Lehrer müssen in Führung gehen
Bild: Franziska Messner-Rast
Wie sorgen wir dafür, dass unsere Lernenden uns als Führungspersonen anerkennen und uns Respekt entgegenbringen? Diese Frage beschäftigt viele Lehrpersonen immer wieder von Neuem. Auf der Suche nach Antworten können gerade die Schülerinnen und Schüler selbst wertvolle Impulse liefern.
Oft steht dahinter die irrige Vorstellung, dass die Kinder früher vom Elternhaus praktisch «fertig erzogen» in die Schule kamen, wo sie von den Lehrpersonen lediglich unterrichtet werden mussten.
Früher nutzten Lehrpersonen traumatisierende Methoden, um sich durchzusetzen.
Dass Lehrpersonen, die sich nicht durchsetzen konnten oder wollten, auch früher mit Disziplinproblemen zu kämpfen hatten, erfährt man, wenn man mit Senioren über ihre eigene Schulzeit spricht. Da ist von üblen Streichen die Rede – von Klebstoff und Reissnägeln auf dem Lehrerstuhl, von Juckpulverattacken und nach vorne fliegenden Turnschuhen.
Die vielgelobte Disziplin und Ordnung wurden mit Einschüchterung und teils mit nackter Gewalt erzwungen. Es ist ein Riesenglück, dass unsere Kinder in eine Schule gehen dürfen, in der sich die Erwachsenen nicht mehr auf diese Art durchsetzen.
Die Kinder wünschen sich Führung, Klarheit und Struktur
Auch Emil, 11, hat Grund zur Freude: «Meine Lehrerin ist nett und hat für jeden Verständnis! Und eine Menge Geduld, wenn sie mir Mathe erklärt. Sie hat Humor und ist lustig … und sie ist fair und gerecht!»
So ärgert sich der 11-jährige Cyrill darüber, wenn seine Mitschüler «die Lehrerin ärgern und wir nicht weiterkommen im Unterricht. Es wird langweilig! Ich finde das nur doof». Man brauche eben «eine gute Klasse, Regeln und die Lehrerin, die diese auch durchsetzt – aber in einem guten Umgangston statt im Befehlston», damit man sich in der Schule wohlfühlen kann, meint Lucy, 7. Ähnlich sieht es die 14-jährige Joan, für die eine gute Lehrerin «sehr nett ist, aber wenn es darauf ankommt, bleibt sie ernst».
Struktur ist für Lernende genauso relevant wie Herzlichkeit und Bestimmtheit.
«Kein Lehrer hat geholfen»
Je älter die Schülerinnen und Schüler sind, desto häufiger taucht der Begriff «Respekt» in ihren Äusserungen auf. Wir waren erstaunt, wie kritisch und differenziert viele Jugendliche ihre Lehrpersonen unter die Lupe nehmen. Sie erwarten ein echtes Interesse an ihnen als Person: Béryl, 16, beschreibt, dass er Lehrpersonen nicht mag, die «keinen Respekt haben und meinen, dass sie immer alles über die Schüler wissen, dabei wissen sie nichts über uns». Und Jana, 14, antwortet auf die Frage nach ihrem perfekten Schulalltag: «Das wäre, wenn sich die Lehrer auch für mich als Person und nicht nur für meine Leistungen interessieren würden.»
Frühere Strategien werden heute von Schülerinnen und Schülern durchschaut und als lächerlich empfunden.
Autorität sollte nicht durch Machtausübung geltend gemacht werden!
Aus den vielen Stimmen der Kinder und Jugendlichen kristallisiert sich ein deutliches Plädoyer für einen demokratischen Führungsansatz in der Schule heraus.
Gefordert wird ein Klima, in dem die Lehrperson als Führungsperson in Erscheinung tritt, ihre Autorität aber nicht durch Machtausübung geltend macht. Vielmehr soll sie gemeinsam mit der Klasse Ziele aushandeln, ihre eigenen Erwartungen klar äussern, aber auch die Stimmen der Schülerinnen und Schüler einfangen und ernst nehmen. Regeln sollen weder von oben nach unten durchgegeben noch stillschweigend vorausgesetzt werden.
Lernende wollen spüren, dass die Regeln einem gemeinsamen Ziel nützen, hinter dem sie stehen können.
Dies impliziert, dass die Schülerinnen und Schüler einander nicht lächerlich machen, die Kinder der Lehrperson Respekt erweisen und diese niemanden durch überraschendes Aufrufen oder negative Kommentare vor der Klasse bloss stellt oder Kinder an die Tafel ruft, die diese Situation ängstigt.
Demokratische Führung in der Schule
- In welchen Momenten fühle ich mich wohl in der Schule, wann nicht?
- Was benötige ich von der Lehrperson und den Mitschülerinnen und Mitschülern, damit ich lernen kann und vorankomme?
- Was darf in der Schule nicht passieren? Was trägt dazu bei, dass ich morgens nicht gerne in die Schule komme?
- Welche Regeln sind wem wichtig und warum?
- Wir haben die Regel «wir achten einander und aufeinander» – wer kann dazu etwas erzählen, das sie/ihn gefreut hat?
- Was hat bei der Gruppenarbeit gut funktioniert? Was nicht? Was ist nötig, damit die Zusammenarbeit noch besser klappt?
- Wie habt ihr die letzten Stunden erlebt? Was fandet ihr besonders spannend? Was nehmt ihr daraus mit? Was hat euch gefehlt?
Vier demokratische Führungsjoker
Die vier demokratischen Führungsjoker erlauben es den Geführten, auf die Führung Einfluss zu nehmen, indem sie unmittelbare Rückmeldungen geben. Es handelt sich dabei um vier Signalwörter, die jeder Schüler, jede Schülerin während des Unterrichts zu jedem Zeitpunkt aussprechen darf, um sich einzubringen:
- Der Joker «Tempo» zeigt an, dass es zu langsam geht und sich einzelne Schülerinnen und Schüler oder die Klasse gelangweilt fühlen. Damit lässt sich beispielsweise eine ausufernde Diskussion unterbrechen, wenn mehrere Klassenmitglieder das Signalwort «Tempo» aussprechen und damit verdeutlichen, dass sie nun mit dem Stoff weitermachen möchten.
- Der Joker «Klarheit» meldet der Lehrperson oder einem Mitschüler zurück, dass eine Erläuterung oder ein Auftrag nicht nachvollzogen werden kann und man eine Präzisierung oder andere Erklärung benötigt. Dieser Joker basiert auf der Grundhaltung: «Wer führt, trägt die Verantwortung dafür, dass alle verstehen, was die Führung vermitteln will.»
- Der Joker «Veto» erlaubt es den Geführten, eine Anweisung auszuschlagen. Sie dürfen, müssen dies aber nicht begründen. Durch das Aussprechen des Signalworts «Veto» würde es beispielsweise einem Schüler, einer Schülerin ermöglicht, eine Frage nicht zu beantworten oder die Aufforderung, zur Abfrage an die Tafel zu kommen, zu verweigern.
- Der Joker «Verantwortung» bietet Schülerinnen und Schülern die Gelegenheit, Einspruch zu erheben, wenn sie jemand anderen schützen möchten und das Gefühl haben, dass sich diese Person gerade unwohl fühlt, sich aber nicht selbst zur Wehr setzen oder zu einem «Veto» durchringen kann.
Wir glauben, dass unsere Klassen nicht unentwegt von diesen Jokern Gebrauch gemacht hätten. Aber in Momenten, in denen sich tatsächlich Probleme auftun oder Verletzungen entstehen, hätten wir diese Signalwörter aussprechen und damit Einfluss nehmen können. Es war uns als Schülern klar, dass unsere Lehrpersonen dem Lehrplan folgen müssen und wir zur Schule gehen, um etwas zu lernen. Aber wenn eine Klassenkameradin, die schlecht Englisch spricht und soziale Ängste hat, vor der Klasse steht, unter Tränen ihr Referat in einer Fremdsprache hält und am Ende noch vor allen zusammengestaucht wird, hätte diese Situation mit einem «Veto» oder «Verantwortung» verhindert werden können.
Diese Führungsweise fordert Mut, Neugier und Vertrauen in die Klasse.
Über die Autoren:
Talk im Kulturpark mit Fabian Grolimund zum Thema: «Wie gelingt Schule?»
Das Thema: Wie gelingt Schule?
Ein Abend für Eltern, Lehrerinnen und Lehrer und alle, die sich für Schule und Lernen interessieren. Sichern Sie sich Ihr persönliches Ticket! Hier geht’s zum Online-Ticketing.
Mehr zum Thema Schule und Lehrpersonen:
- Hochsensitive Schüler? Tipps für Lehrpersonen
Sie stellen oft einen perfektionistischen Anspruch an sich selbst und werden leicht zum Mobbingopfer – Dieser Leitfaden hilft Lehrpersonen im Umgang mit hochsensitiven Kindern.
- «Es gibt keinen Lehrermangel»
Beinahe 30 Jahre hat Beat W. Zemp den Dachverband der Schweizer Lehrerinnen und Lehrer LCH präsidiert. Im Juli 2019 schied er aus dem Amt. Der Pädagoge über den Druck, der auf Lehrpersonen lastet und die Frage, warum er letztendlich Lehrer und nicht Dirigent geworden ist.