Werden unsere Kinder in der Schule übertherapiert? - Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
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Werden unsere Kinder in der Schule übertherapiert?

Lesedauer: 8 Minuten

Serie: Kind und Therapie – Teil 1

Für manches Kind ist die Schule eine Herausforderung, weil gerade andere Fähigkeiten gefragt sind als jene, in denen es besonders stark ist. Irgendwann wird den Eltern eine Abklärung oder eine Therapie vorgeschlagen. Mütter und Väter sind dann im Dilemma: Sollen sie hoffen, dass sich die Schwäche auswächst, oder leidet das Kind, wenn sie noch abwarten? Und was beinhaltet eine Therapie für das Kind überhaupt?

Der zehnjährige Linus träumt im Unterricht gerne vor sich hin. Im Klassenzimmer bewegt er sich sehr vorsichtig.

Für die elfjährige Lea sind Zahlen ein Rätsel.

Manuel aus der ersten Klasse kann nicht still sitzen, rempelt dauernd alle an und kommt mit der Schere nicht zurecht.

Sollen nicht vielmehr Stärken gestärkt als Schwächen 
 ausgemerzt werden?

Wenn seine Banknachbarin Lisa «das Ross und der Bär» sagt, hört sich das an wie «das Loss und del Bäl». Ihr Mund produziert das «R» einfach noch nicht. 
Das soziale Verhalten, der sprachliche Ausdruck (die Artikulation), die physischen (motorischen) Fertigkeiten und das Lesen, Schreiben und Rechnen: All dies kommt spätestens im jährlichen Standort- oder Elterngespräch zwischen Mutter, Vater und der Klassenlehrperson zur Sprache. Es stellt sich die Frage, ob Kinder wie Linus, Lea, Manuel oder Lisa für ihre schulische Entwicklung spezielle Unterstützung benötigen. Brauchen Kinder den Support einer Heilpädagogin, eine Abklärung durch den schulpsychologischen Dienst oder eine andere mögliche Form der pädagogischen Unterstützung? Oder reicht es, wenn Eltern und Lehrpersonen dem Kind mehr Zuwendung schenken und die Aufmerksamkeit auf andere Bereiche lenken? Sollen nicht vielmehr Stärken gestärkt als Schwächen ausgemerzt werden?

Förderwahn kontra Unterstützung

Über die Frage der Therapiebedürfnisse von Schulkindern streiten sich die Fachleute seit zehn Jahren. Der Graben in dieser Diskussion führt quer durch die Gesellschaft. Die einen – Eltern, Grosseltern, Kinderärzte, Lehrer – sehen die Schulkinder einem Förder- und Therapiewahn ausgesetzt. Die anderen,  meist Pädagogen und Psychologen, wünschen sich für die Kinder nichts als eine optimale Unterstützung, damit diese beim Steigerungslauf der Schule leistungsmässig mithalten können.

Sonderpädagogische Massnahmen

Therapien im schulischen Bereich werden unter dem Begriff der sonder­pädagogischen Massnahmen zusammengefasst. Knapp 42 00 Kinder erhielten in der Schweiz im Schuljahr 2017/2018 eine sogenannte verstärkte sonderpädagogische Massnahme. Das bedeutet konkret, dass sie neben dem Unterricht in ihrer Regelklasse Einzel- oder Gruppenstunden bei einer Heilpädagogin erhielten, eine Therapiestunde in Logopädie oder eine Stunde in Psycho­motorik besuchten. Betroffen waren gemäss Bundesamt für Statistik insgesamt 4,5 Prozent aller lernenden Kinder und Jugendlichen in der Schweiz.

Kind und Therapie – die Serie Mehr als die Hälfte der Schweizer Schulkinder wird im Laufe ihrer schulischen ­Laufbahn einmal therapiert. Viel zu viele, sagen manche Kinderärzte und Experten, und plädieren für mehr Gelassenheit bei Schul- und Lernschwierigkeiten. Eltern wiederum sind oft ratlos, hinterfragen ihre Ansprüche, fürchten sich vor Stigmatisierung. In dieser fünfteiligen Serie möchten wir das Feld des schulischen Therapieangebots ­beleuchten. Was ist das Ziel der sogenannten sonderpädagogischen Massnahmen? Wann sind sie nötig? Was macht eine Heilpädagogin im Unterricht? Wie arbeitet eine Logopädin? Was bedeutet Psychomotorik? Und haben wir nicht vielleicht einfach falsche Vorstellungen davon, was der Norm entspricht und was nicht? Alle bisher erschienen Artikel finden Sie hier: Kind und Therapie – die Serie
Kind und Therapie – die Serie
Mehr als die Hälfte der Schweizer Schulkinder wird im Laufe ihrer schulischen ­Laufbahn einmal therapiert. Viel zu viele, sagen manche Kinderärzte und Experten, und plädieren für mehr Gelassenheit bei Schul- und Lernschwierigkeiten. Eltern wiederum sind oft ratlos, hinterfragen ihre Ansprüche, fürchten sich vor Stigmatisierung. In dieser fünfteiligen Serie möchten wir das Feld des schulischen Therapieangebots ­beleuchten. Was ist das Ziel der sogenannten sonderpädagogischen Massnahmen? Wann sind sie nötig? Was macht eine Heilpädagogin im Unterricht? Wie arbeitet eine Logopädin? Was bedeutet Psychomotorik? Und haben wir nicht vielleicht einfach falsche Vorstellungen davon, was der Norm entspricht und was nicht?
Alle bisher erschienen Artikel finden Sie hier: Kind und Therapie – die Serie

Die Zahlen zeigen, dass Kinder mit Lernschwierigkeiten und Lernbehinderungen heute viel öfter in der Regelschule integriert werden als noch vor 20 Jahren. Das will das Gesetz der Integration – mit dem Effekt, dass Kinder, die früher separat geschult worden wären und eine Sonderschule besucht hätten, heute in einer Regelklasse sind.
  
Gleichzeitig hat sich die gesellschaftliche Norm gewandelt, ist die Vorstellung dessen, was normal ist, immer enger geworden. Wenn Kinder, die eine Regelklasse besuchen, eine Schwäche im motorischen, sprachlichen oder rechnerischen Bereich haben, verträumt sind oder nicht leicht lernen, wird versucht, ihre Schwächen so zu relativieren, damit sie im normalen Unterricht mithalten können. So sollen sie wegen ihrer Schwächen nicht mehr ausgegrenzt werden, sondern Teil eines grossen Ganzen sein.

Aber wann leidet ein Kind wirklich unter einer Fehlfunktion, die therapiert werden kann, und wann ist lediglich die Entwicklung verzögert? Sprich: Wann braucht das Kind einfach nur ein bisschen mehr Zeit und Raum, um sich zu entfalten? Fachleute geben zu: Diese Diagnose ist nicht immer einfach zu stellen. «Heute werden immer öfter Aufmerksamkeitsstörungen diagnostiziert», kritisiert etwa der Solothurner Kinderarzt und Autor Thomas Baumann.

Auch der Churer Entwicklungsspezialist, Kinder- und Jugendtherapeut Andreas Müller hat beobachtet, dass die Schule heute ein sehr enges «Normband» hat. «In diesem Rahmen wird ein Verhalten schnell auffällig», sagt Müller. «Je grösser das Angebot von sonderpädagogischen Massnahmen, desto grösser ist auch die Nachfrage.»

Kinder, die früher eine Sonderschule besucht 
 haben, gehen heute in eine Regelklasse.

Für Salome, die Mutter des verträumten Linus, führten die Vor­stellungen der Kindergärtnerinnen und Lehrpersonen über Normalität zu einem grossen inneren Kampf, in dem sie sich als Mutter zuweilen selbst in Frage stellte. Erstmals erhielt Salome von der Kindergärtnerin Rückmeldungen zu ihrem Sohn. Die Kindergärtnerin hatte bei Linus Symptome von Autismus ausgemacht und riet den Eltern, den Jungen abklären zu lassen. Der Schulpsychologe klärte den Jungen ab und Linus wurde in der Folge von einer Logopädin und einer Heilpädagogin unterstützt.

Doch auch mit dem Schuleintritt erlebte Salome, wie Linus stark im Fokus der Lehrpersonen stand. Einmal wurde ihm ein Asperger-Syndrom, dann Hypersensibilität zugeschrieben, erzählt sie.

Das Stigma des Andersseins

Sie konsultierte einen Spezialisten, der Linus als «ungeschickt» bezeichnete. Die Lehrpersonen waren sich einig, dass Linus in der Schule bei der Entwicklung Unterstützung brauchte. Die Kinderärztin riet Salome, sich nicht gegen die schulischen Empfehlungen zu stellen. Gleichzeitig litt der Junge unter diesem deklarierten Anderssein. Er wurde von den anderen Kindern gehänselt, und irgendwann weigerte er sich, in die Schule zu gehen. ­Diese Situation – die ständige Auseinandersetzung mit Lehrpersonen, Therapeuten und Schulpsychologen – wuchs Salome über den Kopf.
 
Rückblickend sagt sie: «Die Therapeutinnen und Therapien waren für Linus Gold wert. Er hat die Einzel­stunden mit der Logopädin und auch jene mit der Heilpä­dagogin, die psychomotorisch mit ihm arbeitete, geliebt.» Doch sie selbst hatte irgendwann einfach den starken Wunsch, dass ihr Sohn einmal einfach als «ganz normal» betrachtet werden würde.

Die Familie zog um, wechselte das Quartier und damit die Schule. Am ersten Schultag kam Linus gelöst und glücklich nach Hause. Er sagte: «Der Lehrer ist nett. Die anderen Schüler auch!» Natürlich hatte die neue Schule Kenntnis von Linus’ Schwierigkeiten, doch in einem Gespräch bat Salome die Klassenlehrperson, ihren Jungen probehalber als ganz normal zu betrachten. Der Lehrer fand kein Argument, das dagegen sprach. Die Folge: Linus geht wieder gerne zur Schule. Sind also die Lehrpersonen ausschlaggebend? Manchmal ja, aber manchmal eben auch nicht. Einerseits sind die gesellschaftlichen Ansprüche an die Schule in den letzten zwanzig Jahren stark gewachsen. Das stellt der Psychologe Andreas Müller fest. Er sagt: «Die Lehrer stehen unter einem zunehmenden Leistungsdruck.» So manche Eltern haben grosse Erwartungen an ihren Nachwuchs. Dem pflichtet der Zürcher Kinderarzt und Entwicklungsspezialist Oskar Jenni bei: «Viele Kinder leiden unter dem grossen Druck ihrer Umgebung», sagt Jenni. Er rät den Eltern zu mehr Gelassenheit und vor allem zu Vertrauen ins Entwicklungs­potenzial ihrer Kinder.

Kinder als Projektionsfläche

Keine einfache Sache, denn Kinder dienen ihren Eltern oft als Projek­tionsfläche für die eigenen unerfüllten Wünsche: Traumberuf verpasst? Der Sohn solls besser haben. Hochschulkarriere verpatzt? Das soll der Tochter nicht passieren. Der eigene gesellschaftliche Status ist unter den Erwartungen? Dann passen Berufsbilder wie Schlosser, Bauer oder Maurerin oft nicht ins elterliche Familienbild. «Es ist in einer zunehmend kompetitiven Gesellschaft eine grosse Heraus­forderung, die eigenen Erwartungen und Ansprüche nicht auf die Kinder zu übertragen», sagt Jenni.

Vergleiche setzen Eltern unter Druck

Der Churer Kinder- und Jugendpsychologe Andreas Müller weiss, dass Eltern unter Druck geraten, wenn der Entwicklungsstand des eigenen Kindes in der Primarschule zum Thema wird. Es brauche, so Müller, schon ein dickes Fell, um sich von den Vergleichen, die eine Lehrperson anstelle, nicht irritieren zu lassen. Er erhofft sich von den Eltern mehr Toleranz und betont, dass in der Primarschule der Entwicklungsstand ausgesprochen unterschiedlich ist: «In einem Tulpenbeet gibt es auch die früh blühenden Blumen. Und neben der Masse, die gleichzeitig blüht, gibt es jene, die sich spät entwickeln. Aber jede ist doch für sich schön.»

Entwicklungspsychologische Themen müssen in der Lehrerausbildung einen höheren Stellenwert bekommen, fordert Oskar Jenni.

Mit Lisa und ihrem «Ross und Bär» arbeitet seit ein paar Monaten die Logopädin. Und Manuel schult seit den Ferien in der Psychomotorik-Therapie sein Körpergefühl. Die elfjährige Lea hingegen konnte im Mathematikunterricht von einer Entschleunigung profitieren. Mathe war für sie bisher immer Stress. Seit sie ihr Lernziel anpassen konnte und Einzelstunden in Mathematik bei einer Heilpädagogin erhält, ist der Stress weg. Leas Mutter Jenna bezeichnet das neue Setting als das Beste, was uns passieren konnte. «Mathe ist jetzt Leas Lieblingsfach.» Ihre Mutter fühlt sich durch die heilpädagogische Unterstützung sehr entlastet. «Wenn die Schule schon so klare Vorgaben gibt, was ins System passt und was nicht, ist es gut, dass jene unterstützt werden, die nicht hineinpassen.»

Stress blockiert die Entwicklung

Müller hat in seiner langjährigen Praxis beobachtet, dass Kinder oftmals lediglich mehr Zeit brauchen. Wenn sie seitens der Eltern oder der Schule unter Stress stehen, wirkt sich das nämlich negativ auf die Entwicklung aus. Dann nimmt das Kind schlechter wahr, kann den Stoff weniger gut behalten und ist letztlich blockiert. Müller kritisiert insbesondere die Tendenz zu vielen selbständigen Arbeiten und Wochenzielen im Unterricht. «Für Kinder, die aufgrund ihres Entwicklungsstandes noch nicht strukturieren können, ist das eine grosse Herausforderung.» Das Gegenmittel sei: «Zeit geben, Zeit lassen, Zeit schenken und sich für Kinder vor allem auch Zeit nehmen. Entscheidend sind Engagement, Zuwendung, Wertschätzung und Präsentsein», sagt Müller. «Päda­gogen sollten zu eigentlichen Entwicklungsspezialisten werden», fordert auch Jenni. Seiner Meinung nach sollten entwicklungspsychologische Themen in der Lehrerausbildung künftig einen viel grösseren Stellenwert erhalten, um einen entwicklungsorientierten Unterricht überhaupt möglich zu machen. Das Bestreben der Gesellschaft, alle Besonderheiten abzuklären und schliesslich mit Therapien zu optimieren, betrachten sowohl Jenni als auch Müller kritisch. Jenni sieht darin eine «Industrialisierung der Kindheit»: «Bildung ist in der Schweiz zum Rohstoff geworden», sagt der Zürcher Entwicklungsspezialist. Der Churer Kollege Müller weist dabei aber auch auf positive Erfahrungen hin: «In Einzelsettings erhalten die Kinder oft auch eine wohltuende und weiterführende Anerkennung für ihren Einsatz, was sie stärkt. Optimal ist, wenn die Einzel­stunden mit den Lehrpersonen hinsichtlich der Unterstützung koordiniert sind. So werden aus Versagern oft mutige Kämpfer!»

Das sagt die Statistik

Man unterscheidet zwischen Unterstützungsmassnahmen im Rahmen der Regelschule und separativen Angeboten, also Sonderklassen der Regelschule, Sonderschulen, Einführungsklassen oder Klassen für Fremdsprachige. Im Zuge der integrativen Schule ist Letzteres seltener geworden: Von den 940 000 Schulkindern in der Schweiz nehmen heute nur noch 1,5 Prozent ein separatives Angebot in Anspruch. Weitaus häufiger findet eine Unterstützung von Kindern durch heilpädagogische Begleitung, die Logopädie oder die Psychomotorik statt: 42 000 Kinder (im Schuljahr 2017/2018). Dabei gehören für Knaben diese Begriffe öfter zum Schulalltag als für Mädchen. 5,7 Prozent der Buben nahmen eine verstärkte sonderpädagogische Massnahme in der Regelklasse in Anspruch, aber nur 3,2 Prozent der Mädchen. (Quelle: BFS)

Die Vielfalt des Angebots

Die Vielfalt bei der Ausgestaltung der sonderpädagogischen Unterstützung ist in der Schweiz gross: Mathematik in der Kleingruppe bei der Heilpädagogin, Einzeltherapie bei der Logopädin oder in der Psychomotorik, Spiele mit der heilpädagogisch ausgebildeten Kindergärtnerin, um das grob- und feinmotorische Geschick zu üben. Jede Gemeinde, ja praktisch jede Schule hat ein eigenes Angebot für Kinder, die der schulischen Förderung bedürfen. In ländlichen Gebieten in der Schweiz werden Kinder mit Lernschwierigkeiten insgesamt häufiger integriert beschult als im städtischen Lebensraum. Dies geht aus den Zahlen des Bundesamtes für Statistik hervor. 91 Prozent der Sonderschulen in der Schweiz sind im städtischen Gebiet angesiedelt. Nur 9 Prozent der Sonderschulen befinden sich in ländlichen Gemeinden. (Quelle BFS)


Ursina Trautmann
ist Journalistin und Autorin und schreibt für Bücher, Bühne und Zeitschriften. Sie hat zwei Töchter und ist an Entwicklungsfragen und Psychologie interessiert.

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