Zeugnis. Der Vermerk entfällt, wenn die Reduktion wieder aufgehoben werden kann.

Beim Nachteilsausgleich wird der Nachteil, der durch eine Funktionsbeeinträchtigung oder Behinderung entstehen könnte, mit individuell festgelegten Massnahmen ausgeglichen, zum Beispiel mit dem Verwenden eines Taschenrechners oder mit mehr Zeit bei der Prüfung. Dabei werden die Lernziele wie im Lehrplan vorgesehen beibehalten und nur formal angepasst.
Eine Beurteilung durch eine Fachstelle und die Diagnose einer Rechenstörung sind Voraussetzung für einen Nachteilsausgleich. 83 solche Diagnosen gab es 2020 im Kanton Bern. Zum Vergleich: Die Lese- und Recht­schreibestörung wurde über 450 Mal diagnostiziert.

Ist der Nachteilsausgleich sinnvoll und gerecht?

Der Sinn eines Nachteilsausgleichs im Bereich der Mathematik sei umstritten, sagt Peter Sonderegger, Leiter der Abteilung Erziehungsberatung des Kantons Bern. Da die Lernziele beibehalten werden müssten, sei es schwierig, geeignete Massnahmen zu finden. Es komme aber darauf an, was geprüft werde. «Steht das Text­verständnis und nicht das Rechnen im Vordergrund, kann ein Taschenrechner sinnvoll sein.» Aber: Selbst dann muss das Kind verstehen, was es in den Taschenrechner eintippen muss.

Umstritten ist auch, wer die Diagnose erhält. Sie basiert im Kanton Bern auf einer Diskrepanzanalyse. Das Kind durchläuft einen IQ-Test sowie einen Mathetest. Ist die Abweichung zwischen den beiden Tests gross, spricht man von einer Rechenstörung. Das führt dazu, dass sehr intelligente Kinder mit leicht unterdurchschnittlicher Rechenleistung bereits die Bedingungen für einen Nachteilsausgleich erfüllen. Weniger intelligente Kinder mit einer kleineren Diskrepanz haben dagegen kein Recht auf einen Nachteilsausgleich. Bei einer Intelligenzminderung sind Massnahmen zum Nachteilsausgleich ausgeschlossen.

Darum suchte Imans Mutter eine eigene Lösung.Sie organisierte für ihre Tochter Einzelstunden bei Lis Reusser. Die wöchentlichen Stunden bezahlt die Mutter selbst. Auch andere Angebote wie Lerntherapien oder Lerncoachings bezahlen meist die Eltern, was die Frage aufwirft, was mit Kindern geschieht, deren Eltern nicht die finanziellen Mittel für diese Unterstützungsangebote haben. Ist Verständnis eine Frage des Geldes?

Eltern sollten nicht mit Kindern Mathe lernen

Tatsächlich zeigen Studien Zusammenhänge zwischen der Leistung in Mathematik und dem sozioökonomischen Status auf, zum Beispiel dass bei gleichen fachlichen Leistungen der Besuch eines höheren Schultyps schichtabhängig ist. Weiter zeigt eine Studie der Schweizerischen Koordinationsstelle für Bildungsforschung, dass in den Jahren 2011 und 2012 mehr als 34 Prozent der Schweizer Jugendlichen bezahlten Nachhilfeunterricht besuchten, am häufigsten im Fach Mathematik. Oft stammten die Kinder aus sozial privilegierten Elternhäusern.

Weniger privilegierte Kinder erhalten zum Teil vom Sozialdienst einen Zustupf, sofern die Familie beim Sozialdienst eingebunden ist. Diese Erfahrung macht die Sekundarschullehrerin und Lerntherapeutin Lisa Kühni in ihrer Praxis in Lyss. Doch auch bei ihr sind es in der Regel die Eltern, die bezahlen, und das oft über einen Zeitraum von mehreren Jahren hinweg. Aber die Erleichterung, die eine Therapie mit sich bringt, ist den Eltern das Geld wert. «Manche melden ihre Kinder bei mir an, weil sie das Lernen auslagern und den Druck in der Familie reduzieren möchten. Bei mir gibt es keinen Streit», sagt Lisa Kühni.

Michelle, 12, aus Bern, nervt das Kopfrechnen – sie erfindet lieber ein Mathe-Spiel. Lesen Sie hier ihre Erzählung: «Ein bisschen lustig ist Mathe schon, aber nicht ganz»
Michelle, 12, aus Bern, nervt das Kopfrechnen – sie erfindet lieber ein Mathe-Spiel. Lesen Sie hier ihre Erzählung: «Ein bisschen lustig ist Mathe schon, aber nicht ganz»

Fachleute raten Eltern davon ab, mit ihren Kindern Mathe zu lernen. Das führt in den meisten Fällen zu Streit, Verwirrung, und Anspannung, insbesondere, wenn das Kind Verständnislücken hat. Lernen unter Anspannung ist schwierig. Darum beginnt Lisa Kühni ihre Lerntherapiestunden mit dem Klären der Befindlichkeit, bevor sie mit den Kindern arbeitet. Sie prüft mittels Tests die mathematischen Fähigkeiten, so eruiert sie die Lücken ihrer Klienten. Bei diesen setzt sie an und schafft Verbindung zum aktuellen Stoff. Dabei ist ihr wichtig, dass das Kind seinen eigenen Lösungsweg findet und dabeibleibt.

Das Verständnis für Zahlen und Mengen fördert sie durch spezifische Aufgaben, Spiele und mit der Stärkung des Vorstellungsvermögens: Messen, wiegen und Distanzen einschätzen sind einige praktische Mittel in Lisa Kühnis Lerntherapie. Ob Schritte zählend unterwegs oder am Tisch sitzend – Lisa Kühni macht sich in der Therapie auf den Weg mit einem Menschen und seinen Schwierigkeiten. Sie teilt seine Freuden und Leiden. «Unsere Seilschaft ist ein Teil vom Erfolg, der Schulterschluss mit meinen Klienten die Basis der Lerntherapie.»

Im Moment bin ich gut drin. Manchmal kann ich sogar einer Schulkameradin helfen.

Iman, 11 Jahre

Iman und ihre Mutter brachte die Seilschaft mit Lis Reusser Erleichterung. Iman konnte ihre Angst stark abbauen. Sie arbeitet teilweise wieder nach dem regulären Lehrplan. Einen wesentlichen Teil dieses Erfolgs hat sie aber sich selbst zu verdanken. Mit ihrer Ausdauer und Offenheit für Unterstützung fand Iman einen eigenen Zugang zur Mathematik. Sie lernt verstehen. Auf eine sachte und geduldige Art, wie ihre winzigen selbst gekneteten Tausendstel verraten. Ihr Selbstvertrauen im Fach Mathematik ist gewachsen. «Im Moment bin ich gut drin. Manchmal kann ich sogar einer Schulkameradin helfen.» 

Nun hat sie Feierabend. Die Förderstunde ist um. Auf das Einmaleins-Spiel verzichtet sie. Damit die Autorin dieses Texts dennoch sieht, worum es geht, spielt sie anstelle von Iman mit. Lis Reusser stellt die Aufgaben. «3×6?» – «18.», «7×4?» – «28.»,«9×8?» – – – – – «57.»

«72», korrigiert Iman leise, während sie ihre Schulsachen zusammenpackt. 

Nein, Angst muss sie nicht haben vor Mathe. Da hat Lian recht: Die Mathematik frisst dich nicht.

Büchertipps und nützliche Links

Hans Magnus Enzensberger: Der Zahlenteufel. dtv 2014, 264 Seiten, ca. 18 Fr.  Wer Angst hat vor Mathematik, den belehrt der Zahlenteufel eines Besseren: Er bringt die graue Zahlenwelt zum Leuchten.Hans Magnus Enzensberger: Der Zahlenteufel. dtv 2014, 264 Seiten, ca. 20 Fr. Wer Angst hat vor Mathematik, den belehrt der Zahlenteufel eines Besseren: Er bringt die graue Zahlenwelt zum Leuchten.

 

 

 

 

Timo und Juliane Leuders: Mathe können. Ein Ratgeber für Eltern. Kallmeyer 2012, 192 Seiten, ca. 30 Fr.  Wollen Eltern ihr Kind unterstützen, hilft dieses Buch, sich das nötige Wissen wieder anzueignen. Ausserdem dient es als Nachschlagewerk für Schülerinnen und Schüler.Timo und Juliane Leuders: Mathe können. Ein Ratgeber für Eltern. Kallmeyer 2012, 192 Seiten, ca. 30 Fr. Wollen Eltern ihr Kind unterstützen, hilft dieses Buch, sich das nötige Wissen wieder anzueignen. Ausserdem dient es als Nachschlagewerk für Schülerinnen und Schüler.

 

 

 

Daniela Götze, Christoph Selter, Elena ­Zannetin: Das KIRA-Buch: ­Kinder ­rechnen anders. Verstehen und Fördern im ­Mathematikunterricht. Kallmeyer 2019, 168 Seiten, ca. 39 Fr.   Das Fachbuch zeigt typische Rechenwege und häufig beobachtete Fehler im Bereich der Arithmetik und bietet Tipps, wie Lehrpersonen das Lernen den Denkweisen der Lernenden anpassen können.Daniela Götze, Christoph Selter, Elena ­Zannetin: Das KIRA-Buch: ­Kinder ­rechnen anders. Verstehen und Fördern im ­Mathematikunterricht. Kallmeyer 2019, 168 Seiten, ca. 39 Fr. Das Fachbuch zeigt typische Rechenwege und häufig beobachtete Fehler im Bereich der Arithmetik und bietet Tipps, wie Lehrpersonen das Lernen den Denkweisen der Lernenden anpassen können.

 

 

Marion Mohnhaupt: Tinas Aha. Mathe lernen geht! Lass dein Gehirn mal machen! Visual Ink Publishing 2021, 56 Seiten, ca. 27 Fr. Tinas Aha ist eine faszinierende Geschichte mit wertvollem, aktuellem Wissen über unser Gehirn und Mathelernen für Kinder, aber ebenso für Erwachsene, die das Lernen von Kindern begleiten und prägen.Marion Mohnhaupt: Tinas Aha. Mathe lernen geht! Lass dein Gehirn mal machen! Visual Ink Publishing 2021, 56 Seiten, ca. 27 Fr. Tinas Aha ist eine faszinierende Geschichte mit wertvollem, aktuellem Wissen über unser Gehirn und Mathelernen für Kinder, aber ebenso für Erwachsene, die das Lernen von Kindern begleiten und prägen.

 

 

 

www.mit-kindern-lernen.ch
Fabian Grolimund und Stefanie Rietzler bieten eine abwechslungsreiche ­Website mit Lerntipps für Eltern von Primarschulkindern, für Jugendliche und für ­Lehrpersonen.
www.lernstudio.ch
Ob Tagesschule, Kurse, Nachhilfe oder Beratung: Das Lernstudio bietet Lernwilligen im Raum Zürich professionelle Unterstützung.
www.lerneleicht.ch 
Ein Angebot der in Lyss BE tätigen Lerntherapeutin Lisa Kühni für Kinder, Jugendliche und Erwachsene mit Lernschwierigkeiten.
www.atlasmathe.net 
Der «Atlas Mathematik» ist ein alternatives oder ergänzendes Mathematik-Lehrmittel, gestaltet von Peter Geering und Werner Fessler. Es entstand in Zusammenarbeit mit Lehrerinnen und Lehrern, Studierenden und Kindern.
danieljung.io
Online-Tutorials auf Youtube oder über eine App, Skripte und vieles mehr finden sich auf der Website des ­Mathehelfers und Bildungs­architekten Daniel Jung.

Sarah King
ist Journalistin und betreibt Gesprächsforschung. Ihr Fokus: Sprachbilder, Körperbilder, alles im und rund um den Menschen. Ihre Leidenschaften: Schreiben und Musik.

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