Momente, die bleiben – Kindheitserinnerungen
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Kindheitserinnerungen – Momente, die bleiben

Lesedauer: 3 Minuten

Stellen Sie sich vor, Ihre Kinder sind mittlerweile erwachsen und erzählen Ihren Enkeln aus der Kindheit und Jugendzeit. Welche Momente sind ihnen wohl in besonders schöner Erinnerung geblieben? Welche Erlebnisse haben sie geprägt? Bei der Suche nach Antworten hilft eine einfache Formel.

Text: Stefanie Rietzler
Illustration: Petra Dufkova / Die Illustratoren

Wenn wir auf unser Leben zurückblicken, stellen wir fest, dass durch den Alltagstrott die meisten Tage verblasst sind. Unser inneres Archiv besteht nicht aus einem Durchschnitt aller Tage, sondern aus einzelnen, besonderen Momenten, die wir auch nach vielen Jahren noch lebendig in uns heraufbeschwören können.

Dabei handelt es sich um Erlebnisse, die mit starken Emotionen verknüpft sind. Aber nicht nur das: Sie weisen auch eine bestimmte Textur auf, wie die Brüder Chip und Dan Heath, Autoren des Buchs «The Power of Moments», nachweisen konnten. Die beiden fanden vier Elemente, die bleibenden Erlebnissen gemeinsam sind und uns auf positive Weise prägen. Sie haben sie in der sogenannten EPIC-Formel zusammengefasst.

Prägende Momente

Sehen wir uns die vier einzelnen Aspekte genauer an:

Elevation: Darunter versteht man Momente, die aus dem Alltag herausstechen. Diese tauchen auf, wenn die gewohnte Routine durchbrochen wird und etwas Unvorhergesehenes oder Ungewöhnliches passiert. Wir erinnern uns vielleicht an den ersten Schultag, die ersten Verliebtheitsgefühle, an ein Naturschauspiel wie eine Sonnenfinsternis oder einen Kometenschauer, den man als Familie verzückt verfolgt hat, oder eine aufregende Übernachtung im Kindergarten oder in der Schule.

Pride: Erlebnisse, auf die wir stolz sind, prägen sich besonders gut ein. Wahrscheinlich können Sie Ihre Abschlussfeier mit der Zeugnisübergabe vor Ihrem inneren Auge sehen. Auch kleinere, persönliche Meilensteine bleiben uns: der Moment, in dem wir uns zum ersten Mal überwinden konnten, eine Halfpipe herunterzusausen, vom Sprungturm zu springen, oder endlich den schweren Endgegner in einem Computerspiel bezwungen haben und es sofort unseren Freunden erzählen mussten.

Momente, in denen wir vor Publikum etwas präsentiert haben: ein Vortrag in der Schule, eine Theateraufführung, Vorspielen mit dem eignen Instrument oder das gewonnene Finale mit anschliessender Sieger­ehrung. Vielleicht denken wir auch mit Stolz an Situationen zurück, in denen wir uns behaupten mussten und den Mut hatten, für uns oder andere einzustehen.

Aha-Momente und verbindende Erlebnisse

Insight: Auch Aha-Erlebnisse haben das Potenzial, sich in unserem Gedächtnis einzunisten und uns zu prägen. Wir erinnern uns besonders gut an Lerninhalte, wenn wir uns einem Thema widmen und dabei plötzlich neue Zusammenhänge entdecken oder nach langem Ringen endlich verstehen, wie ein bestimmter Aufgabentyp gelöst werden kann. Noch intensiver sind Aha-Momente, wenn sie unser Leben betreffen: Wenn wir in einem Augenblick der Klarheit plötzlich erkennen, was uns wirklich wichtig ist, und daraufhin bedeutsame Entscheidungen treffen: auf eine Schule wechseln, die besser zu uns passt, uns auf eine Lehre festlegen oder uns endlich aus einer toxischen Freundschaft lösen können.

Connection: Wenn wir unser inneres Fotoalbum durchsehen, merken wir, dass die meisten bleibenden Erinnerungen Augenblicke sind, in denen wir uns auf besondere Weise mit anderen verbunden gefühlt haben. Da flackern Momente auf, in denen sich ein Elternteil Zeit für uns alleine genommen hat und wir über persönlichere Dinge gesprochen haben als im Alltag; mit Freunden verbrachte Urlaubstage; ein Ausflug mit der Patentante oder dem Patenonkel ohne Eltern und Geschwister im Schlepptau; die heimliche Hausparty mit der Clique, als die Eltern übers Wochenende verreisten; Gespräche, in denen uns jemand ein Geheimnis anvertraut hat.

Digitale Verbundenheit ersetzt gemeinsame Momente nicht

Wenn wir uns bewusst machen, welche Momente in unserem Leben für einen positiven Ausschlag nach oben sorgen, merken wir, wie viel uns und unseren Kindern durch die Pandemie gestohlen wurde. Die meisten von uns fanden sich plötzlich in einem einengenden Trott aus Routine und Alltag wieder. Ein Achtjähriger brachte es im Februar auf den Punkt: «Es ist so langweilig. Nichts darf man. Sogar die Schule ist eine Abwechslung! Kannst du dir das vorstellen?»

Über Monate hinweg haben wir alles versucht, um ein Gefühl von Verbundenheit zu erhalten: Wir haben (Video-)telefoniert, um mit Grosseltern, Verwandten und Bekannten in Kontakt zu bleiben, und dabei gemerkt, dass wir zwar froh um diese Möglichkeiten sind, sie aber eine Umarmung und gemeinsame Erlebnisse nicht ersetzen können.

Für viele Jugendliche, die ihre Lehre oder die Matura abgeschlossen haben und nun ins Arbeitsleben oder Studium eingetreten sind, sind wichtige Übergangsrituale verloren gegangen. Der Abschluss, auf den man so lange hingearbeitet hat, konnte nicht in gebührendem Masse gefeiert werden. Junge Menschen haben ihr Studium fast ausschliesslich mit Heimunterricht begonnen – teilweise in einer fremden Stadt, in der sie noch niemanden kennen und noch gar nicht ankommen konnten, weil das Verbindende fehlt.

Gibt es Kleinigkeiten, mit denen Sie die gewohnte Routine durchbrechen können? Welche Mini-Erfolge gibt es zu feiern?

Um Kindern und Jugendlichen diese Zeit zu vereinfachen, haben Eltern, Lehrpersonen, Erzieherinnen und Erzieher nicht nur das Nötige geleistet, sondern vielfach Zusatzaufgaben übernommen. Sie haben eigene Unsicherheiten ausgehalten, sich der Ängste der Kinder und Jugendlichen angenommen, versucht für etwas Normalität zu sorgen und neben der Arbeit nach Möglichkeit das Fehlende kompensiert. Aber: Nach und nach wurden die meisten von uns müde von dieser Zusatzanstrengung.

Wem wollen wir Zuneigung schenken?

Mit dem Blick auf die Elemente, die besondere Momente ausmachen, wird uns klar, was wir so schmerzlich vermisst haben, warum viele von uns frustriert und ausgezehrt sind und warum wir uns wegen dieser Gefühle nicht auch noch Vorwürfe machen müssen, «weil wir es doch eigentlich so gut haben».

Auf der anderen Seite können wir überlegen, wie wir zukünftig da und dort einzelne Tage mit einer Prise EPIC aufwerten können: Gibt es Kleinigkeiten, mit denen Sie die gewohnte Routine durchbrechen könnten? Welche Mini-Erfolge könnten Sie mit der Familie bewusster feiern? Welchem lieben Menschen wollen Sie oder die Kinder gleich morgen ein unerwartetes Zeichen der Zuneigung schenken? Was möchten Sie als Familie unbedingt nachholen oder nachfeiern, sobald dies wieder möglich ist?

Stefanie Rietzler
ist Psychologin und Autorin. Gemeinsam mit Fabian Grolimund leitet sie die Akademie für Lerncoaching, ein Beratungs- und Weiterbildungsinstitut. Sie lebt mit ihrem Mann und ihrem Sohn in Zürich.

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