Wenn das Geld kaum zum Leben reicht

Bilder: Lea Meienberg / 13 Photo
Mehr als 1,2 Millionen Menschen in der Schweiz sind von Armut betroffen oder bedroht. Unter ihnen sind überdurchschnittlich viele Alleinerziehende und Eltern mit drei oder mehr Kindern. Drei betroffene Familien erzählen aus ihrem Alltag, von Existenzängsten und Verzicht, von ihrem Wunsch nach mehr Verständnis und der Hoffnung auf finanzielle Unabhängigkeit.
Ein sonniger Nachmittag in einem kleinen Dorf am Bodensee. Joel*, 7, und Ella*, 4, sitzen am Küchentisch der kleinen Genossenschaftswohnung und essen Apfelschnitze. Zvieri-Zeit. Ella klettert auf den Schoss ihrer Mutter und flüstert ihr etwas ins Ohr. «Ja, wir können später noch auf den Spielplatz gehen», sagt Lisa Schnellmann* und lächelt.
Auf der Anrichte liegen die Einkäufe: Reis, Teigwaren, Äpfel, Broccoli, WC-Papier. Auf den Verpackungen prangen die Labels der Billigmarken deutscher Supermarktdiscounter. Grossbuchstaben in knalligen Farben. Einmal pro Woche fährt die 31-Jährige zum Einkaufen über die Grenze, in der Tasche Prospekte mit Sonderangeboten. Nur was Aktion ist, landet im Einkaufswagen. Geht sie bei einer dieser Einkaufstouren auch zum Coiffeur? «Nein, das kann ich mir nicht leisten», sagt Lisa Schnellmann und streicht sich verlegen übers Haar.
«Lisa Schnellmann ist nach den Zahlen des Bundesamtes für Statistik eine von 675 000 Personen in der Schweiz, die unter der Armutsgrenze leben. Das heisst konkret: Der Alleinerziehenden bleiben nach Abzug von Miete und Krankenversicherungen für sich und ihre Kinder rund 1700 Franken monatlich zum Leben. Das sind 55 Franken pro Tag.
«Nur Kinderschuhe kaufe ich neu»
Zu wenig, um neue Dinge anzuschaffen. Kleider und Spielzeug kauft Lisa Schnellmann secondhand. Manchmal bekommt sie auch aussortierte Sachen von anderen Familien geschenkt. «Nur die Kinderschuhe kaufe ich neu», betont Joels und Ellas Mutter und bindet der Kleinen die Schnürsenkel. Ein ausgetretenes Fussbett sei schlecht für die Entwicklung der Füsse.
Am Wochenende geht die Familie meist auf den Spielplatz oder spazieren. Das kostet nichts. Minigolf, ein Glace in der Badi, Chilbi: Was für andere Kinder zum normalen wöchentlichen Freizeitprogramm gehört, erleben Ella und Joel nur in Ausnahmefällen. Lisa spart, wo sie kann. Und weiss doch, dass sie ihren Kindern manche Dinge nicht vorenthalten kann, nicht vorenthalten möchte. Zu ihrem 30. Geburtstag wünscht sich Lisa Schnellmann von ihren Freunden drei Eintrittskarten für den Zoo. Joel und Ella sollen dazugehören. «Aber wenn Joel dreimal im Monat zu einem Kindergeburtstag eingeladen wird, ist das hart für mich.» Damit er dabei sein kann, spart seine Mutter den Rest des Monats beim Essen.
Ella ist noch zu klein, um zu verstehen, dass sie anders lebt als ihre Freundinnen. Joel nicht. Wenn er nach dem Ende der Sommerferien erzählt, wo die anderen in den Ferien waren, kann Lisa Schnellmann das kaum ertragen. «Du musst halt sparen, Mami!» Lisa ist noch nie mit ihren Kindern verreist.
«Früher ging es uns gut», erinnert sich Lisa Schnellmann.
Im Sommer 2018 trennt sich Lisa Schnellmann vom Vater ihrer Kinder. Ihr Ex-Partner zahlt den Unterhalt für Joel und Ella und seine neue Wohnung. Für die ehemals gemeinsame reicht sein Einkommen nicht. Lisa ist krankgeschrieben. Aufgrund schwerwiegender Lebensmittelallergien kann sie nicht arbeiten. Die junge Frau leidet unter den Folgen eines lebensbedrohlichen allergischen Schocks. Es braucht meist mehrere Gründe, um in Armut abzurutschen.
Vorwürfe auf der Sozialbehörde
Mutter und Kinder leben eine Zeit lang von ihrem Ersparten. Das Geld ist schnell aufgebraucht. Anfang 2019 beantragt Lisa Schnellmann Sozialhilfe. Auf der Sozialbehörde wirft man ihr vor, selbst schuld an ihrer Situation zu sein, erzählt Lisa Schnellmann. Ob es wirklich nötig war, dass sich Mami und Papi trennen, habe der Mitarbeiter Joel gefragt.

Das Dorf am Bodensee ist klein, der soziale Druck gross. Neuigkeiten machen schnell die Runde.
«Ich würde auch gerne in der Badi liegen, wenn andere arbeiten», hört sie eines Morgens eine Nachbarin zu einer anderen sagen. «Kein Wunder, dass die Geschäfte bei uns schliessen müssen, wenn alle nur noch in Deutschland einkaufen», entgegnet diese. Lisa schämt sich, auch wenn sie es besser weiss. «Aber ich wünsche mir, dass auch andere sehen, dass ich nicht einfach nur faul bin. Es kann jeden treffen», sagt sie entschieden.
Das beklemmende Gefühl, den Briefkasten zu öffnen
Zum Beispiel Familie Keller aus der Ostschweiz. Andrea Keller gilt zwar offiziell nicht als arm. Da sie jedoch aufgrund der Mehrfachbehinderung ihrer Tochter Mia, 13, beruflich eingeschränkt ist und ihr Ex-Mann die Alimente nur unvollständig überweist, lebt sie in sehr engen finanziellen Verhältnissen. «Ausflüge, Ferien oder Zahnbehandlungen können wir uns nicht leisten», erzählt Andrea. Manchmal bekommt die Alleinerziehende Geld von ihrer Mutter. «Dafür bin ich sehr dankbar», sagt sie – und sie erzählt von dem beklemmenden Gefühl, das sie überkommt, wenn sie den Briefkasten öffnet. «Es könnte eine Rechnung dabei sein und ich weiss manchmal nicht, wie ich die bezahlen soll.»
«Die Existenzängste aufgrund finanzieller Sorgen schlagen ganz klar auf die Psyche», ist sich Melanie Huber sicher. Sie lebt zusammen mit ihrem Partner Thomas und den Kindern Malea, 13, Nick, 9, und Gil, 5, in einer Patchworkfamilie im Kanton St. Gallen. Trotz Vollzeitbeschäftigung reicht Thomas’ Lohn nicht aus. Melanie hat immer wie der depressive Phasen, in denen sie grübelt, wie es weitergehen soll.
Das Wohl der Kinder steht an erster Stelle.
Wenn das Essen nicht für alle reicht, geht Melanie hungrig ins Bett. Das Wohl der Kinder steht für sie an erster Stelle. «Ich versuche, den Kindern die richtigen Werte mit auf den Weg zu geben, sage ihnen, dass Geld nicht alles ist.» Trotzdem schmerzt es sie, ihren Kindern nicht einmal den kleinsten Wunsch erfüllen zu können.
Auch Melanie wünscht sich von anderen mehr Verständnis für ihre Situation: «Wir sind nicht faul, nur weil wir vom Sozialamt unterstützt werden», sagt sie.
Armut hat viele Facetten. Fehlt das Geld für Restaurant, Museums oder Zirkusbesuche, kann Armut in die soziale Isolation führen. Auch die betroffenen Kinder werden aus gegrenzt, wenn sich eine Familie ganz alltägliche Dinge wie einen Kindergeburtstag oder die Klassenreise nicht leisten kann. Zum Schutz der Kinder verheimlichen viele Eltern ihre prekäre finanzielle Situation, weil Armut in unserer Gesellschaft noch immer mit Scheitern assoziiert wird.
Viele suchen aus Scham keine Hilfe
«Um Kinder aus schlechten finanziellen Verhältnissen nicht zu benachteiligen, können die Kosten für Klassenreisen, Mittagstisch oder Nachmittagsbetreuung auf Gesuch hin vom Rektorat oder Sozialamt reduziert oder erlassen werden», sagt Urs Landolt, Rektor der Zuger Stadtschulen. Das Problem: Viele Eltern stellen aus Scham kein Gesuch auf Unterstützung.
Um trotzdem am gesellschaftlichen Leben teilnehmen und ihren Kindern ein normales Leben bieten zu können, versuchen viele Betroffene, ihre finanzielle Misere mit Kleinkrediten oder Leasingkäufen zu kaschieren, was auf Dauer erst recht in die Armut führt. Denn ein ohnehin schon enges Familienbudget vermag die teilweise horrenden Zinsforderungen der Kreditgeber nicht zu verkraften. Die Betroffenen geraten in eine Abwärtsspirale, die oft auf dem Betreibungsamt endet.
«Um sozial nicht abgehängt zu werden, geben sie das Geld aus, anstatt es für Steuern oder andere Verpflichtungen zu sparen.»
André Widmer, Leiter der Zuger Schuldenberatungsstelle Triangel.
Diesen Teufelskreis zu durchbrechen, sei schwierig, sagt André Widmer, Leiter der Zuger Schuldenberatungsstelle Triangel. «Die Leute schämen sich, es ist ihnen peinlich, dass sie kein Geld haben. Um sozial nicht abgehängt zu werden, geben sie das Geld aus, anstatt es für Steuern oder andere Verpflichtungen auf die Seite zu legen. Irgendwann können sie nicht mehr alle Rechnungen bezahlen und machen Schulden.»

Die Schuldenberatungsstelle oder das Sozialamt würden aus Angst vor Ausgrenzung oft erst spät aufgesucht, wenn der Leidensdruck gross und der Weg aus den Schulden beschwerlich sei. André Widmer rät Betroffenen, sich bei finanziellen Schwierigkeiten möglichst frühzeitig an die Gläubiger zu wenden, um mit ihnen eine Lösung zu finden, oder sich bei einer Schuldenberatungsstelle Hilfe zu holen.
Armut ist eine gesellschaftliche Herausforderung
Armut ist kein Randgruppenphänomen, sondern eine gravierende gesellschaftliche Herausforderung. «Viele Betroffene wünschen sich mehr Verständnis für ihre Situation. Sie geben jeden Tag ihr Bestes, um ihren Kindern ein gutes Leben inmitten der Gesellschaft zu ermöglichen», sagt Soziologieprofessor Franz Schultheis.
Lisa Schnellmann hat sich dazu entschieden, mit ihrem Umfeld offen über ihre finanziellen Schwierigkeiten zu sprechen und Hilfe anzunehmen. Seitdem gehe es ihr besser, sagt sie. Trotzdem gebe es immer noch Leute im Dorf, die ihr Faulheit vorwerfen. Sie würde ein Leben auf Kosten ihres Ex-Partners und des Staates führen, heisse es. «Das tut weh», sagt Lisa Schnellmann. Ihr Ziel sei es, ganz gesund zu werden und bald wieder Teilzeit im Büro arbeiten zu können. «Ich wünsche mir finanzielle Unabhängigkeit, denn ich habe mein Geld immer selbst verdient und noch nie zuvor jemanden um Unterstützung bitten müssen.»
* Alle Namen wurden geändert und sind der Redaktion bekannt.
Zur Autorin:
Wer ist in der Schweiz von Armut betroffen?
Eltern mit zwei Kindern, die nach Abzug der Krankenkassenprämien weniger als 3990 Franken pro Monat zur Verfügung haben, leben gemäss der vom Bundesamt für Statistik festgelegten Armutsgrenze unter dem Existenzminimum und sind sozialhilfeberechtigt. Nach Angaben der Schweizerischen Konferenz für Sozialhilfe beziehen über 270’000 Menschen Sozialgeld. Eine unterstützte Familie muss mit rund 18 Franken pro Tag und Person für Essen, Kleidung, Körperpflege, Mobilität, Kommunikation, Unterhaltung und Bildung auskommen. Familien mit einem Einkommen, das das Existenzminimum deckt, aber deutlich unter dem üblichen Einkommensniveau liegt, gelten als armutsbedroht – gemäss aktueller Statistik fallen darunter rund 570’000 Menschen in der Schweiz.
Einige Hilfsorganisationen unterstützen von Armut betroffene Familien. Caritas Schweiz beispielsweise lancierte vor einigen Jahren das Projekt «Mit mir»: Freiwillige Patinnen und Paten verbringen ein- bis zweimal im Monat Zeit mit Kindern aus schwierigen familiären Situationen. So können die Kinder ihre Freizeit kreativ gestalten und ihre Eltern werden entlastet.
Ferienlager für Kinder aus wirtschaftlich schwierigen Verhältnissen!
Die Stiftung Elternsein organisiert in Zusammenarbeit mit der Stiftung Kinderdorf Pestalozziwährend den Sommerferien 2020 in Trogen im wunderschönen Appenzell ein Ferienlager für Kinder. Das Angebot richtet sich an Kinder aus wirtschaftlich schwierigen Verhältnissen, die kaum Ferien ausserhalb der eigenen vier Wände verbringen können.
Die Stiftung Kinderdorf Pestalozzi stellt ein einzigartiges Programm zusammen: Spielen, Basteln, Sport, Wanderungen, Lagerfeuer, Programmieren/Roboter bauen, Musizieren, Tanz, Theaterworkshops, gemeinsam kochen, Radiosendungen produzieren. Für Fussballfans gibts ein besonderes Highlight: ein gemeinsamen Training mit dem FC St. Gallen.
Mit unserem Angebot möchten wir von Armut betroffenen Kindern einige unbeschwerte Ferientage schenken, die Integration sozial Benachteiligter fördern und mithelfen, sich auszutauschen und Freundschaften zu schliessen. Detaillierte Informationen zum Programm und zu den Teilnahmebedingungen folgen in unserer März-Ausgabe.
Eine Aktion der Stiftung Elternsein
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