Was unser Essen über uns aussagt
Du bist, was du isst: Das sei keine Binsenweisheit, sondern eine Tatsache, sagt der Wissenschaftler Daniel Kofahl. Er betrachtet durch die Soziologenbrille, was auf unserem Teller landet.
Wie Ernährung zum Kult wurde
Abweichler gibt es immer mehr, und der Konsens darüber, was und wie gegessen werden soll, bröckelt. Dies sieht Kofahl als natürliche Folge der Tatsache, dass Essen heute nicht mehr allein dazu dient, den Hunger zu stillen.
Es drängt sich der Eindruck auf, das Essen diene nicht mehr der Nahrungsaufnahme, es sei Medizinersatz.
Der Überfluss lässt uns die Wahl, und die zwingt uns abzuwägen: Was wollen wir essen? Und vor allem: was nicht? Im Dschungel der Möglichkeiten, so scheint es, dient uns vor allem das Ideal des vitalen Körpers als Kompass. Wir beurteilen Lebensmittel nach ihrer gesundheitsfördernden Wirkung und geraten dabei in allerlei Verstrickungen. Es drängt sich der Eindruck auf, Essen sei von der Nahrungsaufnahme zum Medizinersatz avanciert.
Reden übers Essen: keine Luxuserscheinung
Dass wir uns so intensiv mit der Wirkung des Essens auf unseren Körper befassen, hat gemäss Kofahl aber auch viel mit einem gesellschaftlichen Widerspruch zu tun. «Es ist geradezu paradox, dass wir in einer Gesellschaft leben, in der immer mehr Leute wohlbeleibt sind, das aber stigmatisiert anstatt kultiviert wird», sagt der Soziologe. «Dieser Konflikt führt dazu, dass wir uns intensiv mit unserer Ernährung auseinandersetzen.»
Reden wir demnach zu oft übers Essen? «Das finde ich wiederum gar nicht», so Kofahl. «Essen ist etwas Notwendiges und Sinnliches zugleich, warum sollten wir nicht ausgiebig darüber nachdenken und diskutieren?» Dieses Phänomen sei keine Luxuserscheinung in reichen Gesellschaften, sondern ein Grundbedürfnis, das sich in allen Kulturen beobachten lasse: «Indem Menschen das Essen zu sich nehmen, von dem sie durch kollektiv geteiltes Wissen glauben, es sei das richtige, stellt ihr Körper schliesslich ein konkretes Produkt dieser Diskurse dar.»
So werde selbst in Stammesgesellschaften über das Essen geredet, bloss mit anderem Fokus. Da gehe es dann eben um Moral, Mythen und Religion.
Machtfragen und Statussymbole
Umgekehrt beurteilten wir die Einstellung der anderen nach dem, was diese auf dem Teller hätten. So werde zum Beispiel billiges Essen in vielen Milieus sozial sanktioniert. Als Beispiel führt Kofahl das Hühnchen vom Discounter an: «Seine Konsumenten stehen im Verdacht, das eigene Wohl über das der anderen zu stellen: der Tiere, der Umwelt oder derer, die es unter widrigen Umständen produzieren müssen.»
Andere wiederum, sagt der Soziologe, werteten den Konsum von teuren Bioprodukten als Wichtigtuerei und Geldverschwendung. Eine Beziehung zum Essen ohne Statusdenken sei kaum realistisch, weil wir in einer Kultur lebten, die jeden nach seiner sozialen Position einordne. «Was aber möglich sein sollte», sagt Kofahl, «ist eine entspanntere Haltung. Das bedeutet, auch mal Fünf gerade sein zu lassen und sich bewusst zu machen, wie gut es einem geht.»
Beim Essen können Kinder das Machtverhältnis in der Familie umkehren – durch heimlichen Süssigkeitenkonsum oder Rebellion am Familientisch.
«Essen und Trinken vermitteln kulturelle Regeln und Normen», sagt Kofahl. «Es stellt sich daher automatisch die Frage nach Durchsetzung und Widerstand.» Was sich in der Weltgeschichte beobachten lässt, hat laut dem Soziologen auch am Familientisch Gültigkeit: «Machtfragen müssen nicht autoritär gelöst werden, es sind auch Kompromisse und aufklärerische Überzeugungsarbeit möglich.» Und vor allem müssten Eltern vorleben, was sie durchsetzen wollen: «Wer das nicht tut, ist unglaubwürdig.»
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