Frau Eser, warum wird jemand Jihadist? - Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
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Frau Eser, warum wird jemand Jihadist?

Lesedauer: 8 Minuten

Warum radikalisieren sich Jugendliche? Und was können Eltern tun, wenn sie merken, ihr Kind gerät auf Abwege? Ein Gespräch mit der Radikalismusforscherin Miryam Eser Davolio über Jihadismus, den Wunsch vieler junger Männer nach Orientierung und die Frage, ob Menschen mit Migrationshintergrund besonders gefährdet sind. 

Frau Eser, wie kommt man auf die Idee, Jihadist(in) zu werden? 

Sich zu radikalisieren, hat meist vielfältige Ursachen. Grundsätzlich kann es sowohl politische als auch religiöse Beweggründe geben. Meist besteht aber kein profundes religiöses Vorwissen, deshalb können die Betroffenen die religiösen Botschaften weniger gut einordnen und sind einfacher zu manipulieren. Stammen Jihadisten nicht zwingend aus religiösen Familien? Nein. Die Aussagen des Nachrichtendienstes und des Fedpol zeigen, dass Jihadisten in der Regel nicht aus streng religiösen, sondern aus säkularisierten Familien stammen. Ausserdem gibt es einige Konvertiten in der Schweiz, die sich radikalisiert haben. Insgesamt machen sie einen Fünftel der jihadistisch motivierten Reisenden in Konfliktgebiete aus.

Stammen Jihadisten nicht zwingend aus religiösen Familien? 

Nein. Die Aussagen des Nachrichtendienstes und des Fedpol zeigen, dass Jihadisten in der Regel nicht aus streng religiösen, sondern aus säkularisierten Familien stammen. Ausserdem gibt es einige Konvertiten in der Schweiz, die sich radikalisiert haben. Insgesamt machen sie einen Fünftel der jihadistisch motivierten Reisenden in Konfliktgebiete aus.

«Jihadisten stammen in der Regel nicht aus besonders religiösen Familien.»

Extremismusforscherin Miryam Eser Davolio 

Am Anfang steht also nicht das religiöse Bedürfnis im Vordergrund?

Genau. Es geht vielmehr um Orientierungslosigkeit und die damit verbundene Sinnsuche. In der Pubertät sind Jugendliche ja in einem sensiblen Alter, sie sind auf Identitätssuche. Der Jihadismus befriedigt diese Suche mit Idealismus und der Utopie, einen neuen Staat mit einer klaren Weltordnung aufzubauen.

Und zementiert alte Rollenbilder. 

Jihadismus bedeutet immer auch Inszenierung. Der IS weiss sehr genau, dass junge Männer sich von klassischen Heldenbildern, von inszenierter Männlichkeit und von klaren Feindbildern angezogen fühlen. Rausgehen und gemeinsam einen Kampf gegen einen Feind führen – das ist ein uralter Topos.

Gibt es Zahlen über Jugendliche, die jihadistisch motiviert in Kriegsgebiete reisen? 

Die Zahl von jihadistisch motivierten Reisenden in Konfliktgebiete ist in der Schweiz gemessen an der Landesbevölkerung im Vergleich zu unseren europäischen Nachbarländern weniger hoch. Insbesondere Belgien und die skandinavischen Länder als auch die Niederlande, Grossbritannien, Frankreich, Österreich und Deutschland weisen höhere Zahlen auf, doch sind solche Vergleiche mit Vorsicht anzustellen, bilden sie doch nur das ab, was die nachrichtendienstlichen Ermittlungen ergeben, und nicht alle Länder erfassen diese nach denselben Kriterien. Von den Zahlen des Nachrichtendienstes wissen wir aber, dass es sich hierzulande um ein vorwiegend männliches Phänomen handelt, das heisst um Männer zwischen 20 und 35 Jahren. Von den 66 Fällen sind 12 Konvertiten – Letztere haben alle einen Schweizer oder einen EU-Pass. Was Bildung, sozialeHerkunft und ökonomische Verhältnisse angeht, gibt es aber kein typisches Profil.
«Hinter plötzlichem Radikalismus kann allenfalls auch nur Protestpotenzial stecken», sagt die Forscherin Miryam Eser Davolio zur Frage, was Jugendliche in den Jihad treibt. Bild: Hans Schürmann / 13 Photo
«Hinter plötzlichem Radikalismus kann allenfalls auch nur Protestpotenzial stecken», sagt die Forscherin Miryam Eser Davolio zur Frage, was Jugendliche in den Jihad treibt. Bild: Hans Schürmann / 13 Photo

Wie steht es mit den jungen Frauen? 

Auch diese werden mit einem klaren Rollenverständnis und dem damit verbundenen Rückzug auf das Weibliche angelockt. Dies ist zusammen mit der romantischen Vorstellung, mit einem Helden und Kämpfer zusammenzuleben, für viele junge Frauen attraktiv. Hinzu kommt – und das gilt für beide Geschlechter – das Bild der egalitären, also gleichwertigen Bruder- und Schwesternschaft. Beides deckt das Bedürfnis nach Gemeinschaft, aber auch nach Anerkennung und Solidarität ab.

Social Media spielen bei der Rekrutierung eine grosse Rolle. Welches sind da ihre Erfahrungen?

Wir haben drei Fake-Profile auf Facebook gestellt, um zu sehen, welche Reaktionen diese auslösen. Zwei waren weiblich. Das Profilbild zeigte je eine verschleierte Frau, der eine Name deutete auf eine nordafrikanische Herkunft hin, der andere war ein Schweizer Name. Wir unterlegten das Profil mit einer Koransure. Innert weniger Stunden bekam das eine Profil 341 Freundschaftsanfragen und mehrere Heiratsanträge. Auch das andere weibliche Profil fand viel Anklang. Das männliche Profil fand eher wenig Beachtung.

Wie läuft eine IS-Anwerbung genau ab?

 Die IS-Propaganda richtet sich an unterschiedlichste Zielgruppen, und die Anwerbung läuft psychologisch sehr raffiniert. Indem man gewisse Messages liked, gerät man auf weitere Websites mit immer eindeutigerem Inhalt. Dann wird man zum Beispiel auf Facebook angesprochen und beginnt einen Chat, der sich sehr lange hinziehen kann und durch den man weitere Freunde gewinnt und sich so weiter vernetzt. Zentrales Thema in der Kommunikation sind meist die Ungerechtigkeiten gegenüber Muslimen in Syrien und anderswo sowie die Aussicht auf eine neue, gerechte Gesellschaftsordnung, die alle herrschenden Probleme zu lösen vermag. Bis es aber dazu kommt, dass der oder die Jugendliche sich schliesslich ein Flugticket kauft, ist meist ein längerer Weg.

«In der Schweiz hat spätestens mit dem Minarettverbot ein Polarisierungsprozess in der Gesellschaft begonnen, der auch politische Dimensionen hat.»

Extremismusforscherin Miryam Eser Davolio

Soziologen betonen, dass gerade der islamische Extremismus sehr geschickt manipuliert. 

Die Hinwendung zu salafistischen Gruppierungen operiert mit alternativen Sinn- und Glaubenswelten und propagiert ein Schwarz-Weiss-Weltbild. Zum Beispiel: Die USA und der Westen seien die Bösen, welche die Araber unterdrückten und zum Opfer machten. Dieses Schwarz-Weiss-Denken wird auch auf die Beurteilung internationaler Konflikte übertragen und mündet in eine Opferideologie, welche mit einem starken Antiamerikanismus sowie Antisemitismus verbunden ist. In der Folge sehen sich solche radikalisierten jungen Menschen als Avantgarde einer religiösen Revolution mit strenger sozialer und moralischer Verpflichtung – bis hin, das eigene Leben für diese Ideale aufs Spiel zu setzen.

Welche Rolle spielen Videos, in denen Gewalt gegen Muslime gezeigt wird?

Eine grosse. Die Gewalt wird oft sehr explizit dargestellt. Es werden Bilder aus Syrien von Kinderleichen oder Vergewaltigungen durch US-Soldaten gezeigt, die zur Gegenwehr und in der Folge zum Kampf auffordern. Das hat eine grosse Anziehungskraft und löst starke Emotionen aus. 

Was kann die Motivation eines gut ausgebildeten jungen Menschen sein, sein Leben hier für die Existenz in einem Kriegsgebiet aufzugeben? 

Vielleicht hilft ein Beispiel. Ein Rückkehrer aus Syrien stellte in Interviews seine Motivation dar, in den Krieg zu ziehen. Als einen Beweggrund nannte er den Willen, gegen die Massaker, welche Baschar al-Assad gegen sein eigenes Volk beging, in den Krieg zu ziehen. Er wollte aber auch ein persönliches Projekt, eine Fotoreportage über die Situation vor Ort im Sinne eines Augenzeugenberichts, realisieren, und er hatte den Wunsch, einen Gleitschirmflug in Syrien zu machen. Diese drei Motivationen illustrieren humanitäre Ziele, das Bedürfnis nach sozialer Anerkennung und den Drang nach dem Erleben starker Emotionen. Als er aber vor Ort war, realisierte er sehr schnell, dass sich seine Absichten nicht mit denen der anderen Personen deckten. Er weigerte sich zum Beispiel, Waffen zu tragen. Die Heimreise wurde ihm verweigert, stattdessen wurde er ins Gefängnis gesteckt und dort sehr schlecht behandelt.
Miryam Eser Davolio untersucht die Hintergründe von Radikalismus. Bild: Hans Schürmann / 13 Photo
Miryam Eser Davolio untersucht die Hintergründe von Radikalismus. Bild: Hans Schürmann / 13 Photo

Jugendliche befinden sich in der Pubertät – eine Phase im Leben, in der man das Extreme sucht. Wie erkennen Eltern, dass die Faszination für Radikalismus mehr ist als bloss pubertäres Gehabe? 

Das ist wirklich nicht einfach. Denn die Pubertät ist ja die Epoche der Sinnkrise schlechthin. Wir kennen das aus unserem eigenen Leben, dass wir uns als Teenager für Ideale und gegen Unrecht einsetzen wollten. Diese Hinwendung zu etwas ganz Radikalem hat auch mit der Tendenz zu Schwarz-Weiss-Denken und mit dem Wunsch, Ideen in die Tat umzusetzen, zu tun. Doch es kann auch nur ein Protestpotenzial dahinterstecken. Selbst salafistische Kleidung kann ein Ausdruck sein, die grösstmögliche Distanz zu den Eltern und ihrem Lebensentwurf zu schaffen.

Sie sagen, dass die Eltern oft als Letzte vom neuen Leben ihres Kindes erfahren. 

Eltern merken es oft tatsächlich erst spät. Zuerst erfahren Freunde oder Geschwister davon, auch, weil sie zum Teil über soziale Netzwerke miteinander verbunden sind. Man verändert sein Profilbild, postet etwas Religiöses oder Ähnliches. Wer damit nicht vertraut ist – und das sind viele Eltern –, bekommt das gar nicht mit. Die muslimischen Eltern, welche meist einen gemässigten Islam leben, merken zwar, dass ihr Sohn oder ihre Tochter plötzlich fundamentalistische Ansichten vertritt und sie beschuldigt, keine richtigen Muslime zu sein, doch vermuten die wenigsten, dass dies zum Entschluss, den IS zu unterstützen, führen kann. Wir haben in der Schweiz rund 400 000 Muslime. Sie stellen die grösste nicht anerkannte religiöse Minderheit dar. Trotzdem schätzen sie den Extremismus als genauso abwegig und gefährlich ein wie der Rest der Gesellschaft.

«Frustration und Resignation machen empfänglich für radikale Positionen.»

Extremismusforscherin Miryam Eser Davolio

Was kann man denn als Eltern eines Kindes, das auf Abwege gerät, tun? 

Darauf gibt es keine allgemeingültige Antwort. Sicher sollten sie sich Rat und Unterstützung holen, denn alleine sind sie mit dieser schwierigen Situation meist überfordert und erreichen ihren Sohn oder ihre Tochter nicht. Sie können auch die Notbremse ziehen, indem sie selber eine Gefährdungsmeldung machen, damit die Behörden aktiv werden und auf den Jugendlichen Druck ausgeübt werden kann, damit er sich an einen Tisch setzt und offen für ein Gespräch ist.

Welche Rolle spielen die Moscheen in der Schweiz? 

Die meisten muslimischen Gemeinschaften in der Schweiz sind moderat und diskret. Sie möchten in der Öffentlichkeit nicht negativ auffallen und verschliessen deshalb sich radikalisierenden Jugendlichen oft die Türe. Dabei hätten sie unter Umständen noch die Möglichkeit, sich auf religiöser Ebene mit den Jugendlichen auseinanderzusetzen und ein Korrektiv zu sein. Die Angst vor den Medien mag da eine Rolle spielen. Auch haben einige muslimische Gemeinschaften wenig Kontakt zu ihren Jugendlichen und machen keine Jugendarbeit. Diese wäre aber wichtig, damit sich Jugendliche auseinandersetzen können und auch ein Korrektiv erhalten, zum Beispiel in Bezug auf gewisse Prediger im Internet, welche als gefährlich einzustufen sind. Wir befürworten zudem Beratungsstellen, an die sich Hilfe suchende Eltern, Imame und auch Lehrer wenden können. Auch Rückkehrer, also ehemalige Jihadisten, könnten wichtige Präventionsarbeit leisten, wenn sie von ihren Erfahrungen zum Beispiel im Irak berichten und aufzeigen würden, dass die Propadanda des IS wenig mit der Realität zu tun hat.
Die Extremismusforscherin Miryam Eser Davolio im Gespräch mit der ElternMagazin Fritz+Fränzi-Redaktorin Claudia Landolt. Bild: Hans Schürmann / 13 Photo
Die Extremismusforscherin Miryam Eser Davolio im Gespräch mit der ElternMagazin Fritz+Fränzi-Redaktorin Claudia Landolt. Bild: Hans Schürmann / 13 Photo

Sind Junge mit Migrationshintergrund besonders gefährdet? 

Ja, denn sie befinden sich in einer doppelt anspruchsvollen Situation. Zur Pubertät kommt die Ausgrenzung, bedingt durch ihre Nationalität oder ihren fremdländisch klingenden Namen, hinzu. Viele erleben tagtäglich Ausgrenzung, obwohl sie gut integriert und ausgebildet sind. Aber ihr Hintergrund macht sie zu Parias der Gesellschaft.

Zuwandererkinder in der Schweiz sind also benachteiligt? 

Ja, das belegen zahlreiche Studien. Zu erwähnen gilt es zum Beispiel die vielen Versuche der erleichterten Einbürgerung oder die Anti-Minarett- Initiative. Es gibt aber auch andere Beispiele. So haben es Jugendliche mit Migrationshintergrund hierzulande bei der Lehrstellen- und Arbeitssuche schwerer. Das kann zu grosser Frustration führen.

Fördert Frustration Radikalismus? 

Nicht zwingend. Aber die Verwehrung von Zugehörigkeit und die erlebte Ausgrenzung tun es. Und sowohl Frustration als auch Resignation machen einen womöglich empfänglich für radikale Positionen. 

«Eltern erfahren meist zuletzt von der Radikalisierung ihres Kindes.»

Miryam Eser Davolio

Sie erwähnten die Anti-Minarett- Initiative.  Welche Rolle spielt sie bei Radikalisierungs-prozessen?

Benachteiligung und politische Diskussionen im Sinne ausgrenzender Debatten spielen nebst internationalen Konflikten eine wichtige Rolle bei der Hinwendung zu gewaltorientierten islamistischen Positionen. Dennoch möchte ich betonen: Die Radikalisierung betrifft nicht nur Secondos, sie betrifft genauso auch Schweizer Jugendliche.

Inwiefern?

In der Schweiz hat spätestens mit dem Minarettverbot ein Polarisierungsprozess in der Gesellschaft begonnen, der auch politische Dimensionen hat. Diesem sollte man entschieden entgegentreten – so wie es in der pluralistischen Schweiz eigentlich Tradition ist. Denn sonst spielen wir der IS-Propaganda in die Hände, welche behauptet, dass Muslime hier unerwünscht seien.

Spätestens seit den Anschlägen in Paris ist die Schweiz auch in den Fokus gerückt. Was kann man tun? 

Wir sind derzeit daran, Ansätze zu formulieren, wie die Schweiz Präventionsarbeit leisten kann. Das sollte auf verschiedenen Ebenen geschehen, wie wir es hier schon besprochen haben. Es ist mir aber ein Anliegen, zu betonen, dass in der Schweiz traditionsgemäss viele verschiedene Gruppierungen und Nationen friedlich koexistieren und es relativ wenig räumliche Segregation gibt, verglichen zum Beispiel mit den französischen Banlieues. Das ist ein grosses Plus, und ich glaube auch, dass wir deswegen eine ganz andere Ausgangslage haben als andere europäische Länder. Das sollten wir nicht aus den Augen verlieren.

Zur Person

Dr. Miryam Eser Davolio lehrt an der ZHAW für Soziale Arbeit in Zürich. Ihre Forschungs-schwerpunkte sind Extremismus und Radikalisierung. Sie ist leitende Autorin der vom Bund finanzierten explorativen Studie mit Empfehlungen für Prävention und Intervention.

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