Eine Chance für Mohamed

Bilder: Roshan Adihetty / 13 Photo
Ob man ans Gymnasium kommt oder nicht, entscheidet in der Schweiz die Herkunft. Das Programm ChagALL soll für mehr Chancengleichheit sorgen. Wie begabte Migrantinnen und Migranten für eine höhere Schullaufbahn fit gemacht werden.
«Es ist erwiesen, dass junge Migranten, die aus bescheidenen finanziellen Verhältnissen stammen, wenig Chancen auf einen höheren Bildungsabschluss haben», sagt Jürg Schoch, Direktor des Gymnasiums Unterstrass. Unabhängig davon, wie begabt sie seien. Aus diesem Grund wurde 2008 das Programm ChagALL, Chancengerechtigkeit durch Arbeit an der Lernlaufbahn, ins Leben gerufen. Seither wurden 137 begabte jugendliche Migrantinnen und Migranten neben ihrem Regelunterricht gecoacht und geschult. Mit dem Ziel, sie für die Aufnahmeprüfung an einem Gymnasium, einer Berufsmittelschule oder Fachmittelschule fit zu machen. Träger des Programms ist – ebenso wie für das Gymnasium Unterstrass – der Verein für das Evangelische Lehrerseminar Zürich, finanziert wird es durch zwei Stiftungen.
Die Hürde liegt für junge Migranten hoch
«Wir raten den Eltern, ihren Kindern die Freiheit zu lassen, lernen zu können»
Stefan Marec, Lehrer am Gymnasium Unterstrass
Was folgt, ist ein stufenweise durchgeführtes Aufnahmeverfahren, welches ein schriftliches Assessment, die Erfassung von psychologischen und intellektuellen Fähigkeiten und Fertigkeiten sowie, in einem weiteren Schritt, ein ausführliches Aufnahmegespräch umfasst. Wer dann immer noch dabei ist, hat gute Chancen, ausgewählt zu werden.
Mitra drohte Zwangsverheiratung. Dann wurde sie Klassenbeste.

So wie Mutter und Vater von Mitra Karimi, 18 Jahre alt und Schülerin des Gymnasiums Unterstrass. Als sie 12 Jahre alt war, sind ihre Eltern mit ihr aus Afghanistan geflohen. Das Mädchen sollte zwangsverheiratet werden. Heute lebt die Familie in Zürich, der Vater arbeitet als Logistiker, die Mutter ist Hausfrau. Beide sprechen nur gebrochen Deutsch.
Das sind schlechte Startbedingungen im Schweizer Bildungssystem. Und doch, an ihrer Sekundarschule gehörte Mitra zu den Klassenbesten. «Aber den Sprung ans Gymnasium hätte ich nie alleine geschafft», ist sie sich sicher. Nach bestandener Aufnahme ins Programm fuhr sie jeden Mittwoch nachmittag und Samstagmorgen zum Extra-Unterricht, wurde in Mathematik, Deutsch und Französisch sowie Geometrie geschult. Zwei Lehrpersonen arbeiten im Programm jeweils zusammen, eine Gymnasial und eine Sekundarkraft. «Zusätzlich vermittle ich regelmässig Konzentrations- und Entspannungsübungen, erkläre, wie man sich und seine Arbeit bestmöglich organisiert», ergänzt Stefan Marcec.
Die Motivation der Jugendlichen im ChagALL-Programm ist gross

Viele Eltern können nicht einmal die Schulbücher bezahlen
«Ihr habt eine reale Chance, wenn ihr euch anstrengt. Das hat mir damals keiner mit auf den Weg gegeben.»
Karolina Zegar, Lehrerin und gebürtige Polin
Natürlich versuche man Motivationstiefs im Projekt aufzufangen, unterstützend zur Seite zu stehen. Aber die Regeln seien streng, sagt Programmleiter Stefan Marcec. Man erwarte absolute Pünktlichkeit. Und wer mehr als einmal unentschuldigt fehle, werde abgemahnt. Dass vereinzelt Schüler vorzeitig ausscheiden, weil sie zum Beispiel eine Lehr stelle gefunden haben, komme vor.
«Warum tust du dir diesen Stress an?», sei Valerie manchmal von ihren ehemaligen Mitschülern gefragt worden, die nach der Schule eine Ausbildung begonnen hatten. «Heute beneiden sie mich», sagt die Gymnasiastin. Eine KV-Ausbildung wäre für sie nichts gewesen. «Ich möchte unbedingt Lehrerin werden.» Hat sie als ehemalige Programmteilnehmerin einen Sonderstatus am Gymnasium? «Nein, ich falle nicht auf», sagt sie. Ihre Eltern haben einen ähnlichen Bildungshintergrund wie die anderen Eltern und können ihr beim Lernen helfen, sie bei ihrer Berufswahl beraten.
Damit ist sie die grosse Ausnahme. Viele Eltern von Programmteilnehmern können nicht einmal die Schulbücher zahlen, geschweige denn Unterstützung bei den Hausaufgaben bieten. Daher ist für Schülerinnen wie Mitra das Folgeprogramm ChagALL+ so wichtig. «Das erste halbe Jahr nach Übertritt an die Mittelschule haben die Schüler weiterhin jeden Samstagvormittag Unterricht», erklärt Stefan Marcec, um Unterrichtsstoff aufzuholen, Fragen stellen zu können. Und auch danach gebe es auf Wunsch Förderstunden. Kommen die meisten Programmteilnehmer zu ihm an die Schule? «Nein, viele streben einen Abschluss an der Berufs- beziehungsweise Fachmittelschule an», sagt der Gymnasiallehrer.

Mohamed hofft, einer von denen zu sein, die es schaffen. Nach einer Dreiviertelstunde ist der Deutschunterricht beendet. Er klappt sein Heft zu. Jetzt geht’s weiter mit Französisch, danach mit Mathematik. Am Abend, wenn seine vier jüngeren Geschwister schlafen oder fernsehen, wird er lernen. Mohamed hat ein grosses Ziel: ein Ingenieurstudium an der ETH Zürich. Er wäre der erste in seiner Familie.
Zur Autorin
«Das Elternhaus ist entscheidend»
Herr Moser, welche Chancen haben junge Migranten an Schweizer Schulen?
Es kommt demnach immer auf den Bildungshintergrund der Eltern an?
Sprechen wir von den Migranten, deren Eltern keinen höheren Bildungsabschluss und keine finanziellen Mittel haben.
Helfen da Programme wie das Migranten- förderprogramm ChagALL weiter?
ChagALL richtet sich an kognitiv sehr starke Jugendliche. Was muss auf einer breiteren Ebene passieren, um alle Migrantenkinder fördern zu können?
Demnach ist eine totale Chancengleichheit nie erreichbar?
- Grosses Monatsinterview mit Urs Moser zur Frage: Wie gerecht ist das Schweizer Bildungssystem?