«Meinem Bruder fehlt ein Teil im Kopf» - Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
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«Meinem Bruder fehlt ein Teil im Kopf»

Lesedauer: 6 Minuten

Eltern mit einem behinderten Kind sind mit grossen Herausforderungen konfrontiert. Wie kann man da den Geschwistern ohne Handicap noch gerecht werden? Zwei Familien berichten.

Text: Sandra Casalini 
Bilder: Daniel Auf der Mauer / 13 Photo

Wirklich gemein sei das gewesen, als er wegen diesem Fünftklässler Ärger bekommen habe, erzählt Noè. Dieser hat sich über seinen Bruder Elia lustig gemacht, gesagt, der sei ja behindert. Da habe er ihm eine runtergehauen. Der andere habe dann bei der Lehrerin gepetzt. «Und wer hat den Ärger gekriegt? Ich!», ereifert sich Noè. «Behindert! Der weiss ja gar nicht, was das heisst, behindert.»

Noè, 10, weiss es sehr genau. Für ihn und seinen siebenjährigen Bruder Mael ist das Leben mit Elia Alltag. Der zwölfjährige Bruder der Buben hat das Cri-du-Chat-Syndrom. Babys und Kleinkinder, welche die seltene Störung haben, schreien wie Katzen, deshalb der Name. Elia «miaut» nicht mehr, spricht allerdings mit der für die Betroffenen typischen sehr hohen Stimme. Charakteristisch sind auch der kleine Kopf, die schwachen Muskeln, die Entwicklungsverzögerung und die psychomotorischen Einschränkungen. 

Versonnen lauscht Duri im heimischen Wohnzimmer dem Klang der Kirchenglocken.
Versonnen lauscht Duri im heimischen Wohnzimmer dem Klang der Kirchenglocken.

Wenn die Betreuerin da ist, können Noè und Mael in Ruhe spielen

Es ist ein ruhiger Mittwochnachmittag im Einfamilienhaus der Familie Giorgi in Trimbach SO. Noè setzt konzentriert seine geliebten Star-Wars-Lego zusammen, als er nebenher die Anekdote mit dem Fünftklässler erzählt.

Die Zimmertür steht offen, denn heute ist Denise da, die sich um Elia kümmert. Seine Betreuungsperson kommt jeden Mittwochnachmittag, wenn auch an der heilpädagogischen Schule, die Elia besucht, schulfrei ist. Dann können Noè und Mael in Ruhe spielen, oder haben auch mal ihr Mami für sich. Solche Stunden sind für Tanja Giorgi Gold wert. «Wir versuchen, Elia nicht zu sehr zum Zentrum der Familie werden zu lassen. Aber natürlich gelingt das nicht immer», sagt die Mutter der drei Jungen.Die meisten Geschwister von Kindern mit Behinderung finden, dass ihre Eltern im Alltag mehr Zeit mit dem handicapierten Geschwister verbringen als mit ihnen, sind aber nicht unglücklich darüber. Zu diesem Schluss kommt der deutsche Psychologe Heinrich Tröster in einer Auswertung diverser Studien an der Universität Heidelberg. 

Diese Diagnose macht unseren Sohn nicht aus. Wir haben ihm immer die Zeit gegeben, die er brauchte, um sich zu entwickeln.

Duris Mutter

Manchmal habe sie schon das Gefühl, der kleine Bruder sei immer wichtiger als sie, sagt Antonia. Die Elfjährige sitzt mit überkreuzten Beinen auf dem Sofa im heimischen Wohnzimmer in Sent im Engadin und beobachtet den siebenjährigen Duri aufmerksam. Der kleine Blondschopf fegt wie ein Wirbelsturm durch den Raum. Mal blättert er in einem Bilderbuch, mal drischt er aufs Schlagzeug ein, mal wirft er sich wild kreischend und fuchtelnd zu seiner Schwester aufs Sofa. Duri hat eine Störung aus dem Autismusspektrum sowie eine auf dem achten Chromosom. 

Diese Diagnose erhielten er und seine Familie erst vor gut eineinhalb Jahren. «Er zeigte zwar immer sehr typische autistische Verhaltensweisen, dann aber auch wieder nicht», erzählt seine Mutter Birgit Rathmer. Die Diagnose verschafft ihr und ihrem Mann Joachim Wurster Erleichterung, weil die Therapien, die Duri in Absprache mit Fachleuten von Anfang an zukamen, nun präzisiert werden können. «Sonst wäre sie uns nicht so wichtig gewesen. Diese Diagnose macht unseren Sohn nicht aus. Wir haben ihm immer die Zeit gegeben, die er brauchte, um sich zu entwickeln», sagt Duris Mutter. «Und gerade Therapien wie Ergo- oder Musiktherapie haben schon früh Erfolge gezeigt.» 

Elia schaut begeistert einem benachbarten Bauern bei der Arbeit zu.
Elia schaut begeistert einem benachbarten Bauern bei der Arbeit zu.

In Trimbach hat Noè inzwischen seine Lego fertig zusammengebaut. «Kommt, wir spielen Uno», sagt Tanja Giorgi. «Spielst du auch mit, Eli?» Elia schaut verärgert von seinem Buch über Motorräder auf. Seine Mutter hat ihn aus seiner Mittwochs-Routine mit seiner Betreuungsperson gerissen. Das mag er gar nicht. Trotzdem hockt er sich neben sie auf den Boden und linst in ihre Uno-Karten. «Ou Mann, mit Elia kann man gar nicht richtig spielen», meint Noè nach einer Weile leicht genervt. Das liegt unter anderem daran, dass der Zwölfjährige sich kaum auf mehrere Leute konzentrieren kann.

«Er hat für jedes Familienmitglied ein eigenes Spiel, das er nur mit diesem spielt», erklärt Tanja Giorgi. Noè grinst. «Manchmal habe ich da zwar auch keinen Bock drauf, aber eigentlich ist Elia sehr lustig.» Mal ist er bei diesen Spielen der Arzt «Doktor Fieberbein», oder er bringt seiner Mutter als Kellner die Speisekarte. Nicht, dass Elia häufig in Restaurants verkehrt.

«Es gibt Dinge, die nicht möglich sind mit ihm», erklärt seine Mutter. «Besuche, Ferien, Chilbi. Das wäre zu viel für Elia. Dass wir nie zu fünft als Familie auftreten können, macht mich manchmal etwas traurig.» Elia ist jedes zweite Wochenende im Entlastungsheim und verbringt dort auch einen Teil der Ferien. «Ich finde es schrecklich, ihn so oft fremdbetreuen lassen zu müssen», sagt Tanja Giorgi. «Aber ich möchte Noè und Mael – und auch uns Eltern – ab und zu ein Stück Normalität ermöglichen. Auch wenn es mir manchmal fast das Herz zerreisst, wenn Elia weint, weil er gehen muss. Und Noè leidet oft mit.»

Es ist wissenschaftlich erwiesen, dass Geschwister von Kindern mit Handicap empathischer sind als an­­dere (siehe Interview unten). Dazu kommt, dass sie oft schon früh Verantwortung übernehmen.

Laut der Studienauswertung von Heinrich Tröster übernehmen 38 Prozent von ihnen Betreuungsaufgaben, während es in Fa­milien ohne behinderte Kinder nur 13 Prozent sind. Antonia habe bereits mit vier Jahren auf den mittleren Bruder Jon Elias, mittlerweile neun, aufgepasst, wenn sie selbst von Duri absorbiert gewesen sei, erzählt Birgit Rathmer. Die Familie ist nach draussen gegangen und geniesst den sonnigen Sonntag im Engadin im Hinterhof.

Duri brettert mit dem Spielzeugtraktor den Hang runter, während Antonia mit Hund Mia neben ihm herrennt. Jon Elias hat ein Fussballmatch im Nachbardorf. Das kommt ihm gerade recht, denn er mag nicht über seinen Bruder reden, obwohl sich die beiden sehr nahestehen.

Vertraute Zweisamkeit: Tanja Goirgi mit ihrem Sohn Elia.
Vertraute Zweisamkeit: Tanja Goirgi mit ihrem Sohn Elia.

Elia ist jedes zweite Wochenende im Entlastungsheim

«Es ist wichtig, dass Antonia und Jon wissen, dass sie nicht jederzeit Rücksicht auf Duri nehmen müssen», sagt ihre Mutter. «Sie dürfen ihn auch mal wegschicken, wenn er stört. Oder mit ihm schimpfen, wenn er etwas kaputt macht.» Sie achtet darauf, ihrer Ältesten bewusst zu machen, dass sie nicht zu viel Verantwortung übernehmen muss. «Ich bin Duris Mutter, nicht sie!» Birgit Rathmer will auch ihren beiden nichthandicapierten Kindern gerecht werden. 

Diese sehen das allerdings oft gar nicht so eng. Als der Jüngste klein war, schrie er oft stundenlang. «Irgendwann dachte ich, das geht doch nicht, ich muss mich auch noch um die beiden anderen kümmern», erzählt Birgit Rathmer. Sie liess Duri schreien und begann, Antonia und Jon Elias eine Ge­­schichte zu erzählen. Worauf Antonia völlig irritiert meinte: «Mama, der Duri weint. Hörst du das nicht?». Mittlerweile hat es sich so eingespielt, dass Duri jeweils am Mittwochnachmittag zu jemandem zum Spielen geht und ihre Mutter sich dann Zeit für Antonia und Jon nimmt. Oder ein Elternteil verbringt mal ein Wochenende allein mit einem der Kinder. So war Joachim Wurster kürzlich mit seinem älteren Sohn ein paar Tage in Wien. «Das passt für uns gut so», sagt der Vater. 

Auch in Trimbach hat man beschlossen, noch ein bisschen die Sonne zu geniessen. Noè hat sich mit einer Schulfreundin verabredet, Mael kurvt auf dem Scooter herum. Elia sieht dem Bauern, der um die Ecke wohnt, beim Mähen zu. Als es an der Zeit ist, nach Hause zu gehen, hat Elia gar keine Lust dazu. Der Zwölfjährige wirft sich schreiend auf den Boden, beisst sich dabei auf die Unterlippe, blutet. «Ja, manchmal wünschte ich mir schon, es wäre anders», gesteht Tanja Giorgi. «Es wäre alles so viel einfacher. Ob es besser wäre, weiss ich nicht.» 

Elia isst eine Schnecke

Kaum ist es ihr gemeinsam mit Betreuerin Denise gelungen, ihren Sohn ein Stück in Richtung zu Hause zu bugsieren, kehrt dieser blitzschnell wieder um und rennt zurück zur Wiese. Elia achtet nicht auf Autos. Er stolpert und fällt. Elia steckt alles in den Mund. Kaut sein T-Shirt, isst eine Schnecke. Elia wird immer ein Kleinkind im Körper eines grossen Kindes sein, eines Teenagers, eines Erwachsenen. «Ihm fehlt ein Teil im Kopf», sagt Mael, wenn er gefragt wird, was mit seinem Bruder los ist. Und wie ist Elia sonst so? «Elia ist anders. Aber Elia ist gut.» Und welcher seiner Brüder nervt ihn mehr? Die Antwort kommt wie aus der Pistole geschossen: «Noè!»

Laut Heinrich Tröster schätzen Kinder die Beziehung zu einem behinderten Geschwister positiver ein als zu einem ohne Behinderung. Das mag zum Teil daran liegen, dass negative Gefühle ihnen gegenüber oft mit einem schlechten Gewissen verbunden sind. Häufig haben solche Geschwister aber tatsächlich eine wie ein Wirbelsturm enge Bindung, entwickeln gar eine eigene Sprache. «Spielplatz», sagt Duri. Es ist eines der wenigen Wörter, die er sagen kann. Sonst kommuniziert der Siebenjährige in Gebärdensprache, versteht aber alles – in Deutsch und Rätoromanisch. «Duri wächst innen langsamer als aussen», erklärt Antonia. Die Familie macht sich auf den Weg zum Spielplatz.

Ob sie sich manchmal wünschten, ganz normal zu sein? Joachim Wurster zuckt die Schultern. «Wir kennen es nicht anders. Wir haben, was wir haben, und das ist viel. Wir sind doch normal!»

Sandra Casalini
ist Journalistin, Texterin, Geschichtensucherin und -erzählerin. Ihre Schwerpunkte sind Familie, Lifestyle, Reisen, Alpin und Unterhaltung/People. Sie lebt mit ihren zwei Kindern in Thalwil.

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Der übersichtlich gestaltete Ratgeber veranschaulicht die einzelnen Themen mit konkreten Beispielen aus der Praxis von Procap und fasst die wichtigsten Anregungen in Tipps zusammen. Neben einer einführenden Beschreibung der Invalidenversicherung, deren allgemeinen Aufgaben und Leistungen, werden auch die spezifischen Leistungsarten für Minderjährige wie beispielsweise medizinische, schulische und berufliche Massnahmen vorgestellt. Dies sind unter anderem Ansprüche auf Hilflosenentschädigung, Hilfsmittel, IV-Renten oder Intensivpflegezuschläge. Auch bestehende Ansprüche gegenüber andern Versicherungen (Krankenversicherung, Unfallversicherung oder Pensionskasse) werden behandelt und mit Ausführungen zum Verfahrensweg ergänzt. Der Ratgeber berücksichtigt ebenfalls den Assistenzbeitrag und das neue Erwachsenenschutzrecht.