«Unser Sohn Can war ein Frühchen. Heute merkt man ihm das eigentlich nicht an, aber vielleicht hat das doch Auswirkungen auf sein jetziges Verhalten? Er war immer einer der Jüngsten. Im zweiten Jahr erhielten wir vermehrt Anrufe der Kindergärtnerinnen, die uns über Cans auffälliges Verhalten informierten: er würde herumschreien und viel Blödsinn machen. Ich dachte: «Bestimmt langweilt ihn der Kindergarten. Es wird Zeit, dass er in die Schule kann.»
Im Übertrittsgespräch eröffnete uns die Kindergärtnerin, dass sie Can noch nicht in der Schule sehe und empfahl uns ein drittes Kindergartenjahr. Mein Mann und ich waren uns sicher: das kommt für uns nicht in Frage. Also setzten wir uns über die Empfehlung hinweg.
Das Schuljahr startete gut – vorerst. Jedoch brachte Can bald Strafaufgaben mit nach Hause. Er machte weiterhin viel Blödsinn und am Freitag schleppte er jeweils einen Berg Aufgaben mit, die er während der Woche nicht geschafft hatte.
Die Lehrperson erzählte uns, wie abwesend Can während des Unterrichts sei, er höre ihr zu 90 Prozent nicht zu und wisse daher auch nicht, was er zu tun hätte.
Uns Eltern kam das bekannt vor: die Hausaufgaben waren jedes Mal ein Kampf. Es dauerte ewig, bis er eine Aufgabe gelöst hatte, weil der Radiergummi im Etui viel spannender war, oder er entdeckte etwas an seiner Hand, auf dem Boden oder, was weiss ich?!
«Er ist halt ein Träumer – ruhig bleiben», dachte ich mir oft, aber das war echt schwer. Als die Lehrperson uns dann eine Schulpsychologische Abklärung empfahl, hatte ich schon etwas Angst: Was, wenn die uns sagen, dass Can einfach noch nicht reif für die Schule ist? Was, wenn er die erste Klasse wiederholen muss? Komme ich damit klar? Can meisterte die Abklärungen super! Er ging gern zu den Tests und meckerte nie. Beim Schlussgespräch wurde uns mitgeteilt, dass Can die Intelligenz für die Schule hat. Mir fiel ein riesiger Stein vom Herzen. Doch die Schulpsychologin vermutete AD(H)S und schickte uns zu einer weiteren Abklärung. Wir sind auf das Ergebnis sehr gespannt und darauf, welche Möglichkeiten wir anschliessend haben.
Der Fernunterricht während der Coronakrise hat mir aufgezeigt, wie anstrengend Can in der Schule sein muss. Zu Beginn wurde uns gesagt, dass ein Erstklässler pro Tag eine bis zwei Stunden zu tun haben wird. Bei uns dauerte es mindestens drei. Wir hatten andauernd Diskussionen mit Can, er stahl sich Pausen, hatte keine Ausdauer, träumte andauernd. Da war dieser unglaubliche Widerwillen gegen die Aufgaben, es gab Tränen, Wutausbrüche. Meine Nerven lagen blank!
An einem Tag lief es gut, am nächsten wieder katastrophal. Dann konnte Can teils nicht einmal mehr die einfachsten Rechenaufgaben lösen, wie 2 + 3. Blackout. Konzentration gleich null.
Wir Eltern wissen, dass Can es eigentlich könnte, aber er hat einfach Mühe mit seiner Konzentration.
Ich bin so froh, dass er in der Schule intensiv von der integrativen Förderung unterstützt wird und er nicht alleine gelassen wird.
Ich denke, Can merkt auch selbst, dass er «anders» ist. Des Öfteren sagt er, er sei eh immer schuld, er sei ein dummes Kind, alle würden ihn immer ärgern und sagen, er sei ein Träumer.
Auch wenn dieses schulische Verhalten sehr anstrengend ist, hat Can viele positive Eigenschaften: er ist super sozial, unheimlich ehrlich und sagt direkt, wenn er was verbockt hat. Er geht toll mit jüngeren Kindern um und kann sich beim Spielen stundenlang alleine mit seinen Autos, Actionfiguren oder Legos beschäftigen. Dann ist er in seiner eigenen Traum-Welt.
Schnelle Spiele frustrieren ihn. Lieber bastelt er in Ruhe etwas, was er zuvor auf Youtube gesehen hat. Er liebt es auch, sich zu verkleiden und schminken zu lassen, dann kann er sich ewig im Spiegel betrachten.
Wegen seiner Zukunft mache ich mir nicht allzu grosse Gedanken. Er hat seine Stärken, er ist kreativ, aus ihm wird etwas, da bin ich mir sicher!»