Wie vor allem Buben mehr Spass am Lesen finden - Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
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Wie vor allem Buben mehr Spass am Lesen finden

Lesedauer: 4 Minuten

Mit dem Projekt «bewegte Geschichten» sollte ursprünglich vor allem die Lesekompetenz von Buben gefördert werden. Aber auch Mädchen profitieren davon. Ein Unterrichtsbesuch.

In zwei Linien aufgereiht stehen die Buben der fünften Klasse der Schule Auzelg in Schwamendingen vor dem Lesecoach und der Klassenlehrerin. Alle warten darauf, in die Boxpolster, Handpratzen genannt, boxen zu können, die ihnen die beiden hinhalten. Bei jedem Schlag rufen sie Silben. Lesecoach Walter Millns erklärt, dass es sich hierbei um eine Konzentrationsübung handelt. Die Mitschülerinnen sitzen im Halbkreis um ihren Coach Carlo Magni und singen das Pfadilied «Flee Fly Flo». Das Klatschen im Takt scheint hier zentral zu sein, denn der Coach unterbricht die Gruppe, sobald das nicht mehr funktioniert. 
Urs Urech, Co-Projektleiter bei «bewegte Geschichten», erklärt, dass einige Übungen und auch die Geschichten absichtlich auf die jeweiligen Geschlechter ausgerichtet sind. Ursprünglich wurde das Projekt für Buben entwickelt. Auslöser dafür waren laut Urs Urech die Ergebnisse der PISA-Studie 2012, die aufzeigten, dass die Lesekompetenz der Schweizer Mädchen deutlich besser als die der Buben ist. Er führt aus, dass dieses «Hintendreinsein» auf die Buben sehr demotivierend wirke, da sie es gewohnt seien, die Stärkeren und Schnelleren zu sein. Folglich stempelten sie das Lesen als Mädchenbeschäftigung ab.

Das Netzwerk für Schulische Bubenarbeit NWSB, heute Fachstelle für Jungen- und Mädchenpädagogik und Projekte für Schulen JUMPPS, ist deshalb von der Drosos Stiftung angefragt worden, ein Projekt zu lancieren, das diese Diskrepanz reduzieren kann. Mit dem Ziel, Beschäftigungen zu finden, die Buben mehr ansprechen, konnte sich das Projekt allmählich etablieren:  Die Buben lesen die Geschichten vor, bewegen sich dazu und erleben sie so hautnah. Das Projekt ist interdisziplinär aufgebaut. Zu den mitarbeitenden Lesecoachs gehören neben Lehrern auch Theaterpädagogen, Schauspieler, Sprechtrainer, Erlebnis- und Sozialpädagogen. Um die Buben zum Buch zu führen, werden bisher nur Männer als Lesecoaches eingesetzt.

Kinder werden zu Vorbildern

Das Programm, das kombiniert in einer Woche oder verteilt über zwei bis drei Monate durchgeführt werden kann, umfasst drei Teile. Im ersten Drittel lernen die Schülerinnen und Schüler die Geschichten, die Konzentrations- und die Erlebnisübungen kennen. Im zweiten Drittel lernen sie, eine Geschichte zu performen: Wie sie sich hinstellen und bewegen, wie sie sprechen müssen, wenn sie eine Geschichte vortragen. Ausserdem wenden sie hier das im ersten Drittel Gelernte an. Zuletzt haben sie zwei Gastauftritte in einer Klasse mit jüngeren Schülerinnen und Schülern, bei denen sie eine vorgegebene oder eigens geschriebene Geschichte vorführen. Das Ziel der Gastauftritte ist es, dass die vortragenden Buben ein Vorbild für die jüngeren darstellen und sie somit zum Lesen motivieren. 

Die Buben lesen sich die 
Geschichten vor, bewegen sich dazu und erleben sie 
so hautnah. 

Mit ihrer Idee sind die Entwickler von «bewegte Geschichten» Pioniere. Laut Urs Urech gibt es zwar verschiedene Projekte, die zur Förderung der Lesekompetenz beitragen, nicht aber in dieser Form. Das Projekt läuft nun seit über vier Jahren. Insgesamt 40 Schulen konnten in dieser Zeit kostenlos daran teilnehmen. Mittlerweile bezahlen die Schulen einen Drittel der Kosten, für den Rest kommen Stiftungen auf.

Zurück an der Schule Auzelg. Der Lesecoach Carlo Magni war früher Primarlehrer. Er ist seit den Anfängen bei «bewegte Geschichten» dabei. Im Auzelg werden zwei fünfte Klassen in die «bewegten Geschichten» eingeführt.

Carlo Magni arbeitet mit der einen Klassenlehrerin in der Mädchengruppe, Walter Millns mit der anderen in der Bubengruppe. Er sagt, es mache durchaus Sinn, in geschlechtsspezifischen Gruppen zu arbeiten. Buben wie Mädchen hätten ihre eigenen Themen, bei denen es sich lohne, sie ernst zu nehmen.


Online-Dossier Lesen

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Dieser Artikel gehört zum Online-Dossier Lesen: Wie lernen Kinder zu lesen? Und welche Bücher eignen sich zum Vorlesen? 

Sich mit den Figuren einer Geschichte identifizieren 

Nach der ersten Konzentrationsübung teilt Magni die Mädchengruppe in drei kleinere Gruppen auf. Im Lesetraining lesen die vier Mädchen der Gruppe D im Chor eine Geschichte vor. Sie handelt von einem Mädchen, das seinem Vater eine Neuigkeit mitteilen will, diesen aber schlafend auffindet. Diese Gelegenheit nutzt das Mädchen aus, es beginnt auf dem Handy – in diesem Fall ein Stein – seines Vaters herumzutippen. Aus Versehen ruft es eine fremde Person an und steckt nun in der Klemme. Damit das Mädchen und die Schülerinnen in dieser Situation einen klaren Kopf bewahren, setzt Carlo Magni eine weitere Konzentrationsübung an.

Neben den Konzentrationsübungen gibt es Erlebnisübungen. Sie helfen den Schülerinnen und Schülern, sich mit den Figuren einer Geschichte besser zu identifizieren. Identifikation und Veranschaulichung haben einen hohen Stellenwert bei «bewegte Geschichten».

Die Motivation ist an diesem Vormittag in jeder Gruppe sehr hoch. Carlo Magni erklärt, dass die uninteressierten Kinder, für die das Projekt entwickelt wurde, oft Spätzünder seien. Es freue ihn jedes Mal, wenn diese Kinder plötzlich aufblühen. Er ist fest davon überzeugt, dass die Verantwortung, welche die Kinder beim Vorbereiten und Durchführen der Auftritte übernehmen müssen, sehr motivationsfördernd ist.

Oft ist aber Überzeugungsarbeit nötig. «Bisher haben wir wirklich vor allem mit Buben zusammengearbeitet», sagt Urs Urech. «Meist sind sie skeptisch und fragen, weshalb sie mit uns lesen üben müssen, wo sie doch schon lesen können.» Dann helfe ein Vergleich mit Fussball­trainings: Professionelle Fussballspieler trainieren mehrmals die Woche.

«Wieso müssen wir lesen üben?  Wir können doch schon lesen», heisst es oft. Da hilft der 
Vergleich mit Fussballprofis: Auch sie müssen trainieren. 

Die Kinder arbeiten neben ihrer Lesekompetenz auch an ihrer Auftrittskompetenz. In der Buben­gruppe werden an diesem Vormittag Trailer für die Gastauftritte eingeübt. Lesecoach Walter Millns gibt jeder Gruppe ein Feedback. Die Buben müssen noch lauter sprechen, selbstbewusster auftreten und sich mehr zum Erzählten bewegen.

Beim Training lernen die Schülerinnen und Schüler auch, die Bedürfnisse ihrer Kameradinnen und Kameraden wahrzunehmen, respektvoll miteinander umzugehen und als Team aufzutreten. Es seien schon einige Lehrpersonen erstaunt gewesen, wie stark die Sozialkompetenz mit diesem Programm geschult werde, so Carlo Magni.

Am Programm «bewegte Geschichten» können Klassen der Mittel- und Oberstufe teilnehmen. Ein Lesecoach begleitet sie, bringt das benötigte Material mit und organisiert ausserdem einen Elternabend zum Thema. Interessierte Lehrpersonen oder das gesamte Schulteam nehmen an einem Weiterbildungstag teil und erhalten Lehrmaterialien, welche die Lehrpersonen unterstützen soll, das Programm später selbständig anzuwenden. 2016 wurde «bewegte Geschichten» mit dem «Worlddidac Award» ausgezeichnet.

Weitere Informationen:
www.bewegte-geschichten.ch

7 Tipps – so begeistern Sie Ihr Kind fürs Lesen 


Legen Sie zusammen mit Ihrem Kind eine Zeit fest, in der Sie täglich etwa 15 Minuten zusammen lesen. Hier einige Ideen, wie Sie die gemeinsame Lesezeit spannend gestalten: 

  • Jeder liest 15 Minuten in seinem Buch. 
  • Lassen Sie Ihr Kind in der vereinbarten Lesezeit aus seinem Buch vorlesen – und das an einem schönen Ort.
  • Seien Sie Vorbild und lesen Sie für Ihr Kind sichtbar die Zeitung. 
  • Lassen Sie Ihr Kind zwei Fotos aus dieser Zeitung auswählen – und den Text dazu vorlesen. 
  • Schliessen Sie die Augen und lassen Sie Ihr Kind einen Zeitungs­artikel vorlesen, suchen Sie das passende Bild dazu aus. Anschliessend tauschen Sie die Rollen. 
  • Lesen Sie gemeinsam mit Ihrem Kind einen Text laut (Kochrezept, Zeitung, Buch, usw.), anschliessend wählen Sie einen Text aus, den Sie abwechselnd vorlesen. Getauscht wird jeweils nach einem Satz. 
  • Erzählen Sie Ihrem Kind von einem Artikel, der Sie begeistert hat.  

Zur Person: 

Anna Walser ist freie Journalistin und studiert im letzten Semester Journalismus an der ZHAW in Winterthur. 
Anna Walser ist freie Journalistin und studiert im letzten Semester Journalismus an der ZHAW in Winterthur. 


Weiterlesen: 

Lesen und lesen lassen
Musik hören, fernsehen und Bücher lesen. Das sind die liebsten Medientätigkeiten von Kindern im Primarschulalter. Tatsächlich hat das Buch keineswegs an Bedeutung verloren. Zumindest für die Kinder, deren Eltern auch lesen. 

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