Spielen ohne Spielzeug – ein Kindergarten testet es
Bilder: Gabi Vogt / 13 Photos
Was passiert in einem Kindergarten, wenn alle Bücher, Plüschtiere, Duplos und Verkleidungssachen vorübergehend in den Keller wandern? Wir haben eine Kindergartenklasse begleitet, die während drei Monaten komplett auf Spielsachen verzichtete.
Diese Szene hat sich bei meinem ersten Besuch im Kindergarten Wartegg in Luzern abgespielt.
Die rund 20 Kinder sind gerade dabei, all ihre Spielsachen in Kisten zu verpacken, als ein Mädchen mit mir spielen will. Nur: womit? Denn Puzzles, CDs und Jenga-Stäbe – alles wurde in den Keller verfrachtet, die Regale sind leer. Spielzeug, das nicht verändert werden kann, wird weggeräumt. Auf Nachfrage wieder geholt werden dürfen Materialien, mit denen neue Objekte geschaffen werden können wie Tücher, Schnur, Malutensilien und Klebeband.
Spielen, insbesondere das freie Spiel, ist für viele Pädagogen die wichtigste Grundlage für eine gesunde Entwicklung eines Kindes, wie auch Professor André Frank Zimpel, Professor an der Uni Hamburg und Autor von mehreren Büchern zum Thema, betont. «Spielen ist die Arbeit des Kindes und seine wichtigste Tätigkeit.» Für Zimpel ist Spielen das Beste, was ein Kind tun kann.
In ihrem Sammelband «Play = Learning» zeigen die US-Forscherin Dorothy Singer und ihr Team auf, dass Kinder, denen zu Hause und in der Schule genügend Zeit zum Spielen gegeben wird, sich später durch bessere schulische Leistungen, durch Kreativität, Widerstandsfähigkeit (Resilienz), Selbstvertrauen und soziale Fähigkeiten auszeichnen.
Kinder sollen nicht nur so viel wie möglich spielen, sie sollen es auch so frei wie möglich machen: Das Projekt «spielzeugfreier Kindergarten» geht deshalb noch einen Schritt weiter: weg vom Konsumzwang, weg von vorgegebenen Spielideen, hin zum konzentrierten, kreativen, vertieften Spielen, so die Grundidee der Aktion, die 1993 von Elke Schubert und Rainer Strick von der Aktion Jugendschutz München gegründet wurde. Ihr Credo:
Die Stärkung der Lebenskompetenzen ist die wirksamste Form der
Suchtprävention.
Lang lebe die Langeweile
Angst vor Langeweile? Fehlanzeige. Die Kinder freuen sich auf die spielzeugfreie Zeit. Emma, 6, zum Beispiel, spielt gerne Verkleiderlis in der Familienecke. Sie meint: «Das wird kein Problem: Kleider tragen wir ja eh immer, das reicht zum Spielen.»
Im Kindergarten erhalten Kinder viele externe Impulse zum Spielen, es gibt festgelegte Spielsequenzen, vorgefertigte Spielideen. Ohne Regeln, ohne Spielzeug, ohne Anleitung der Lehrpersonen ist die Langeweile dann doch ein Thema in Luzern.
Was also tun, wenn sich ein Kind langweilt? Die Zauberformel ist simpel: zulassen und warten. Kommt Zeit, kommt Rat – das gilt auch für die Kreativität. Jesper Juul empfiehlt Eltern, deren Kinder sich langweilen, das Kind zu umarmen und zur Langeweile zu beglückwünschen. Und: Interesse zu zeigen, was es aus seiner Langeweile heraus als Nächstes tun wird.
Die Idee hinter dem Projekt: Aus kreativen Kindern werden starke Erwachsene.
Anfangs ist der blaue Stuhl rege in Gebrauch, mit der Zeit wird er immer seltener benutzt. Die Kinder wissen sich zu helfen, schauen sich Ideen untereinander ab. Es wird laut im Kindergarten: Auf Schränken wird getrommelt, die Möbel werden bespielt wie noch nie. Aus Stühlen und Klebeband entsteht ein Schloss, unter einem Tisch ein Gefängnis. «Versteckis, Fangis, Chutzele, Hütten bauen, Versteckis und nomal Fangis», antworten Leo und Lian, beide 6, auf die Frage, was sie denn nun gerne spielen im Kindergarten.
Gibt es mehr Streit ohne Spielsachen?
«Wir streiten viel weniger. Es gibt ja keine Spielsachen mehr, um die wir streiten können», sagt der sechsjährige Eren.
Weniger leiten, mehr begleiten
Es spielen andere Kinder zusammen, es gibt neue Gruppen und die Geschlechtertrennung findet weniger statt. Pia Christen schätzt es, «mehr Zeit zu haben für alles». Der Unterricht ist weniger geregelt, auch das Znüni können die Kinder dann essen, wenn sie möchten, und nicht pünktlich zur Pause um 9.30 Uhr.
«Wir müssen als Erzieherinnen sehr präsent sein», sagt Pia Christen. Sie und ihre Kollegin Yvonne Enzmann würden es aber geniessen, die Kinder nach ihren Bedürfnissen handeln lassen zu können. Nicht immer einfach sei die eigene Zurückhaltung, zu begleiten statt anzuleiten, die Kinder einfach machen zu lassen.
«Bauen die Kinder ein Haus, dann hat man Erwartungen, wie das Haus entstehen oder aussehen könnte», meint Pia Christen. Machen es die Kinder so, wie sie es möchten, nämlich im konkreten Fall mit x Metern Klebeband, sei es stellenweise schwierig gewesen für sie beide, sich mit Vorschlägen zurückzuhalten.
Es spielen andere Kinder zusammen, es gibt neue Gruppen und weniger Geschlechtertrennung.
Nach zehn Wochen Spielzeugabstinenz dürfen die ersten Spielsachen aus dem Keller geholt werden. Was haben die Kinder am meisten vermisst? Die Plüsch-Eisbären. Zusammen mit den Duplos dürfen die Stofftiere als Erstes wieder einziehen in den Kindergarten.
Auch mit den voller werdenden Regalen ist das Spiel freier, flexibler und noch immer kombiniert mit einem Kartonhaus aus der spielzeugfreien Zeit. Pia Christen und Yvonne Enzmann wollen mit der nächsten Kindergartenklasse wieder eine Zeit lang auf Spielsachen verzichten. Und den Kindern durch den Verzicht hoffentlich einen grossen Gewinn an Resilienz verschaffen.
«Mir geht es gut», antwortet Sophie, 5, auf meine Frage, wie sie die Zeit ohne Spielsachen fand. Und drückt mir als Geschenk einen Scherenschnitt in die Hand.
Ideen für mehr freies Spiel im Alltag
- Zeit und Raum schaffen fürs freie Spiel, bewusst Zeitfenster von Terminen freihalten.
- Sich zurücknehmen mit Impulsen und die Kinder selber machen lassen.
- Kinder auch mal Risiken eingehen lassen.
- Spielzeug konsequent rotieren lassen, immer mal wieder eine Kiste auf dem Estrich verstauen und später mit anderen Spielsachen austauschen. Darauf achten, was das Kind gerade interessiert, womit es von sich aus spielt.
- Die Umgebung nutzen, die Hütte mal nicht unter dem Salontisch, sondern im Wald bauen gehen. In der Stadt mit dem Tram an einer zufälligen Haltestelle aussteigen und den nächsten Brunnen suchen, dort Schiffli fahren lassen mit einem Korkenfloss.
- Situationen bewusst ausnutzen und im Lift von der Tiefgarage in die Migros oder den Coop kurz Disco spielen zur Warenhausmusik.
- Spielzeug ohne festen Verwendungszweck vorziehen. Im ersten Augenblick finden Kinder das glänzende Ritterschwert aus Plastik sicher cool. Wenn man sie ihr Ritterschwert selber basteln und am nächsten Tag in einen Gehstock aus dem Krankenhaus ummodeln lässt, macht sie das aber langfristig zufriedener in ihrem Spiel.