Pflegefamilie: Eltern auf Zeit - Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
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Pflegefamilie: Eltern auf Zeit

Lesedauer: 7 Minuten

In der Schweiz wachsen rund 19’000 Kinder und Jugendliche nicht bei ihren leiblichen Eltern, sondern in Heimen oder bei Pflegeeltern auf. So zum Beispiel Michael* und Nico. Aber wie lebt es sich als Pflegefamilie?

Der fünfjährige Yari hebt sein T-Shirt hoch und fragt fast ein bisschen stolz: «Willst du mal sehen?» Zum Vorschein kommt sein vernarbter Bauch.
 
Yaris Narben sind mit ein Grund dafür, warum sich seine Eltern Karin und Thomas Bucher* für die Aufnahme eines Pflegekindes entschieden. Der Kindergärtler hatte bei seiner Geburt einen schweren erblichen Gendefekt. Eine Stammzellentransplantation machte ihn wieder gesund. Aber die Monate, die das Baby isoliert in einem Zelt im Spital verbringen musste, die Operationen, die Medikamente, die Angst – das wollten die Eltern von Yari und dessen Bruder Neo, 7, nicht nochmals erleben. Ein drittes Kind wollten sie trotzdem. «Aber die Idee einer Adoption behagte uns nicht», sagt Thomas. «Da geht es immer um viel Geld. Wir wollten uns nicht fühlen, als würden wir ein Kind kaufen.» Beim Googeln nach Alternativen stiessen sie auf die Fachstelle Pflegekind Aargau. Eine Idee war geboren.

Vater und Sohn
Vater und Sohn

«Babababa», brabbelt der ein­jährige Michael* und blättert auf Thomas’ Schoss sitzend begeistert in einem Babybüchlein. Seit vergangenem Sommer wohnt der Kleine bei der Familie. Zuvor war er bei einer Übergangs-Pflegefamilie, dies seit seiner Geburt. Viel wissen Karin und Thomas nicht über die Herkunftsfamilie ihres Pflegesohnes.

«Seine Mutter ist sehr jung, der Vater unbekannt», erzählt Karin. Kontakt zur leiblichen Mutter gibt es keinen. Das ist eher ungewöhnlich. Zumal, im Gegensatz zu einer Adoption, die Herkunftsfamilie kaum Rechte abgibt.

«Die Idee einer Adoption 
 behagte uns nicht, da geht es immer um viel Geld» 

Pflegevater Thomas Bucher

So bleibt die elterliche Sorge bei den leiblichen Eltern, ausser sie wird wegen Kindesschutzmassnahmen aufgehoben und einem Vormund oder der KESB übergeben. Als Teil des Sorgerechts bleibt auch das Aufenthaltsrecht bei den leiblichen Eltern, dem Beistand oder der KESB. Den Pflegeeltern steht lediglich die faktische Obhut zu, sie sind verantwortlich für die Alltagssorge des Kindes. Das heisst: Wenn die Familie zum Beispiel mit Michael in die Ferien fahren will oder er operiert werden müsste, brauchen Thomas und Karin die Unterschrift seiner Mutter. Und das bedeutet auch: Michaels leibliche Mutter hat immer mehr Rechte an ihrem Kind als seine Pflegeeltern. Würde sie ihren Sohn irgendwann zurückwollen und könnte beweisen, dass sie ihm ein Umfeld bieten kann, das seiner Entwicklung förderlich ist, hätten seine Pflegeeltern zwar ein Anhörungsrecht – eine Garantie, dass Michael bei ihnen bleibt, haben sie nie. Damit muss die Familie leben.

Viele Kinder kommen in Heimen unter

Laut einer Bestandsaufnahme von «PACH – Pflege- und Adoptivkinder Schweiz» von 2016 sind gut 1,2 Prozent der Schweizer Bevölkerung zwischen 0 und 18 Jahren fremdplatziert. Hochgerechnet auf die 26 Kantone macht das etwa 18 00 Kinder. Rund ein Viertel davon lebt in Pflegefamilien, drei Viertel in Heimen. Das liegt unter anderem daran, dass eine Dauerplatzierung bei Pflege­familien meist die letzte in einer Reihe von Massnahmen ist und ­viele Kinder zunächst in einem Heim unterkommen.

Einer von ihnen: Michael macht die Familie Bucher komplett.
Einer von ihnen: Michael macht die Familie Bucher komplett.

So wie der zweijährige Nico*. Er lebte vier Monate lang im Heim, bevor er zu seiner Pflegefamilie kam. Corinne und Beat Wyss* besuchten ihn mit Sohn Lorin, heute 4, regelmässig dort. Nach sechs Wochen durften sie ihn mit nach Hause nehmen. Kaum war Nico angekommen, wurde Corinne schwanger. So kommt es, dass Nico gerade über Lias, 1, gestolpert ist, der am Boden seine Legos sortiert. Dicke Tränen kullern über die Wangen des kleinen Blondschopfs. Lias rappelt sich auf und reicht Nico seinen Nuggi. «Viele Leute halten die beiden für Zwillinge», erzählt Corinne.

Gemeinhin wird empfohlen, dass das Pflegekind jünger ist als die leiblichen Kinder der Familie. «So kann es sich in eine «normale» Geschwisterreihe einordnen», sagt Karin Gerber von der Fachstelle Pflegekind Aargau. «Aber es gibt immer auch Ausnahmen, in denen es anders super passt.»

Eine Garantie, dass Michael bei ihnen bleibt, haben Karin und Thomas nicht. Damit muss die Familie leben.

Nico war nach seinem Heimaufenthalt nicht nur besonders nähebedürftig, sondern blieb auch in der Entwicklung etwas zurück. So lernt er nun vieles zusammen mit Lias. Zum Beispiel sprechen. «Papa», sagt Nico und tapst auf Beat zu. Papa. Dieses Wort birgt einiges an Zündstoff. Denn Nico hat einen Vater. Und eine Mutter. Im Gegensatz zu Michaels Eltern sind sie präsent in Nicos Leben. Einen Tag pro Woche verbringt der Kleine bei seinen leiblichen Eltern. Dass er seine Pflege­eltern Mama und Papa nennt, hat für Diskussionen gesorgt. «Wir haben Nicos Eltern erklärt, dass es unmöglich ist, ihm während seiner Sprachentwicklung beizubringen, uns beim Vornamen zu nennen, wenn Lorin und Lias Mama und Papa zu uns sagen», erzählt Corinne. Seine Herkunftseltern ruft Nico nun Mami und Papi.

Ein gutes Verhältnis zu den ­leiblichen Eltern hilft

Über die Gründe, wegen der ihr ­Pflegesohn nicht bei den leiblichen Eltern leben kann, weiss die Familie nicht viel. Das Verhältnis untereinander sei aber gut, betont Corinne. «Nicos Eltern geben sich grosse Mühe, fragen uns zum Beispiel nach Alltagsritualen, die sie in seine Besuche bei ihnen zu integrieren versuchen.» Das Wichtigste: «Wir würden Nico gegenüber niemals ein negatives Wort über seine leiblichen Eltern verlieren. Das wäre vor allem unserem Pflegesohn gegenüber nicht fair.»

Das sieht auch die Pflegefamilie von Michael so – unabhängig davon, ob ihr Pflegekind dereinst Kontakt mit seiner biologischen Mutter haben wird oder nicht. Auf eine kürzliche Bemerkung des ältesten Sohnes Neo, dass Michaels Mutter ihn wohl nicht besonders lieb habe, antwortete seine Mutter: «Im Gegenteil. Sie liebt ihn so sehr, dass sie für ihn ein besseres Leben wollte als das, welches sie ihm im Moment bieten könnte.»

Der siebenjährige Neo macht sich am meisten Gedanken darüber, dass sein kleiner Pflegebruder irgendwann nicht mehr bei ihnen sein könnte. Sie selbst versuche diesen Gedanken immer wieder in den richtigen Kontext zu bringen, sagt Karin. «Kinder sind so oder so nicht unser Eigentum. Ich werde auch meine leiblichen Söhne irgendwann loslassen müssen.»

So sehen Karin und Thomas Bucher auch keine Unterschiede in ihrem emotionalen Verhältnis zu Neo, Yari und Michael. «Ausserdem ist nicht alles genetisch. Ich sehe durchaus auch Ähnlichkeiten zwischen den dreien.» Egoismus sei einem Pflegekind gegenüber fehl am Platz, findet Thomas: «Im Gegenteil. Wir würden uns für Michael wünschen, dass er irgendwann Kontakt zu seiner Mutter hat.»

Manche Kinder kehren in die Herkunftsfamilie zurück

Konkrete Zahlen darüber, wie viele dauerplatzierte Pflegekinder in der Schweiz zu ihren Herkunftsfamilien zurückkehren, gibt es keine. Man geht von einer durchschnittlichen Rückkehrquote von etwa elf Prozent aus, dies allerdings bei allen fremdplatzierten Kindern. Laut PACH kehrte im Jahr 2016 ein Drittel der Kinder, deren Pflegeverhältnis beendet wurde, in ihre Herkunftsfamilie zurück. Ein Fünftel wurde in einem Heim platziert, 14 Prozent kamen zu einer anderen Pflegefamilie. Bei einem Drittel war «anderes» der Fall.

Corinne Wyss mit ihren zwei Söhnen und ihrem Pflegesohn Nico.
Corinne Wyss mit ihren zwei Söhnen und ihrem Pflegesohn Nico.

In Nicos Zuhause wird sein Rucksäckli gepackt. Da kommen immer die gleichen Dinge rein, wenn er den Tag bei seinen leiblichen Eltern verbringt. Sie wohnen nicht weit weg, Pflegepapa Beat Wyss wird Nico hinfahren. Die Übergabe findet gemeinsam mit einer Familienbegleiterin statt. Momentan weint der Zweijährige dann jeweils. Das ist für seine Pflege­eltern nicht leicht zu ertragen. «Aber der Kontakt ist wichtig für Nico und wir hoffen sehr, dass er ihn später einmal schätzen wird», sagt Corinne. Wenn ihr Pflegekind nachher weg ist, wird sie sein Tagebuch weiterführen, Fotos einkleben, Informationen für ihn ablegen. «Wer weiss, was in 15 Jahren ist. Ob Nico noch hier ist, ob wir noch Kontakt haben. Dieses Buch soll ihm einen Teil seiner Geschichte aufzeigen.»

«Kinder sind so oder so nicht unser Eigentum»

Pflegemutter Karin Bucher

Lorin reicht seinem kleinen Pflegebruder den Rucksack. Ob er Angst hat, dass Nico irgendwann nicht wiederkommt? «Nein. Warum?», fragt der Vierjährige. Es kommt, wies kommt. Und egal, wie lange seine Pflegefamilie ein Teil von Nicos Geschichte sein wird – er wird immer einer der ihren sein.

* Die Namen der Pflegekinder sowie die Nachnamen der Pflegeeltern wurden geändert.


Sandra Casalini ist Journalistin und Mutter. Als Kind hatte sie einmal Nachbarn mit einem Pflegekind, und nie recht verstanden, was das eigentlich heisst. Jetzt weiss sie es. 
Sandra Casalini ist Journalistin und Mutter. Als Kind hatte sie einmal Nachbarn mit einem Pflegekind, und nie recht verstanden, was das eigentlich heisst. Jetzt weiss sie es. 


Familien werden engmaschig betreut

In der Schweiz suchen und vermitteln unterschiedliche Platzierungsorganisationen oder Vereine Pflegeplätze. Sie führen die Abklärungen für die kantonale Bewilligung durch und begleiten die Pflegefamilien von Beginn an. Am Anfang steht meist eine Informationsveranstaltung, welcher ein mehrtägiges Vorbereitungsseminar folgt. Hier werden die Familien von Fachleuten und erfahrenen Pflegefamilien über Alltag, Bedürfnisse und Zusammenarbeit informiert und der Umgang mit Konfliktsituationen in Rollenspielen geübt. Sie müssen zum Beispiel wissen, dass es zu Konfliktsituationen mit den leiblichen Kindern kommen kann – allein durch den Fakt, dass der Fokus oft auf dem Pflegekind liegt –, zu Eltern- und Behörden­besuchen, Therapien usw. Oder dass man durch die Zusammenarbeit mit verschiedenen Leuten und Institutionen ein gutes Stück Privatsphäre aufgibt, was immer wieder zu ­Konflikten führen kann, zum Beispiel mit der Herkunftsfamilie.
 
Umso wichtiger ist es, dass alle Familienmitglieder mit der Aufnahme einverstanden sind, und man auch hie und da als Kernfamilie etwas unternimmt. Die Organisation begleitet die Pflegefamilie im Umgang mit Behörden und der Herkunfts­familie, führt regelmässige Standortgespräche durch, berät und hilft in Krisensituationen, beispielsweise wenn sich eine Partei nicht an getroffene Abmachungen hält. Bei Uneinigkeit mit der Platzierungsorganisation kann man sich an eine externe Fachperson oder eine Ombudsstelle wenden. 

Pflegefamilien gesucht

Die Fachstelle Pflegekind Aargau sucht laufend engagierte Pflegeeltern, die Kindern ein zweites Zuhause geben möchten. Dabei werden potenzielle Familien fundiert beraten und auf ihre Aufgabe vorbereitet sowie engmaschig betreut. Alle Informationen und Beratung via Mail info@pflegekind-ag.ch oder per Telefon: 056 210 35 90 www.pflegekind-ag.ch


Pflegefamilie werden – das müssen Sie wissen

Zuständig für die Platzierung von Pflegekindern sind die kantonalen Behörden. Um Pflegefamilie zu sein, bedarf es ihrer Bewilligung. Diese wird erteilt, wenn gewisse Voraussetzungen erfüllt sind. Dazu gehören zum Beispiel Gesundheit, Belastbarkeit, Erziehungskompetenz, genügend Platz und ein guter Leumund. 
Dabei gibt es verschiedene Optionen wie Notfall-, Ferien-, Entlastungs-, Wochen-, Time-out- oder Dauerplatzierung. Bei den letzten beiden Varianten hat das Pflegekind seinen Lebensmittelpunkt in der Pflegefamilie. Meist hat es in der einen oder anderen Art Kontakt zu seiner Herkunftsfamilie. Pflegeeltern enthalten einen Lohn plus Nebenkosten für Kost, Logie und Erziehung. Die Beträge variieren.


Bücher und Links zum Thema

Irmela Wiemann: Adoptiv- und Pflegekindern ein Zuhause geben: Informationen und Hilfen für Familien. Ratgeber, Balance 2014, 232 Seiten, ca. 16 Fr. 

Heide Küpper, Ines Kurek-Bender, Susanne Huber-Nienhaus: Handbuch für Pflege- und Adoptiveltern. Pädagogische, ­psychologische und rechtliche Fragen des Adoptions- und Pflegekinderwesens. Schulz-Kirchner 2003, 269 Seiten, ca. 4 Fr. (Taschenbuch)

Vanessa Diffenbaugh: Die verborgene Sprache der Blumen.
Roman über ein in Heimen und Pflegefamilien aufgewachsenes Mädchen. Knaur 2012, 448 Seiten, ca. 12 Fr.

Pflege- und Adoptivkinder Schweiz PACH
Gesamtschweizerische Anlaufstelle für Fragen rund um Pflege- und Adoptivkinder. 
www.pa-ch.ch 

Schweizerische Fachstelle Pflegefamilie SFP
Vernetzung, Weiterbildung und Beratung für Pflegefamilien und Fachpersonen.
www.fachstelle-pflegefamilie.ch


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