«Frau Isengard, was bedeutet späte Elternschaft?» - Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
Merken
Drucken

«Frau Isengard, was bedeutet späte Elternschaft?»

Lesedauer: 4 Minuten

Dass viele Frauen und Männer die Geburt des ersten Kindes hinauszögern, hat verschiedene Ursachen. Die Soziologin Bettina Isengard spricht über die fehlende Unterstützung junger Eltern, Mängel in der Schweizer Familienpolitik und erklärt, warum sich eine berufliche Tätigkeit oft nur für höher gebildete Frauen lohnt. 

Frau Isengard, mit welchen Vorurteilen werden späte Eltern konfrontiert?

Je nach Alter wird ihnen zum Teil unterstellt, dass sie die biologischen Grenzen nicht respektieren würden, dass sie egoistisch, zu karriereorientiert und zu wählerisch bei der Partnersuche seien. Die betroffenen Paare hingegen haben das Gefühl, dass ihre Lebensumstände nicht ernst genommen werden, die zu dem späten Nachwuchs geführt haben. 

Warum bekommen denn immer mehr Männer und Frauen später Kinder?

Zu den relevanten Faktoren gehört die hohe Lebenserwartung. Diese liegt in der Schweiz bei derzeit 85 Jahren für Frauen und 82 für Männer. Dadurch steigt die Zahl an möglichen Lebensentwürfen. Ein weiterer zentraler Grund ist der bessere Zugang der Frauen zu höheren Schulen, Ausbildungs- und Studiengängen. Je nach Ausbildungsstufe starten junge Frauen erst mit Anfang oder Ende 20 in den Berufsalltag. 

… wo ihnen Arbeitgeber oft nur einen befristeten Vertrag oder ein Praktikum anbieten.

Ja. Eine Frau, die erst spät eine gesicherte Arbeitsstelle hat, kann nicht gleich wieder pausieren, das ist eine einfache Kosten-Nutzen-Rechnung. Mit Anfang 20 verfügen heute nur wenige Jugendliche über ein Einkommen, mit dem sie eine eigene Existenz aufbauen können. Daher sind sie länger von ihren Eltern abhängig als biologisch vorgesehen.
Bettina Isengard ist Privatdozentin am Soziologischen Institut der Universität Zürich. Sie studierte und promovierte an der Universität Mannheim. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Familiensoziologie, Sozialstruktur- und Ungleichheitsforschung, soziale Indikatoren und Methoden der empirischen Sozialforschung.
Bettina Isengard ist Privatdozentin am Soziologischen Institut der Universität Zürich. Sie studierte und promovierte an der Universität Mannheim. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Familiensoziologie, Sozialstruktur- und Ungleichheitsforschung, soziale Indikatoren und Methoden der empirischen Sozialforschung.

Welche Auswirkung hat der Lohn-Gap der Frauen auf die Familienplanung? 

Laut dem Bundesamt für Statistik BFS befürchten drei Viertel der Frauen mit einem Hochschulabschluss oder einer höheren Berufsbildung und 62 Prozent mit einem tieferen Bildungsstand, dass sich die Geburt eines Kindes negativ auf ihre Berufsaussichten auswirken könnte. Frauen möchten heute finanziell unabhängig von ihrem Partner sein und sich eine für ihren Lebensunterhalt ausreichende Rente erwirtschaften. Sie wollen sich erst beruflich etablieren in der Hoffnung, mit mehr Berufserfahrung leichter den Wiedereinstieg zu finden und wenn möglich eine Teilzeitstelle zu bekommen. Denn Mütter, die über das gesetzlich zugesicherte Mass hinaus eine Elternpause einlegen, verfügen über ein niedrigeres Einkommen. Kommt es zu einer Scheidung, riskieren viele Mütter, in die Altersarmut abzurutschen.
Dieser Artikel gehört zum
Dieser Artikel gehört zum Online-Dossier Späte Eltern. Lesen Sie mehr zu Fragen, wie: Warum Frauen und Männer das Kinderhaben hinauszögern und was das für Erziehung und Familienleben bedeutet.

Was tut die Schweizer Familienpolitik, damit Männer und Frauen wieder früher Kinder bekommen?

Wenig. Trotz höheren Löhnen sind die Lebenskosten hierzulande etwa für Miete und Krankenversicherung relativ hoch. Daher ist der finanzielle Druck, insbesondere für Paare aus unteren Bildungsschichten, so gross, dass häufig beide arbeiten gehen müssen. Einen im internationalen Vergleich verhältnismässig hohen Anteil am Einkommen machen die Betreuungskosten aus, vor allem für Kinder bis zum Kindergartenalter. Deshalb lohnt sich eine berufliche Tätigkeit finanziell oft nur für höher gebildete Frauen. In Bezug auf den Gesamtumfang der finanziellen Unterstützung für Familien in Form von Beihilfen und steuerlicher Entlastung liegt die Schweiz unter den 14 Ländern Nord- und Westeuropas auf dem zweitletzten Rang.

Und mit dreieinhalb Monaten Mutterschaftsurlaub ist die Schweiz Schlusslicht hinter den EU-Ländern?

Das ist richtig, leider. Die Möglichkeit, Jahresarbeitszeitmodelle zu nutzen oder unbezahlten Urlaub zu nehmen, bieten meist nur Grosskonzerne an. Viele Väter würden gerne mehr an der Entwicklung ihres Kindes teilhaben, doch bisher sind Vaterschaftsurlaub, Teilzeit-, Jobsharing- oder Homeoffice-Modelle in Männerkarrieren meist nicht vorgesehen.

Dennoch spricht man heute vom Zeitalter der Selbstverwirklichung. Was ist damit gemeint?

Da es heute durch Verhütungsmittel möglich ist, eine Elternschaft zu planen, ist diese nur eine Lebensoption unter vielen. Die freie Entscheidung macht den Entschluss für Kinder aber nicht leichter. Denn dadurch liegt die Familienplanung – bis auf die gesundheitlichen Aspekte – völlig in der eigenen Verantwortung. Viele junge Menschen möchten sich zuerst einmal entfalten, ihre Freiheit geniessen, eine Zeit lang im Ausland leben und im Job etwas erreichen.

Welche Auswirkungen hat dies auf die Partnerschaften?

Die meisten Männer und vor allem Frauen suchen heute bildungsgleiche Partnerinnen und Partner. Das kann die Wahl noch anspruchsvoller gestalten, und das Heiratsalter ver­schiebt sich nach hinten. Hinzu kommt, dass junge Menschen heute nicht das ganze Leben bei dem Part­ner bleiben, mit dem sie von Anfang bis Mitte 20 zusammengelebt haben. So kann es passieren, dass ein Part­ner fehlt, wenn man Kinder möchte. Durch die steigenden Scheidungs­raten ist ein Trend zur Gründung von Zweitfamilien zu beobachten. Kinder aus zweiter Ehe machen daher einen grossen Teil der Spätgeborenen aus.

Viele Paare streben heute ein egalitäres Rollenmodell an: Mann und Frau teilen sich die Erwerbstätigkeit, Kinderbetreuung und Hausarbeit zu ähnlichen Anteilen auf.

Soweit die Theorie. Laut dem Bun­desamt für Statistik halten Frauen sowie Personen mit einem Tertiär­abschluss, also der höchsten Bil­dungsstufe, tatsächlich weniger an alten Familienbildern fest. Auf die Frage, wie die Erwerbsarbeit in Haushalten mit Kindern im Vorschulalter idealerweise verteilt wer­den sollte, wird das Modell «beide Eltern Teilzeit erwerbstätig» am häufigsten genannt. Dennoch teilt sich nur gut ein Zehntel dieser Eltern die Arbeit tatsächlich so auf. Bei fast 70 Prozent dieser Eltern arbeitet der Vater Vollzeit und die Mutter ist nicht erwerbstätig oder arbeitet Teil­zeit. Durch die schwierige Verein­barkeit von Beruf und Familie gelingt es ihnen also nicht, ihre Vorstellung von der Aufteilung der Erwerbs­arbeit zu verwirklichen.

Und was bedeutet dies für unsere Gesellschaft?

Die einzelne Familie fühlt sich glücklicher, wenn sie das Leben nicht überfordert und beide Eltern­teile das Leben führen können, das sie sich wünschen. Späte Eltern­schaft ist auch ein Produkt unserer individualisierten, multioptionalen Gesellschaft. Aus demografischer Sicht können wir es uns aber eigent­lich nicht leisten, dass Frauen in der Schweiz immer später Mütter wer­den und dadurch weniger Kinder zur Welt bringen. Denn woher soll so der Nachwuchs kommen, den wir brauchen, um den Alterungsprozess der Gesellschaft zu stoppen, das soziale Sicherungssystem und die Renten zu erhalten sowie dem dro­henden Fachkräftemangel entgegen­ zuwirken?

Lesen Sie mehr aus dem Dossier «Späte Eltern»:

  • Kinder haben wir später
    Reife Eltern sind gelassener, selbstsicherer – und zu alt, um mit ihren Kindern ­Abenteuer zu bestehen. Vorurteile wie diese über späte Eltern gibt es viele. Fakt ist: Das Elternwerden wird immer weiter ­hinausgezögert. Was bedeutet das für Erziehung und Familienleben?
  • «Die Freude überwiegt alle belastenden Aspekte»
    Simone Meyer, 48, und André ­Notter, 64, haben beide Kinder aus erster Ehe. Ihre gemeinsamen ­Kinder Melvin und Juna sind 13 und 11 Jahre alt. Mittlerweile leben Simone und André ebenfalls ­getrennt voneinander.