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Das Modell Familie wird vielfältiger


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Jedes siebte Kind lebt mit nur einem Elternteil
Wie sieht die Familie der Zukunft aus?

Individuelle Lebensentwürfe und weniger Kinder?
Individualisierung und Pluralisierung lauten die Schlagworte, mit denen Soziologen unsere Zukunft beschreiben. Sie gelten für Lebensentwürfe, die nach eigenem Gusto statt auf sozialen Druck hin erfolgen, aber auch für Familienformen, die vielfältiger daherkommen als die Mama-Papa-Kind-Variante.

Familiengründung im Labor?
Wenn die Natur dem Kinderwunsch einen Riegel vorschiebt, ist dies schwer zu verkraften, betont Misa Yamanaka-Altenstein vom Klaus-Grawe-Institut in Zürich. Die Psychotherapeutin berät Frauen und Paare, die ungewollt kinderlos sind. «Die Fähigkeit, sich zu reproduzieren, kann aus evolutionsbiologischer Sicht als Grundbedürfnis bezeichnet werden», sagt Yamanaka-Altenstein. «Wenn der Mensch sich fortpfanzen will, dies aber nicht kann, hat das oft schwerwiegende Belastungen zur Folge – für sein Selbstwertgefühl, die Partnerschaft, die psychische Gesundheit.»
Regula Körner, die sich ihren Kinderwunsch nach 17 Jahren vergeblichen Wartens auf eine Schwangerschaft mithilfe einer Leihmutter erfüllte, formuliert es so: «Es tut weh, wenn Leute sagen, man müsse halt akzeptieren, wenn man keine Kinder haben kann. Weshalb akzeptieren Leute, die keine funktionierende Niere mehr haben, nicht einfach die Dialyse? Oder Krebskranke ihr Schicksal? Eben.»
Zeugung im Reagenzglas – wie kommt es dazu?
Die sogenannte In-vitro-Fertilisation (IVF) oder künstliche Befruchtung gehört zu den häufigsten reproduktionsmedizinischen Behandlungen, die Kinderwunschklinik OVA IVF in Zürich etwa führt pro Jahr mehr als 600 Zyklen durch. Paare, welche die Klinik erstmals aufsuchten, seien meist um die 38 Jahre alt und hinsichtlich ihrer sozialen Stellung sehr unterschiedlich, sagt Daniela Pfammatter, behandelnde Gynäkologin: «Von der einfachen Angestellten bis zum Topmanager ist alles dabei.»
Reproduktionsmedizin – Fluch oder Segen?
Das Wissen um die Möglichkeiten der modernen Medizin trage überdies dazu bei, dass junge Frauen ihren Kinderwunsch zunehmend vertagten, sagt Ärztin Pfammatter: «Ab 25 Jahren sinkt die weibliche Fruchtbarkeit kontinuierlich, ab 35 Jahren rapide. Frauen sind sich dessen zu wenig bewusst.»
Schwule Männer haben die Möglichkeit, mit einer Co-Mutter eine Familie zu gründen. Will ein Männerpaar ein Kind ohne Drittperson grossziehen, ist eine Leihmutterschaft im Ausland die einzige Option. Diesen Ausweg nehmen auch immer mehr heterosexuelle Paare und Singlefrauen, die sich Behandlungen unterziehen, die in der Schweiz verboten sind. Zu ihnen gehören Regula Körner, Mutter zweier Leihmutterkinder, oder Alines Mutter Kerstin, die sich in Spanien den Embryo einer anderen Frau einsetzen liess.
Hat die natürliche Empfängnis ausgedient?
Im Zukunftsszenario, das der US Ethikprofessor Henry Greely im Buch «The End of Sex» beschreibt, hat die natürliche Empfängnis bald ausgedient. Menschen, die ein Kind wollten, würden künftig nicht mehr miteinander schlafen, sondern direkt ins Labor gehen. Auch Carl Djerassi, Erfinder der Antibabypille, gab sich bis zu seinem Tod im Jahr 2015 überzeugt davon, dass in 30 Jahren die meisten Babys künstlich gezeugt würden. «Quatsch», nennt dies Soziologin Zehnder. «Eine künstliche Befruchtung bedeutet für Betroffene enorme körperliche, emotionale und finanzielle Strapazen. Wer nicht muss, nimmt das kaum auf sich.» Wohl aber würden uns Reproduktionsmedizin und alternative Familienmodelle vor neue Fragen stellen: «Es muss gesellschaftlich neu ausgehandelt werden, wie und wodurch man Mutter oder Vater wird.»
Familiäre Werte neu interpretiert
Eine individualisierte Gesellschaft sei ausserdem nicht zwingend eine egozentrierte, schreiben die Autoren der OECD-Familienstudie. Familiäre Werte wie Zusammenhalt würden in Zukunft nicht aussterben, sondern neu interpretiert: «Wir werden mehr grössere Netzwerke von Familienmitgliedern sehen, die durch unterschiedliche Ehen, Partnerschaften und über Generationen hinweglose miteinander verbunden sind. Die heranwachsende Generation wird zudem neue Ansätze von Solidargemeinschaften entwickeln, die sozialpolitisch wegweisend sein könnten.»

Die Kleinfamilie trotzt dem Sturm
Demzufolge gibt der Rückzug der Menschen ins Private der Kleinfamilie erst recht Auftrieb. «Was wir jetzt als alternative Familien bezeichnen», sagt Klaus Preisner, «Patchwork oder Regenbogenfamiien zum Beispiel, das sind, rein strukturell gesehen, Kleinfamilien, aufgebrochen und neu formiert zwar, aber stark am klassischen Modell orientiert: Da sind zwei Erwachsene, die sich um Kinder kümmern, als Paar leben und eine Familie sein wollen.»
* Namen von der Redaktion geändert.
Zur Autorin:

Weiterlesen:
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- Frau Tazi-Preve, warum sind Mütter heute so erschöpft?
- Wie geht es den Kindern in alternativen Familienmodellen: Interview mit der Soziologin Andrea Bruschner – im Heft 02 / 2018