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Was ist mein Lebensthema?

Lesedauer: 4 Minuten

Viele von uns tragen Überzeugungen in sich, die in frühen Kinderjahren entstanden sind – und geben sie unbewusst an die eigenen Kinder weiter.

Text: Stefanie Rietzler
Illustration: Petra Dufkova / Die Illustratoren

Wir alle leben mit persönlichen Achillesfersen: besonders em­pfindlichen und verwundbaren Stellen unserer Psyche. Und durch unser aller Leben ziehen sich bestimmte Themen, die uns über Jahre begleiten: Vielleicht fällt es Ihnen schon immer schwer, sich Fehler zu verzeihen, trotz Gegenwind für sich und Ihre Meinung einzustehen, anderen Menschen zu vertrauen oder Risiken einzugehen, um ihre Träume zu verwirklichen?

Der Ursprung solcher «Lebensthemen» liegt häufig in der eigenen Kindheit, insbesondere in der Art und Weise, wie unsere wichtigsten Bezugspersonen mit uns und unseren Bedürfnissen umgegangen sind. Diese Prägungen wirken in uns fort – und beeinflussen wiederum, wie wir auf unsere eigenen Kinder zugehen.

Je besser wir unsere Kindheitsprägungen verstehen und uns aktiv mit ihnen auseinandersetzen, desto freier und unbeschwerter werden wir. Und desto eher können wir die Eltern sein, die wir gerne sein möchten.

Auf diesem Weg hilft uns zunächst ein Blick auf unsere psychischen Grundbedürfnisse, die als innerer Motor wirken, und die Frage, inwiefern unsere Eltern diesen Rechnung tragen konnten:

  • Bindung: Habe ich mich von meinen wichtigsten Bezugspersonen geliebt und bei ihnen geborgen gefühlt?
  • Kompetenz und Selbstwirksamkeit: Durfte ich erleben, dass ich etwas kann, Ziele erreiche und durch meine Bemühungen etwas bewirken kann?
  • Selbstwerterhöhung und Selbstwertschutz: Habe ich genügend Anerkennung und Wertschätzung erfahren oder wurde ich häufig abgewertet und beschämt?
  • Autonomie: Durfte ich meinen eigenen Kopf haben, im Familienalltag mitentscheiden und eigene Wege gehen oder wurde erwartet, dass man sich fügt?
  • Lustgewinn: Habe ich viele unbeschwerte Momente, Freude, Genuss und Entspannung erlebt  oder standen in meiner Kindheit Pflichterfüllung, harte Arbeit und Entbehrung über allem?

Von Grundbedürfnissen zu ­Grundüberzeugungen

Die Art und Weise, wie die wichtigsten Bezugspersonen mit uns und unseren Bedürfnissen umgehen, prägt uns nachhaltig und beeinflusst, wie wir die Welt sehen.

Werden unsere Grundbedürf­nisse in der Kindheit überwiegend erfüllt, bilden sich hilfreiche Grundüberzeugungen aus wie: «Ich bin liebenswert», «Ich kann etwas», «Ich kann mich auf andere verlassen», «Ich darf Fehler machen», «Meine Ansicht zählt» oder «Ich darf Hilfe in Anspruch nehmen».

Je besser wir die Prägungen aus unserer eigenen Kindheit verstehen, desto eher können wir jene ­Eltern sein, die wir sein möchten.

Manchen Eltern gelingt es nicht, auf wichtige psychische Grundbedürfnisse ausreichend einzugehen. Werden Kinder vernachlässigt, oft mit sich und ihren Gefühlen alleine gelassen, kontrolliert oder andauernd abgewertet und bestraft, können sich negative Grundüberzeugungen herausbilden wie: «Ich bin nichts wert», «Ich bin eine Belastung», «Was ich möchte, zählt nicht», «Ich bin dumm», «Ich komme zu kurz» oder «Ich bin schuld».

Gewalt an Kindern geht durch alle sozialen Schichten

Die Forschung zeigt: Psychische Gewalt an Kindern betrifft nicht nur sogenannte Problemhaushalte, sondern alle sozialen Schichten. Dies spiegelt auch der Befund der «Studie zum Bestrafungsverhalten von Eltern in der Schweiz». 

Im Gegensatz zu Körperstrafen, auf die im Schnitt öfter jüngere Eltern, solche mit mehreren Kindern oder jene mit Migrationshintergrund zurückgreifen, zeigen sich im Fall von psychischer Gewalt keine vergleichbaren Zusammenhänge.

Gemein ist allerdings beiden Gewaltformen, dass sie bei Eltern mit höherem Bildungsstand weniger zum Einsatz kommen – dies, so die Forscherinnen und Forscher, zeige sich im Fall von psychischer Gewalt noch deutlicher als bei körperlicher.

Die meisten Menschen haben in der Kindheit erfahren, dass ihre Bedürfnisse nur unter bestimmten Umständen erfüllt wurden. Daraus haben sie unbewusste Regeln oder Pläne abgeleitet. Diese sind vielfach als «Ich muss …»- oder «Ich darf nicht …»- Sätze in ihnen abgespeichert.

Beispiele wären: «Ich muss immer alle Erwartungen erfüllen», «Ich darf keine Fehler machen», «Ich muss perfekt sein», «Ich darf nicht widersprechen», «Ich muss stark sein», «Ich muss mich immer nützlich machen», «Ich muss immer für andere da sein» oder «Ich darf keinen eigenen Willen haben».

Wenn wir solche Überzeugungen bei uns selbst identifizieren, ist es sehr hilfreich, sich zu fragen: Was befürchte ich denn? Vielleicht merken wir dann, dass wir in unserer Kindheit gelernt haben: «Wenn ich widerspreche, dann tickt mein Vater aus»,  «Nur wenn ich erfolgreich bin, werde ich geliebt» oder «Wenn ich etwas für mich tue, dann finden die anderen mich egoistisch und wenden sich von mir ab».

Glaubenssätze bilden sich überwiegend in den ersten Lebensjahren aus. Oft tragen wir sie für den Rest unseres Lebens mit uns herum. Die meisten Menschen haben einige spezifische Lebensthemen, die immer wieder zu Problemen führen: Wer glaubt, perfekt sein zu müssen, wird sich immer wieder unzulänglich und wertlos fühlen – und sich früher oder später verausgaben.

Wer einen Glaubenssatz wie «Ich darf nicht widersprechen» oder «Ich muss immer auf andere Rücksicht nehmen» verinnerlicht hat, wird sich in Beziehungen unterordnen und läuft Gefahr, dominante und egoistische Partnerinnen beziehungsweise Partner anzuziehen. Die Überzeugung, stets stark sein und alles alleine schaffen zu müssen, kann zu Entfremdung und Überforderung führen.

Ab und zu gründlich ausmisten!

Es lohnt sich, im Erwachsenenalter eine Inventur unseres Innenlebens zu machen und uns zu fragen: ­Welche Glaubenssätze wirken noch heute in mir? Welche davon bestärken mich? Und welche ziehen mich herunter?

Letzteren können wir mit einer wirksamen Strategie aus der kognitiven Verhaltenstherapie zu Leibe rücken: der kognitiven Umstrukturierung. Dabei setzen wir uns bewusst mit unseren Gedanken auseinander, hinterfragen sie und suchen aktiv nach neuen, gesünderen Ansichten.

Und so können Sie vorgehen: Schreiben Sie einen Glaubenssatz auf, der Sie belastet. Etwa: «Ich muss immer für andere da sein!» Nun prüfen Sie diesen Satz auf Herz und Nieren:

  • Woher kommt diese Ansicht?
  • Hilft mir dieser Gedanke?
  • Stimmt dieser Satz (heute noch)? Gibt es Beweise dafür? Welche Gegenbeweise könnte ich ins Feld führen?
  • Ist diese Forderung überhaupt realistisch?
  • Was würde eine gute Freundin, ein guter Freund zu dieser Überzeugung sagen?
  • Wie sähe mein Alltag aus, wenn ich diesen Glaubenssatz loslassen könnte?

Vielleicht merken Sie, dass der Glaubenssatz «Ich muss immer für andere da sein» in Ihrer Ursprungsfamilie seine Berechtigung hatte und Sie tatsächlich nur dann Liebe und Anerkennung erhalten haben, wenn Sie sich für andere nützlich machten. Gleichzeitig kann man feststellen, dass man sich heute aufgrund dieser Überzeugung zu wenig um die eigenen Bedürfnisse und Gesundheit kümmert.

Vielleicht fallen Ihnen auch Situationen ein, in denen Ihnen andere, wichtige Menschen zurückgemeldet haben, dass sie gar nicht wollen, dass Sie sich aufopfern. Oder Sie merken, wie unangenehm es Ihnen selbst ist, wenn jemand anderes nach diesem Glaubenssatz lebt und beispiels­weise die eigene Mutter sich bei der Familienfeier bis zur Erschöpfung um alle kümmert, sich aber partout nicht helfen lässt.

Nun können Sie Ihren Glaubenssatz bewusst umformulieren, sodass er realistischer wird und Ihre eigenen Bedürfnisse berücksichtigt, zum Beispiel: «Ich darf entscheiden, wann ich für andere da sein möchte und wann ich für mich selbst sorge.» Überlegen Sie sich, in welchen konkreten Alltagssituationen Sie dazu neigen, sich für andere zu verausgaben. Wie könnten Sie sich in diesen Momenten zukünftig an Ihren neuen Glaubenssatz erinnern und entsprechend handeln?

Stefanie Rietzler
ist Psychologin und Autorin. Gemeinsam mit Fabian Grolimund leitet sie die Akademie für Lerncoaching, ein Beratungs- und Weiterbildungsinstitut. Sie lebt mit ihrem Mann und ihrem Sohn in Zürich.

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