Herr Ramming, diskutieren Eltern zu viel? - Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
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Herr Ramming, diskutieren Eltern zu viel?

Lesedauer: 11 Minuten

Philipp Ramming ist ein führender Schweizer Kinder- und Jugendpsychologe, der auch mit Familien arbeitet, und ein Verfechter von klaren Ansagen. Er weiss, warum Eltern von pubertierenden Kindern so oft verzweifeln: Es ist die Liebe zu den Kindern, die das Erziehen schwer macht.  

Wie alle guten Psychologen erweckt Philipp Ramming sofort Vertrauen. Und der Eindruck, dass ihm, dem Mann mit der honigweichen Stimme und dem melodiösen Bündner Dialekt, kein Detail entgeht. Er hat den Tag in einem Konferenzzimmer verbracht, keine Zeit für eine Pause. Nun trinkt er weissen Tee. Ist er so weise, wie er wirkt?

Philipp Ramming, Sie sind Erziehungsexperte. Was sagen Ihre Kinder über Ihre Erziehung?

Mein jüngerer Sohn sagte kürzlich: Papa, ihr habt Glück, dass ich trotz eurer Erziehung so gut herausgekommen bin. Nun ja, wir sind beide Psychologen. Das ist für ein Kind auch nicht einfach.

Die Pubertät gilt als schwierigste Phase in der Erziehung. Wer tut sich schwerer, Jugendliche oder Eltern?

Das kommt darauf an, wen Sie fragen. Die Jugendlichen wollen raus in die Welt, um etwas zu lernen. Die Eltern wollen, dass sie etwas lernen, um raus in die Welt zu können. Die Jugendlichen denken, sie schaffen alles, und überschätzen sich völlig.

Und dann gibt es Verzweiflung auf beiden Seiten.

Genau. Die Eltern sehen nur Chaos. Die Jugendlichen die tiefe Verzweiflung, nicht verstanden zu werden. Bei den Eltern gibt es die tiefe Verzweiflung, in der Erziehung versagt zu haben. Der Umgang mit Pubertierenden ist jedoch wie Segeln in stürmischer See. Sich querstellen bringt nur das Boot zum Kentern. Hart am Wind und im Zickzack aufkreuzen dauert zwar, lässt einen aber die allgemeine Richtung einhalten.

Erziehung ist das Schwierigste, was es gibt. Denn der Arbeitgeber ist unberechenbar.

Knallhart bleiben bringt nichts? Dabei gelten Sie als Mann der klaren Worte.

Klar heisst nicht stur. Es gibt keine Stärke oder Konstanz ohne Flexibilität und umgekehrt. Die Eltern müssen die Familienregeln wieder ins richtige Licht rücken, wenn die Jungen machen, was sie wollen. Also zeigen, wo die rote Linie ist! Aber es lohnt sich nicht, auf Perfektion oder pingeliges Einhalten von Regeln, Abmachungen und Ordnung zu bestehen. Man muss verhandeln. Und wissen: Erziehung ist Scheitern in Raten. Aber scheitern Sie mit Würde, Kompetenz und Eleganz.

Wir treffen Sie in St. Moritz, wo Sie einen Workshop für Familien leiten. Diskutieren Eltern zu viel? 

Da muss ich etwas ausholen. Das grösste Problem für Eltern ist heute die Vereinzelung. Jede Familie ist eine eigene Insel, es gibt keine Grossfamilie mehr und auch keine Normen, die uns sagen, was wir tun sollen und was nicht. Die Welt ist so vielfältig geworden, dass uns in der Erziehung manchmal die Orientierung abhandenkommt. Trotzdem ist das Bedürfnis nach Schutz, Orientierung und Anlehnung immer da. Aber weil uns genau diese fehlen, neigen viele Eltern dazu, die Beziehung zu ihren Kindern nicht aufs Spiel zu setzen. Das führt dazu, dass man eher verhandelt als fordert. Und: Die meisten Eltern reagieren zu empathisch.

Empathie ist doch positiv.

Empathie hilft, ein Problem zu verstehen. Dieses Gefühl muss aber während des Konfliktes mit dem Nachwuchs zurückgestellt werden. Warum müssen Verhandlungen schmusig sein? Was zählt, ist das Ergebnis, nicht der Applaus, den Sie ernten. Erziehen ist kein Wohlfühl-Spa, sondern harte Arbeit. Als Eltern muss man aus der Komfortzone hinausgehen können. Dazu gehört auch, sich der autonomen Meinung des Kindes zu stellen.

Psychologe Philipp Ramming im Gespräch mit Redaktorin Claudia Landolt.
Psychologe Philipp Ramming im Gespräch mit Redaktorin Claudia Landolt.

Konsequenz kostet viel Energie. Die hat man nicht immer.

Sie kostet Energie und macht auch einsam. Aus der Einsamkeit heraus, also wenn man sich nicht an allgemeingültige Normen anlehnen kann, muss man mehr eigene Energie investieren. Alles muss man selber erfinden und durchsetzen. Das ist sehr, sehr anstrengend.

War es das nicht schon immer?

Als ich aufwuchs, war klar: Wenn die Kirchenglocken läuten, muss man zu Hause sein. Es gab kein Wenn und Aber und erst recht kein Verhandeln. Die Konsequenzen bei einer Missachtung waren klar: Wer zur bestimmten Stunde nicht zu Hause war, musste beim Schulrat antraben. Das Vorhandensein einer solchen normativen Kultur machte es für die Eltern und auch die Kinder sehr viel einfacher. Ob es besser war oder nicht, ist eine andere Frage.

Wäre Vertrauen, zu glauben, dass es schon gut kommt eine Alternative?

Ich bin da sehr geneigt zu sagen, dass Eltern mit dieser Einstellung ihren Job nicht machen. Weigern sie sich, zu verhandeln, Grenzen zu ziehen, stehen sie ihren Mann oder ihre Frau nicht. Denn es bedeutet, dass sie den Frust, kurzfristig nicht geliebt zu werden, nicht aushalten. Wenn man erzieht und Regeln durchziehen muss, wird man temporär so ziemlich gar nicht geliebt. Unter Umständen wird man der Beziehung zum Kind kurzfristig verlustig. Das ist sehr unlustig, aber damit muss man umgehen und das aushalten können. Erziehen ist nun mal unser Job. Und die Kinder verzeihen eher eine klare Haltung als keine Haltung.

Kinder sind eine Schule der Veränderung. Sie helfen uns, uns dem Tod in Würde zu nähern.

Manche kritisieren, dass die Erziehung heute zu partnerschaftlich ist.

Ich komme wieder auf diese Vereinzelung zurück. Sie ist die Pest. Durch sie sind Eltern sehr stark in der Beziehung zum Kind verwoben, was  temporäre Auseinandersetzungen erschwert.

Warum?

Eltern wollen oft, dass die Kinder genau das machen, was sie wollen. Und die Kinder wollen das aber ganz und gar nicht. Damit daraus kein Konflikt entsteht, fordern die Eltern von den Kindern dann Erziehungsharmonie: «Gell, du siehst ein, dass dies das Beste für dich ist.» Das hat etwas Perverses, denn das Kleingedruckte lautet: «Kind, erziehe dich selber, aber in meinem Sinne, denn ich bin zu schwach, es auszuhalten, wenn wir uns zu diesem Thema auseinandersetzen.»

Im Workshop erwähnten Sie die Rolle von Werten in Konflikten.

Wir sind alle in bestimmte Wertesysteme eingebunden, die wir erzieherisch vermitteln sollten. Wenn wir uns diese bewusstmachen, können wir mit dem Kind in Verhandlungen treten. In jedem Konflikt gibt es eine Verhandlungs- und Beziehungsebene. Jede hat ihr eigenes Ziel. In der Familie setzt man bisweilen die Beziehung aufs Spiel, um ein Ziel zu erreichen. Und manchmal muss man auch das Ziel revidieren, um die Beziehung zu stabilisieren oder aufzuwerten.

Streit ist immer so emotional.

Wie viel Streit verträgt man? Wo gibt man nach? Wo versöhnt man sich? Das sind sehr zentrale Fragen, mit denen man sich als Eltern konfrontiert sieht. Der Erwachsene muss in Konfliktsituationen das Modell vorleben können. Er muss zurückkommen nach einem Streit und das Gespräch wieder in Gang bringen. Eltern, die nach einem Streit tagelang nicht mehr mit den Kindern reden, sind nicht viel erwachsener als ihre Kinder.

Darf man seine Enttäuschung zeigen?

Auf jeden Fall. Man kann wortkarg sein, oder sichtbar enttäuscht. Daran ist nichts Schlechtes, denn Kinder sollen ruhig auch merken, welche Folgen ihr Tun hat. Aber zu ihrem Tun nichts sagen und damit die Erziehung umgehen, das geht gar nicht. Sie sind der Erwachsene, Sie sind das Vorbild. Das Leben ist ein Wagnis. Wagen ohne die Möglichkeit, zu scheitern, gibt es nicht.

Erziehung hat viel mit der eigenen Biografie zu tun.

Ja, sie widerspiegelt vieles. Man muss mit sich im Reinen sein oder zumindest erkennen, dass man es nicht ist, bevor man in gewisse Konflikte geht. Die Erziehung wird in dem Moment kompliziert, in dem man sich mit dem Kind identifiziert, weil es sehr viel schwieriger wird, sachlich zu bleiben und eine Distanz herzustellen. Hinzu kommt, dass die eigenen Werte, die eigenen Muster eine ganz grosse Rolle spielen. In solchen Momenten kann es nützlich sein, Personen, die eine Aussensicht einnehmen und gewisse Muster erkennen, beizuziehen. Denn in Konflikten bleibt man ja sehr oft einfach stecken.

«Seit 30 Jahren haben sich keine Eltern mehr bei mir beschwert, dass ihre Kinder zuviel lesen würden.» 
Philipp Ramming ist Fachpsychologe für Kinder- und Jugendpsychologie und Experte in Erziehungsfragen. Er hat über 70 Radiosendungen zu Erziehungsthemen gemacht und ist bekannt für provozierende Aussagen. Er stammt aus dem Engadin, ist verheiratet und Vater von zwei Söhnen. Er ist Präsident der Schweizerischen Vereinigung für Kinder- und Jugendpsychologie SKJP.

Welches sind die häufigsten Konflikte?

Das kommt aufs Alter und Thema an. Lernunlust und Schulmüdigkeit sind zentrale Themen. Das Kind bei der Stange zu halten, ist mitunter  sehr schwierig. Motivieren, drohen, erpressen, loben, wertschätzen, be­­wundern – die ganze Palette spielt da mit. Das beherrschende Thema auf der Oberstufe ist, die Mischung zwischen der eigenen Welt zu finden und sich gesellschaftlich anzupassen. Lernen, Aufgaben machen, einen Beruf finden, das ist anspruchsvoll. Es gibt Kinder, die bewerkstelligen das gut, die lernen leicht, und wenn das leichtfällt, ist alles andere auch einfacher. Herausfordernd ist es, wenn das Lernen schwierig ist. Es gibt Kinder, die lernen sehr leicht und sind dafür nie zu Hause. Und es gibt andere, die lernen schwer und sind auch nicht daheim. Beides verursacht bei den Eltern Stress.

Und der Umgang mit den Medien?

Ein Riesenthema! Man spricht ja immer von den sozialen Medien. Ich spreche lieber von einer Parallelwelt. In dieser Parallelwelt lernen Kinder sehr viel, entwickeln Kompetenzen. Die zentrale Frage ist: Wie viel müssen die Kinder in der hiesigen Welt sein, um Erfolg zu haben, und wie viel in der anderen Welt? Und wie oft dürfen sie in der anderen Welt sein? Die Eltern sind der Ansicht, dass die Kinder in der hiesigen Welt sein müssen, weil es in der hiesigen Welt Noten gibt. Die Kinder sind der Ansicht, dass sie wahnsinnig viel lernen in der anderen Welt. Da haben wir einen klassischen Konflikt.

Medienkonsum ist das grosse Thema?

Das Faszinierende ist, dass ich seit fast 30 Jahren nie mehr Eltern gehabt habe, die sich bei mir darüber be­­schwert haben, dass ihre Kinder zu viel lesen. Dass die Kids heimkommen, sich auf ihr Bett werfen und nicht aufräumen, nicht Zähne putzen, nicht Aufgaben machen – nur lesen. Früher war das gang und gäbe. Lesen unter der Bettdecke? Gibt es nicht mehr. Nur das Gstürm mit dem blöden Handy.

Wie soll man am besten reagieren?

Einfach das Handy wegnehmen, Punkt. Wie früher, als man die Batterie bei der Taschenlampe rausgenommen hat. Klarmachen, wo man steht. Denn ein Kind braucht Schlaf. Eltern, die «stürmen», dass ihr Kind  zu oft und zu viel im Netz ist, sage ich: wegnehmen! Dann sagen sie: Dann wird das Kind wütend. Die Eltern wollen mit der Reaktion des Kindes nicht umgehen. Aber in der Wut des Kindes wäre nämlich auch die Möglichkeit enthalten, dass es lernt, seinen Frust zu managen, seine Fähigkeit zur Selbststeuerung auszubauen.

Das WLAN ausschalten ist also keine gute Lösung?

Kommt darauf an. Wenn man dadurch etwas indirekt durchsetzen will und der Auseinandersetzung ausweicht, produziert man Frust beim Kind und kann sich raushalten. Das finde ich Betrug. Ich nenne es «die Feigheit vor dem Feind».

Man muss also den Konflikt bis zum bitteren Ende durchstehen?

Warum muss es ein bitteres Ende nehmen? Ich sehe das ganz und gar nicht so. Ich sehe die Anstrengung, den Konflikt, aber nicht das Problem. Denn es ist einfach nur der Job der Eltern, Grenzen zu ziehen.

Sanktionieren ist in der Pubertät Hauptbeschäftigung?

Die Pubertät ist ein besonderer Zu­stand. Sie ist der Trotzphase der  Dreijährigen nicht unähnlich, weil Unabhängigkeit und Abnabelung das Thema ist. Die Familie wächst in etwas Neues hinein, ebenso das Kind. Die Eltern regen sich auf, dass das Kind permanent am Handy hängt, und fokussieren sich auf die Noten. Dabei ist das Problem, dass die Eltern es nicht aushalten, dass das Kind sich von ihnen entfernt, ins Leben tritt, ohne sie neue Erfahrungen macht. Das Handy wird zum Symbol der Aussenwelt, die in das Konstrukt der Familie einbricht. Das wahre Thema ist Loslassen und Abschied.

Verhandeln mit pubertierenden Kindern klappt nur, wenn sich die Eltern einig sind.

Stichwort: Drogen?

Schwierig. Aber Kinder kommen eher durch Verkehrsunfälle um, als sie an Drogenmissbrauch sterben. Tritt der Fall ein, dass ein Kind Drogen nimmt, braucht es auch ein Gespräch. Wie das verläuft, hängt sehr stark davon ab, wie man bisher mit der Erziehung kutschiert hat. Sind die Eltern viel abwesend, sind die Kinder auf sich selbst gestellt? Können die Kinder die Grenzen ausloten? Sind sie dabei alleine, oder werden sie begleitet? Wie merken die Kids denn, wie sie über die Grenze hinausgehen? Denn das können Kinder nur, wenn sie von zu Hause Grenzen mitbekommen und einen inneren Massstab entwickelt haben. Wenn sie genau wissen, jetzt mache ich etwas, was die Alten nicht goutieren, und wenn die das herausfinden, uiuiui!

Ein Beispiel: Das 15-jährige Kind hat zum ersten Mal gekifft. Was tun?

Die Frage ist vielmehr: Was ist das Ziel? Will man sich abreagieren als Eltern, oder will man, dass der Sprössling sich künftig im Griff hat?

Man will, dass der Junge um Drogen einen Bogen macht.

Das ist ein Wunsch, und wie bei allen Wünschen gilt: Sie sind frei. Es gibt Eltern, die machen jede Woche einen Urintest mit ihren Kindern. Was für ein massiver Eingriff in deren Privatsphäre!

Konkret: Wie reagiert man am besten?

Wenn beispielsweise ein Junge heimkommt, zu viel gekifft hat und ihm speiübel ist, schaut man, dass er sich auskotzt und dann schlafen kann. Wenn es ihm wieder gut geht, versucht man, darüber zu reden. Das wird nicht einfach, denn es geht ihm ja mies, er weiss, dass er etwas Dummes getan hat und wird daher das Gespräch vermeiden, denn er schämt sich sehr. Er wird alle Strategien nutzen, um nicht mit den Eltern reden zu müssen.

Und dann?

Dann wird’s spannend. Wann packt man sich das Kind? Schafft man das? Wie geht man mit dieser Grenzüberschreitung um? Ist es wirklich so schlimm, wenn sie jetzt mal was ausprobieren? Warum hat man so wahnsinnig Angst vor einem Ab­­sturz? Warum hat man zwar die Empörung, die Moral, aber nicht das Vertrauen, dass das Kind damit um­­gehen kann? Da kommt häufig die eigene Biografie ins Spiel. Dass man etwas, beispielsweise Drogen, selber nur knapp überlebt hat und alle Ängste nun auf das Kind überträgt. Diese Urangst schwächt die Verhandlungsposition. Gerade in der Pubertät ist es oft schwierig, weil die Teenagerjahre des Kindes eine permanente Erinnerung an die eigene Entwicklung sind. Der Anspruch, immer hundertprozentig supertolle Erzieher zu sein, ist übertrieben.

Sie sagen, Pubertät bedeute in erster Linie Kontrollverlust.

Ja. Man erlebt echte Ohnmachts­situationen. Die Pubertät ist ein Sturm. Im Jugendlichen herrscht pures Chaos. Er will eigentlich genau das, was wir auch wollen, aber er weiss nicht wie, und er will auch nicht, dass wir ihm sagen, wie es geht. Als Eltern kann man also nur noch Leitplanken setzen. Dem Teenager sagen, was geht und wo die Grenze überschritten ist. Was ist machbar, was nicht? Und was ist verhandelbar? Eine Bedingung gibt es: Man muss da sein, präsent sein, um die Klingen wetzen zu können. Pubertierende brauchen sehr viel Aufmerksamkeit.

Eltern schämen sich oft.

Die Scham ist immer da. Gerade bei Müttern. Bei Vätern weniger, sie haben sie vor allem bei Söhnen, wenn diese die männliche Eigenschaft der Entscheidung nicht haben und irgendwo herumwabern.

«Haben Sie Vertrauen in Ihre letzten zehn, fünfzehn Jahre Erziehung.» 
«Haben Sie Vertrauen in Ihre letzten zehn, fünfzehn Jahre Erziehung.»

Verhängen ist nicht okay?

Pubertät ist die Zeit des Suchens. Die Suchbewegungen der Kinder aushalten ist schwierig. Wie gut dies die Eltern aushalten, ist auch ein Massstab für das Gelingen.

Soll man das Aushalten ansprechen?

Es kommt darauf an, wie man es vermittelt. Man sollte nicht dreinlaufen als Eltern und zu hören bekommen: Lös deine Probleme selber!

Wie umgeht man das?

Indem man klar ist. Sagt: Schau, du musst einen Beruf lernen. Wie willst du das angehen? Wie willst du das machen? Herumhängen? Und dann?

Wenn das Kind antwortet: Ich weiss aber nicht was?

Wichtig ist, dass man ihm Mut macht, in die Handlung zu gehen, etwas zu tun. Es geht darum, dranzubleiben und mit dem Kind zu sprechen. Erfahren, was es braucht, damit es sich entscheiden kann. Ob es Angst hat, sich zu entscheiden. Ob es etwas anderes machen will, die Welt anschauen zum Beispiel.

Stichwort: Lehrstelle abbrechen?

Abbrechen ist immer ein schwieriger Entscheid. Rennt man vor etwas davon oder wendet man sich etwas Neuem zu? Die Hauptsache ist, das Kind tut etwas und fällt nicht ins Nichtstun. Zeitungen vertragen, spazieren gehen, den Hund der Nachbarin hüten – egal was. Einfach tun. Sich wagen.

Ein Beispiel aus der Praxis?

Die Jugendlichen müssen in der 8. Klasse eine Lehrstelle suchen und eine Schnupperstelle organisieren. Eines der Muster, das ich kenne, ist, dass Eltern sich sehr aufregen, weil das Kind noch nicht seine Briefe geschrieben oder die Telefone erledigt hat. Total idiotisch!

Warum?

Woher sollen die Teenies denn wissen, wie so ein Telefon geht? Wenn jemand eh schon schüchtern ist, wie soll der oder die den Mut haben und  den Telefonhörer in die Hand nehmen und ein dermassen wichtiges Gespräch führen? Um sich zu bewerben, muss man zuerst wissen, wie man das macht. Also üben, wie man telefoniert, einen Brief schreibt. Die Jugendlichen müssen wissen, dass es da eine Schwelle zu überwinden gibt. Und dabei müssen die Eltern helfen, anleiten statt Druck machen.

Als Eltern werden Sie es zumindest in der Pubertät nie richtig treffen. Sie verstehen nicht, sind gemein und unfair und vor allem so etwas von gestern.

Wie denn?

In der Pubertät es ganz wichtig, an­­zuleiten, Beispiele zu geben, vorzugeben. Man muss den Jungen einen Ausgangspunkt bieten, selbst wenn sie dann sagen: So mache ich es nicht. Und Verständnis haben für den Frust. Aber nicht nachlassen im Erreichen des Ziels.

Sie sprachen in einem Vortrag von «nichtfunktionierenden Kindern». Was meinen Sie damit?

Es ist gefährlich, wenn Eltern der Überzeugung sind, die Kinder müssten doch nur deren Anweisungen umsetzen und dann würde alles bestens funktionieren. Wenn beispielsweise beide Eltern in ihren Berufen stark engagiert sind, ist der häusliche Alltag meistens sehr gut durchstrukturiert. Da muss alles ineinandergreifen. Jeder muss seinen Teil übernehmen, damit es funktioniert. Dazu braucht es funktionierende Kinder. Anpassung ergibt aber ausser Schadensminimierung keinen Mehrwert. Selbstwert entsteht nur durch selbständig bewältigte Schwierigkeiten. Dies spüren starke Kinder und legen eigene Lernschlaufen ein, machen Umwege, besuchen Freunde, zünden auch mal was Spannendes an. Dann funktionieren sie eben nicht, sondern lernen fürs Leben.

Kann man es denn in der Erziehung überhaupt richtigmachen?

Nein. Als Eltern werden Sie es zumindest in der Pubertät nie richtig treffen. Sie verstehen nicht, sind gemein und unfair und vor allem so etwas von gestern. Haben Sie Vertrauen in die letzten zehn, fünfzehn Jahre Erziehung! Und bleiben Sie weiter dran. Auch wenn es nicht so aussieht, ihre Söhne und Töchter werden darauf zurückgreifen, wenn es darauf ankommt.

Claudia Landolt
ist Journalistin und Autorin, diplomierte Yogalehrerin und Mutter von vier Söhnen. Sie lebt im Kanton Aargau.

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