«Kneif mich, wenn ich wie ein Erstklässler mit dir rede»
Mehrmals pro Woche fährt Sidona Gianella zu ihrer demenzkranken Mutter und begleitet sie zu Arztterminen, trifft Absprachen mit den Dienstleistern, die ihr die Bewältigung ihres Alltags ermöglichen. Oder sie hört ihr einfach zu. «Ich weiss nie, was mich erwartet, jeder Tag ist anders», sagt die Tochter. Ein Protokoll.
Ich mache uns einen Kaffee und versuche die Punkte anzusprechen, die ich heute mit ihr besprechen möchte. Bei manchen Themen blockt sie erst einmal ab. «Mama, es wird einmal die Woche eine Dame vom Roten Kreuz zu dir kommen, damit du nicht alleine bist, während ich arbeite.» In solchen Fällen brauche ich drei bis vier Besuche bei ihr und muss mich immer wieder zu dem kritischen Thema vortasten. «Ich habe gehört und verstanden, was du mir gesagt hast», sagt sie dann irgendwann.
«Meine Mutter hat eine seltene Form von Demenz. Ihr Zustand kann von einer Minute auf die andere wechseln».
Ein Abschiednehmen auf Raten
«Manchmal wird alles zu viel. Dann fahre ich in die oberste Etage eines Parkhauses, schaue in den Himmel. Zehn Minuten nur für mich.»
Manchmal hat sie zwischendurch eine depressive Phase. Dann versuche ich sie zu trösten und abzulenken. In solchen Momenten fragt sie mich manchmal, ob sie nun ihre Koffer packen und in ein Heim ziehen muss. Natürlich möchte ich ihr das ersparen. Es ist schwer, sich abzugrenzen. Sobald ihr das Mittagessen gebracht wird, versuche ich mich zu verabschieden. «Wie, du gehst schon?», fragt sie manchmal, auch wenn wir schon Stunden zusammensitzen. Ich darf ihr nicht böse sein.
«Gegen das zunehmende Vergessen meiner Mutter kann ich nichts machen. Es ist ein Abschiednehmen auf Zeit.»
Hierzu ist sie aufgrund ihrer Erkrankung nicht mehr in der Lage. Sobald mein Sohn am Nachmittag Besuch von Freunden hat, kümmere ich mich um all das, was im Haushalt liegen geblieben ist. Und trotzdem habe ich immer das Gefühl, meiner To-do-Liste hinterherzuhinken. Manchmal wird alles zu viel. Dann muss ich für einen kurzen Moment aus meinem «festen Stundenplan » ausbrechen und irgendwo hinfahren. Nach dem Einkauf für eine Tasse Kaffee. Oder ich fahre in die oberste Etage eines Parkhauses und schaue in den Himmel. Zehn Minuten nur für mich, durchatmen, niemandem Rechenschaft ablegen. Dann bin ich wieder einsatzbereit.
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