Die Essneurosen meiner Familie, Teil 2 - Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
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Die Essneurosen meiner Familie, Teil 2

Lesedauer: 2 Minuten

Mikael Krogerus schreibt über seine wilden Corona-Träume. 

Haben Sie auch so merkwürdige Träume im Corona-Lockdown?

Letzte Nacht träumte ich, dass wir blutüberströmt vor dem Notfall stünden, aber nicht reindurften, weil wir keine Atemschutzmasken trugen. Zwei Nächte zuvor hatte ich einen meiner über die Jahre wiederkehrenden Albträume: Alle unsere Familienmitglieder waren zu Besuch, und ich hatte vergessen einzukaufen. Ich erwachte ruckartig, stützte mich auf meine Ellenbogen und wischte mir übers schweissnasse Gesicht. Dann fiel mir ein, dass ja gerade Lockdown war. Erleichtert legte ich mich wieder hin.

Es ist ein Albtraum, aber auch eine meiner liebsten Fantasien: Ein grosser Tisch, um den herum meine Familie sitzt und redet und isst und trinkt, und ich, ich stehe in der Küche und koche. Wir sind ja sehr viele, weil sowohl die Eltern meiner Frau als auch meine geschieden und neu liiert sind. Dann sind da Geschwister und Cousinen, Schwager und Schwägerinnen. Es wären also einige. Und wir sind ziemlich gut verteilt in Europa; Helsinki, Göteborg, Biel, Lübeck und so weiter. Die Vorstellung, sie alle an einen Tisch zu bringen, wäre allein schon ein logistisches Wunder – aber was soll ich kochen?

Die Essneurosen meiner Kleinfamilie beschrieb ich letzte Woche, aber sie sind wirklich nichts im Vergleich zu denen meiner Grossfamilie. Meine Schwester ist eine strenge Ovo-Vegetarierin, aber sie wirkt geradezu frivol neben ihrem Mann, meinem Schwager. Er kocht – sehr gut – nach streng ayurvedischen Vorgaben, die so fundamentalistisch sind, dass er überall, wo er hinkommt, anbietet, selbst etwas zuzubereiten. Im Wissen, dass niemand seinen Standards genügen wird. 

Ich arbeit seit einigen Jahren an dem Projekt, meinen Neffen hinter dem Rücken seiner Eltern zu einem Austern-Connaisseur auszubilden. 

Ihre Kinder sind beide fermentierter Kohl-gestärkte Vegetarier, auch wenn ich seit einigen Jahren an dem Projekt arbeite, meinen Neffen hinter dem Rücken seiner Eltern zu einem Austern-Connaisseur auszubilden. Auf die andere Seite des Tisches setze ich den Bruder meiner Frau. Er hat sich seine komplette Jugend hindurch nur von Cornflakes ernährt und weigert sich bis heute Pilze zu essen. Eier mag er, aber nicht gekocht, gerührt oder gebraten. Roh auch nicht. Neben ihm platziere ich seine Frau, die problemlos alles isst, aber unglaublich langsam. Wenn selbst hartnäckigste Gäste sich zum Gehen wenden, nimmt sie gerade noch ein zweites Mal von der Vorspeise. Um es kurz zu machen: Meine Geschwistergeneration ist nicht ganz ohne, und doch bin ich sicher, dass man sie ohne psychologische Hilfe an einen Tisch bringen könnte.

Jetzt aber klingelt es an der Tür und die Elterngeneration betritt das Parkett. Ein bunt zusammengewürfelter, betreuungsintensiver Haufen. Ich platziere meine Mutter, eine unkomplizierte Flexitarierin, und ihren Mann, einen bio-bewussten Carnivoren mit einer Schwäche für exotische Weinanbaugebiete wie Palästina oder Schleswig-Holstein neben meiner Schwiegermutter, eine genussvolle Allesesserin. Die Frau meines Schwiegervaters wiederum experimentiert mit Lebensmittelunverträglichkeiten, mal ist es Gluten, dann Tannin oder Saccharose. Sie paaren wir mit meinem Vater, der eine Expertise im Zubereiten von Fisch und Fleisch entwickelt hat (meine Schwester und ich denken gern an die seltenen Male zurück, als er uns bekochte: Jeder bekam ein Steak und eine ganze Tomate). Seine Frau, meine Stiefmutter, ist eine verhinderte Michelin-Köchin, die so aufwändig kocht, dass man im Gegenzug für so einfache Aufgaben, wie ihr ein Brot zu schmieren, glaubt, einen mehrwöchigen Vorlauf zu brauchen. Sie darf neben meinem Schwiegervater Platz nehmen, der die bemerkenswerte Gabe besitzt, sich über Kleinigkeiten zu freuen, als seien es Goldstücke. Eine Fertigrösti mit Spiegelei feiert er wie einen WM-Sieg.

Es ist wirklich mein Traum, all diese Menschen, die mir in all ihrer Unterschiedlichkeit so unglaublich am Herzen liegen, um einen Tisch herum zu versammeln. 

Ich weiss nur nicht, was ich kochen soll.


Mikael Krogerus ist Autor und Redaktor des «Magazin». Der Vater einer Tochter und eines Sohnes lebt mit seiner Familie in Basel.

Neu schreibt er einmal pro Woche eine Kolumne zum Thema Corona. 


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