«Das T-Shirt der Schande»
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Die Diskussion über Bekleidungsvorschriften für Schülerinnen und Schüler wurde in diesem Herbst durch heftigen Protest an einer Genfer Mittelschule neu entfacht. Was lässt sich tun, damit alle anständig gekleidet erscheinen – und braucht es überhaupt Regeln?
Genfer Schülerinnen protestierten unlängst lautstark. Grund der Empörung: drastische Massnahmen aufgrund der Kleiderordnung an einer Mittelschule. Diese hat Jugendlichen, die als unpassend gekleidet erachtet wurden, das Tragen eines T-Shirts in Übergrösse mit dem Aufdruck «Ich bin angemessen bekleidet» auferlegt. Die Schüler sprechen vom «T-Shirt der Schande».
Fehlbare Jugendliche zu brandmarken, ist der falsche Weg. Aus Sicht des VSLCH braucht es auch keine neuen Spielregeln. Es ist vor allem wichtig, dass Lehrpersonen mit ihren Schülerinnen und Schülern im Austausch – in Beziehung – sind. Dies ist die Basis, um die notwendigen Normen zu erarbeiten, und zwar gemeinsam. Betroffene sollen Teil der Lösung sein.
«Fehlbare Jugendliche zu brandmarken, ist der falsche Weg.»
Kinder und Jugendliche einzubeziehen bedeutet, ihnen echte Neugier und Interesse an ihrer Lebenswelt entgegenzubringen. Kommt jemand unpassend gekleidet zur Schule, ist dies im Einzelfall anzuschauen. Es braucht nicht sofort neue Abmachungen. Vielmehr lässt ein solcher Gesprächsanlass mit den Worten «Ich sehe, dass … und mache mir Sorgen, weil …» erkennen, dass trotz Kritik eine wohlwollende und respektvolle Grundhaltung gelebt wird. Manchmal ist es ratsam, sich im Unterrichtsteam oder im Kollegium abzusprechen, sodass ein Mädchen von einer Lehrerin, ein Junge von einem Lehrer angesprochen wird.
Auch unser Partnerverband, der Dachverband Lehrerinnen und Lehrer Schweiz (LCH), vermerkt in seinem Positionspapier: «Einen verbindlichen Dresscode […] für Schülerinnen und Schüler hält der LCH nicht für notwendig. […] Es reichen allfällige schulinterne Hinweise auf weniger zu empfehlende oder unangemessene Kleidung.»
Gelebte Demokratie entsteht, wenn Lösungen gemeinsam gefunden werden und sich alle an die vereinbarten Normen halten.
Der in Verruf geratenen Genfer Schule ist zugutezuhalten, dass sie vor sechs Jahren ihr Regelwerk in Kooperation mit den Jugendlichen und deren Eltern erstellt hat. Ihr Beispiel zeigt aber auch, wie entscheidend es ist, dass Vereinbarungen dieser Art zu gegebener Zeit wieder thematisiert werden. Ansonsten versteht sie keiner mehr.
Wenn es uns gelingt, Kinder und Jugendliche miteinzubeziehen, erzielen wir die grösstmögliche Wirkung und fördern gleichzeitig das Demokratieverständnis unserer Schülerinnen und Schüler. Gelebte Demokratie entsteht, wenn Lösungen gemeinsam gefunden werden und sich alle an die vereinbarten Normen halten. Dies gilt sowohl für die angemessene Bekleidung von Kindern und Jugendlichen als auch für angemessene Bekleidung von Lehrerinnen und Lehrern.