Erziehung ganz ohne Schimpfen – geht das?

Bilder: Fabian Hugo / 13 Photo
In den meisten Familien gehört es zum Alltag: Eltern schimpfen mit ihren Kindern, mal mehr, mal weniger. Auslöser sind meist Stress und Überforderung. Doch Grenzen und Regeln lassen sich durch Anbrüllen nicht durchsetzen. Und zu viele Wutausbrüche schaden der Entwicklung des Kindes.
Elterliches Schimpfen bewirkt keine Verhaltensänderung bei den Kindern.
Schimpfen bringt familiären Unfrieden
Auf meiner Suche nach Antworten stosse ich schnell auf den Bestseller «Erziehen ohne Schimpfen» von Nicola Schmidt. Die Erziehungsexpertin glaubt, dass Eltern mit Schimpfen jedenfalls nicht das erreichen, was sie erreichen möchten: eine Verhaltensänderung bei ihren Kindern. «Alle Studien weisen darauf hin, dass Schimpfen, Schreien oder gar Strafen nicht funktionieren», schreibt Nicola Schmidt. «Wenn wir unseren Kindern soziale Regeln beibringen wollen, müssen wir es anders angehen.»

Verbale Prügel
«Wir wünschen uns doch heute kreative Kinder mit einem guten Selbstwertgefühl. Kinder, die Nein sagen zu Drogen und zu falschen Freunden. Kinder, die sich selbst bejahen. Aber der Selbstwert kann nicht wachsen, wenn man immer wieder seelisch verletzt wird», sagt Nina Trepp, Familienberaterin aus Bern. Die 39-Jährige hat Soziale Arbeit studiert und viele Jahre als Schulsozialarbeiterin gearbeitet, inzwischen ist sie selbständig als «artgerecht»-Coach und diplomierte Körperzentrierte Psychologische Beraterin.
Um Zurechtweisung kommen Eltern nicht herum. Entscheidend ist, wie diese geschieht.
Kinder bringen ihre Eltern oft zur Weissglut. Häufig unabsichtlich, manchmal aber auch gezielt. Kinder experimentieren. Ihre Erziehungsberechtigten reagieren darauf. Sie müssen vermitteln, wann eine Grenze überschritten wurde. Wie soll ein Kind sonst lernen, dass eine bestimmte Verhaltensweise andere verärgert? Zu Familienberaterin Nina Trepp kommen viele Eltern, die sich genau diese Fragen stellen.
Online-Dossier

Die Situation kritisieren, nicht das Kind
Ein Kind will eigentlich kooperieren, kann aber gerade nicht, weil eine andere Kraft in ihm stärker ist.
«Um Zurechtweisungen kommen Eltern nicht herum», sagt Kinder- und Jugendpsychologe Guy Bodenmann, Professor für Klinische Psychologie mit Schwerpunkt Kinder, Jugendliche und Paare/Familien an der Universität Zürich. Kindern muss mitgeteilt werden, wenn sie eine Grenze überschritten haben. Wichtig ist laut Guy Bodenmann dabei das «Wie» der Zurechtweisung: Wie ist die Sprache, Gestik, Mimik? Drücken sich die Eltern altersgemäss und verständlich aus? Wurde klar signalisiert, was die Eltern vom Kind erwartet haben? Davon hängt ab, welchen nachhaltigen Eindruck die Zurechtweisung beim Kind hinterlässt.
Schuld ist tragisch, Verantwortung ist magisch
Und was, wenn das nicht gelingt? Wir lauter geworden sind, als wir es sein wollten? Und vor allem beleidigend? Kann dann eine Entschuldigung die bösen Worte ungeschehen machen? Trotz bester Vorsätze passiert das schliesslich den meisten von uns. «Ich empfinde eine Aussage des Pädagogen Jesper Juul da als sehr hilfreich», sagt Familienberaterin Nina Trepp. «Schuld ist tragisch, Verantwortung ist magisch.» Wenn Eltern sich für ihre Fehler entschuldigen, falle ganz viel Belastung weg. Den Kindern gehe es besser, weil sie sich wertgeschätzt fühlten. Ausserdem wachse bei Kindern und Eltern das Verständnis füreinander und für die Streitauslöser.

Wenn man als Vater oder Mutter also ständig zu laut und verletzend wird, sagt das oft mehr über einen selbst aus als über seine Kinder. Wenn ich rekapituliere, wann zwischen mir und meinen Kindern Streit ausbricht, sind das fast immer Momente, in denen ich das Gefühl habe, Alltagsabläufe nicht mehr unter Kontrolle zu haben. Ich höre mich dann manchmal Sätze sagen, die ich aus meiner Kindheit kenne und die ich eigentlich ablehne. So als ob in diesen Stressmomenten mein rationales Lösungswissen von alten Mustern überlagert wird.
Jesper Juul hat die These aufgestellt, dass Eltern zwanzig Fehler pro Tag im Umgang mit ihren Kindern machen können, ohne dass diese Schaden nehmen. Guy Bodenmann sagt: «Ein Kind, das in einem Klima von Liebe und Wohlwollen aufwächst, verkraftet es, wenn die Eltern auch mal aus der Haut fahren.» Ein Schlüsselfaktor dabei sei der Umgang mit Zeit in der Familie. «Es geht darum, wie viel Zeit ich meinen Kindern und meiner Partnerschaft insgesamt zur Verfügung stelle. Und es geht darum, den richtigen Augenblick zu nutzen und für mein Kind da zu sein, wenn es mich braucht. Es gibt Momente, da muss ich sofort verfügbar sein und meinem Kind Aufmerksamkeit schenken.»
Eine Frage der generellen Haltung
Die Wahrheit ist aber auch: Es geht nicht nur darum, wie entspannt Eltern ihren Erziehungsauftrag wahrnehmen. Es geht auch um die generelle Haltung gegenüber Kindern. Viele Eltern organisieren wie ich ihren Alltag nach einem straffen Zeitplan. Das Berufsleben mit Kindern funktioniert sonst nicht. Wenn mein Job-Ich auf mein Mutter-Ich trifft, kommt es allerdings zu Komplikationen. Ich erwarte oft, dass meine Kinder sich in meine Zusammenreissen-und-Weitermachen-Haltung einfügen und wie kleine Erwachsene agieren. Tun sie aber nicht. Warum sollten sie auch?
Daraus folgt aber nicht, dass ein Kind unsozial ist oder Probleme mit Regeln hat, sagt Nicola Schmidt. Ein Beispiel: Das Kind soll helfen, hilft aber nicht. Die «artgerecht»-Gründerin erklärt: «In dieser Situation sollen wir daran denken: Ein Kind will eigentlich kooperieren. Aber momentan ist eine andere Kraft stärker, vielleicht ist es müde oder einfach zu träge. Wir können das Kind nun unter Druck setzen, indem wir schimpfen.» Das, so die Familienberaterin, hilft aber höchstens, den elterlichen Druck abzubauen. Nicola Schmidt findet es sinnvoller, Verständnis für das müde Kind zu zeigen. Und sie ist überzeugt, dass Kinder, die sich so ernst genommen fühlen, dann auch eher kooperieren.
Und wenn wieder ein Nein kommt? Muss man das vielleicht einfach akzeptieren.
Wenn meine Kinder mich ansprechen und etwas von mir wollen, sage ich ziemlich oft: «Kann das kurz warten? Ich brauche noch einen Moment.» Das gleiche Recht sollte ich den Kindern zusprechen, meint Familiencoach Nicola Schmidt. Eltern sollten sich selbst bewusst machen, wie dringlich ein Anliegen ist und ob man beispielsweise ein Gespräch oder einen Auftrag verschieben kann, bis das Kind eine Spielpause macht.
Ich beherzige das in den Wochen nach dem letzten heftigen Streit. Als der nächste Besuch ansteht, plane ich Zeit und Aufgaben zusammen mit den Kindern. Ich stelle den Timer auf 30 Minuten. So lange sitze ich am Computer, so lange sollen die beiden ihre Sachen wegräumen. Die Kinder dürfen währenddessen ein Hörbuch hören, was ihre Effektivität stark einschränkt. Meine übrigens auch, denn die Geschichte ist gut. Am Ende der vereinbarten Zeit sieht ein Teil des Bodens immer noch aus wie eine Legolandschaft. Ich habe meine Arbeit nicht ganz fertig. Aber als der Besuch in unserem Chaos eintrifft, ist die Stimmung gut.

6 Tipps für eine Erziehung ohne Schimpfen
- Statt zu schimpfen: «Was bist du nur schon wieder für ein Faulpelz!», sagen wir, was wir sehen: «Deine Kleider von gestern Abend liegen noch überall herum.» Wenn das Kind nicht reagiert, können wir noch hinterherschicken, was wir uns wünschen: «Ich möchte, dass es hier ordentlich aussieht, wenn gleich Besuch kommt. Bitte bring deine Sachen weg.»
- Statt uns zu ärgern: «Jetzt hör auf, im Supermarkt herumzurennen!», bieten wir den Kindern eine Alternative: «Du kannst für uns fünf Zitronen aussuchen.»
- Statt zu nörgeln: «Nie hilfst du mir», sagen wir, was uns wirklich helfen würde: «Wenn du jetzt vier Teller und vier Gläser auf den Tisch stellst, können wir früher essen. Das wäre mir eine grosse Hilfe.»
- Statt zu rufen: «Kleckere nicht!», sagen wir, was wir wollen und was nicht: «Ich möchte, dass du über deinem Teller isst, damit die Sauce nicht auf deine Hose tropft.»
- Statt zu bestimmen: «Du ziehst jetzt die Hose an und basta!», lassen wir dem Kind eine Wahl: «Ohne Hose kannst du nicht auf die Strasse. Welche möchtest du, die blaue oder die rote?»
- Statt auszurasten und zu brüllen, ziehen wir rechtzeitig eine Grenze: «Mir ist das hier zu laut. So geht das nicht.» Und dann halten wir das Auto an oder steigen aus dem Bus aus oder verlassen das Café.
Literatur
Gräfe und Unzer 2019, 176 Seiten, ca. 24 Fr.
Linda Syllaba und Daniela Gaigg: Die Schmipf-Diät.
Beltz 2019, 268 Seiten, ca. 25 Fr.
Jeannine Mik und Sandra Teml-Jetter: Mama, nicht schreien.
Kösel 2019, 224 Seiten, ca. 25 Fr.

Lesen Sie mehr zum Thema Erziehen ohne Schimpfen:
- «Die Wut auf meinen Ex-Mann überträgt sich manchmal auf die Kinder»
Susanna*, 43, lebt mit ihren Söhnen Marco, 12, und Dominik, 9, in der Nähe von Chur. Die Lehrerin hat sich vor zwei Jahren vom Vater der beiden Jungen scheiden lassen. - «Meine Wutausbrüche hatten viel mit meiner Kindheit zu tun»
Dominique Eichenberger lebt mit ihrem Mann Jan und den beiden Kindern Yannick, 5, und Sophie, 3, in der Nähe von Bern. Vor zwei Jahren hat die 30-jährige Pflegefachfrau eine Familienberatung begonnen, weil sie das Gefühl hatte, bei der Erziehung von Yannick zu oft laut und grob zu werden. Auch ihr Mann hat sich beraten lassen. - «Bevor ich komplett ausraste, ziehe ich mich zurück»
Karin Lerchi, 50, ist selbständige Catering-Unternehmerin. Die alleinerziehende Mutter lebt mit ihrer 13-jährigen Tochter Alva in Zürich. Wegen Corona ist ihre berufliche Situation angespannt. Gleichzeitig fordert der Teenager Freiheiten – das provoziert Konfliktsituationen. - «Strafen bewirken keine Verhaltensänderung»
Lisa Briner und Noé Roy sind beide 28 Jahre alt. Die Buchhalterin und der Produktmanager leben mit ihren Töchtern Amélie, 4, und Inès, 2, in Bern. Sie sind jung Eltern geworden und wussten, dass sie den autoritären Erziehungsstil ihrer eigenen Elternhäuser nicht übernehmen wollten.