Typisch Bube, typisch Mädchen? 7 Mythen auf dem Prüfstand
Bilder: Salvatore Vinci / 13 Photo
Was ist dran an den vermeintlichen Unterschieden zwischen Mädchen und Jungen? Und worauf lassen sich diese zurückführen? Wir stellen sieben Geschlechter-Klischees auf den Prüfstand.
Heute haben beide die gleichen Hobbys: Sie spielen Fussball und tanzen Hip-Hop. Vater Andy ist selbständig im Finanzwesen tätig, Mutter Brigitte arbeitet in der PR-Branche. Sie haben sich sowohl das Geldverdienen als auch Haushalt und Kinderbetreuung von Anfang an geteilt.
Immer öfter entscheiden sich Paare für das egalitäre Familienmodell und leben ihren Kindern ein gleichberechtigtes Verhältnis zwischen Mann und Frau vor.Trotzdem herrschen in unserer Gesellschaft nach wie vor klare Vorstellungen darüber, was «typisch Bub» und «typisch Mädchen» ist.
* Die Namen aller Familienmitglieder wurden von der Redaktion geändert.
Kinder kommen von Anfang an mit Geschlechterstereotypen in Berührung
«Wir haben keine Chance, herauszufinden, welche Unterschiede im Hirn für komplexe menschliche Verhaltensweisen verantwortlich sind», sagt die kanadisch-britische Psychologin, Genderforscherin und Wissenschaftsautorin Cordelia Fine.
Wir stellen sieben Mythen auf den Prüfstand: Zu welchen Erkenntnissen kamen Studien und Umfragen? Was sagen Forscherinnen und Forscher? Ausserdem haben wir erfahrene Pädagoginnen und Pädagogen um ihre Einschätzung gebeten – und bei Familie Zimmermann nachgefragt,wie das bei ihnen aussieht mit den Geschlechterunterschieden.
Mythos 1: Buben sind das starke Geschlecht
Das ist auch auf dem Fussballplatz zu beobachten. So rennt Lars zwar schneller als Lena, dafür hat die 14-Jährige den härteren Schuss. Noch. Mit der Pubertät öffnet sich die Schere: «Hinsichtlich der Schnelligkeit, Kraft und Ausdauer haben erwachsene Männer im Schnitt deutliche Vorteile gegenüber Frauen », sagt Achim Conzelmann.
Wie aber sieht es bei der mentalen Stärke aus? «Grundsätzlich gibt es da keinen Unterschied. Mädchen und Buben können gleichermassen Ehrgeiz entwickeln und sich fokussieren», sagt Melanie Planzer-Mörth, Präsidentin des Schweizer Mentalcoaching-Verbands. «Aber Glaubenssätze, welchen die Kinder schon sehr früh begegnen, haben einen grossen Einfluss. Zum Beispiel, dass Mädchen fein und Jungen hart sein sollen.»
Wir ermuntern Jungen, sich zu bewegen – und wundern uns dann, wenn sie in der Schule nicht stillsitzen können.
Kinderärztin Madeleine Gartenmann Benz sagt: «Hormonbedingt ist das weibliche Immunsystem stärker als das männliche. Bei Jungen kommt es bei der Geburt häufiger zu Komplikationen und die Säuglingssterblichkeit ist höher.» Das schnell reagierende Immunsystem der Mädchen sei aber nicht nur zu deren Vorteil. So neigten sie schon im Kindesalter zu mehr Autoimmunerkrankungen.
In der Adoleszenz zeige sich dann die sozial bedingte geschlechtsspezifische Komponente stärker. Essstörungen seien bei Mädchen beispielsweise immer noch deutlich häufiger als bei Buben: «Das liegt am gesellschaftlichen Anspruch, als Mädchen schön und schlank sein zu müssen.»
FAZIT: Dass Buben das starke Geschlecht sind, stimmt nur bedingt. Fakt ist: Buben haben mehr Muskelmasse, Mädchen ein stärkeres Immunsystem.
Mythos 2: Mädchen sind sozialer, emotionaler und fürsorglicher
Auch Brigitte Zimmermann erlebt ihren Sohn nicht als emotionslos. Im Gegenteil: «Ich kenne kaum ein emotionaleres Kind als Lars. Schaut man ihn schräg an, kommen ihm die Tränen. Auf der anderen Seite kann er sich über Kleinigkeiten richtig freuen.»
Fritz Schellenbaum, pensionierter Seklehrer und Präsident der Sektion Sekundarschule des Zürcher Lehrerverbands, hat beobachtet, dass Buben ihre Gefühle einfach anders ausleben als Mädchen: «Wenn sie miteinander rangeln, ist das auch ein Ausdruck von Emotionen.»
Während diese Unterschiede gesellschaftsbedingt sind, sieht Moritz Daum einen biologischen Einfluss im Bereich des Spielens. «Es gibt Studien mit Schimpansen, bei denen man Affenjungen und -mädchen beobachtete, wie sie mit Stöcken spielen. Die Jungen benutzten sie eher als Waffe, die Mädchen wiegten sie im Arm.» Daum glaubt, dass sich bestimmte «geschlechtstypische» Eigenschaften wie Fürsorge aus angeborenen unterschiedlichen Interessen entwickeln würden: «Buben spielen im Allgemeinen wilder. »
Hinzu komme, dass bei Mädchen fürsorgliche Rollenspiele mehr gefördert werden. «Ein Junge lernt, dass der Papa eher mit ihm fechtet, anstatt mit Puppen zu spielen.»
Ist das weibliche also das sozialere Geschlecht?
Dieser Unterschied zeigt sich auch bei Zimmermanns: Lena hatte bereits als kleines Mädchen jede Menge Freundinnen und Freunde, während Lars bis ins Kindergartenalter lieber alleine spielte.
Barbara Schwarz, seit 20 Jahren Kindergartenlehrperson im Zürcher Oberland, macht auch andere Beobachtungen: «Ich stelle sehr wohl fest, dass Jungen eher Konstruktionsspiele machen und Mädchen gemeinsame Rollenspiele lieben. Aber wenn man die Buben zu etwas anderem anhält, gefällt ihnen auch das.»
FAZIT: Mädchen verhalten sich im Durchschnitt tatsächlich emotionaler und fürsorglicher. Woher dies kommt, ist umstritten. Sicher ist: Buben haben nicht weniger Gefühle, aber sie lernen, diese stärker zu unterdrücken und anders auszuleben als Mädchen.
Mythos 3: Mädchen sind sprachlich, Buben mathematisch begabt
Entwicklungspsychologe Moritz Daum sieht die Ursache für dieses Ungleichgewicht in einem Zusammenspiel aus Interessen und Erfahrung: «Mädchen interessieren sich oft mehr für Buchstaben als für Zahlen.» Dies hänge auch mit der falschen, aber immer noch weit verbreiteten Annahme zusammen, dass Mathematik eher etwas für Männer sei. Dies könne dazu führen, dass Mädchen denken, sie seien schlechter darin, obwohl dem gar nicht so ist.
Diese Annahme bestätigt eine aktuelle Studie des Deutschen Institutes für Wirtschaftsforschung, die herausfand, dass sich Mädchen ab der 5. Klasse schlechter in Mathe einschätzen, als sie tatsächlich sind. Lena Zimmermann sagt, sie habe bis zur 5. Klasse kein Problem mit Mathe gehabt, danach hätten ihre Leistungen nachgelassen. Warum, konnten weder sie selbst noch ihre Eltern sagen.
Ob sich ein Kind für Bücher interessiere oder nicht, habe aber letztlich mehr mit dem Leseverhalten der Eltern zu tun als mit dem Geschlecht.
Ob sich ein Kind für Bücher interessiere oder nicht, habe aber letztlich mehr mit dem Leseverhalten der Eltern zu tun als mit dem Geschlecht. Papa und Mama sind gute Vorbilder in Sachen Lesen – dennoch zeigen sich bei ihren Kindern deutliche Unterschiede: Brigitte bezeichnet sich als Leseratte, Andy liest jeden Tag mindestens eine Stunde Zeitung. Während ihre Tochter Lena alle «Harry Potter»-Romane mehrfach in Deutsch und in Englisch gelesen hat, würde ihr Sohn Lars niemals freiwillig ein Buch in die Hand nehmen. Und schlimmer als den Deutschunterricht findet er nur Französisch.
Fazit: Dass Buben mathematisch und Mädchen sprachlich begabter sind, stimmt nicht. Dass Mädchen hierzulande Sprachen und Buben Mathe bevorzugen, hat kulturelle Gründe.
Mythos 4: Mädchen sind in der Pubertät schwieriger
11 und 13 Jahren in die Pubertät kommen, ist das bei Jungen erst zwischen 13 und 15 der Fall.
Warum das so ist, ist unklar. Fachleute vermuten den Eiweissstoff Leptin als Verursacher, der massgeblich an der Einleitung der Pubertät beteiligt sein soll. Da er sich in den Fettzellen befindet und Mädchen mehr davon haben, setzten bei ihnen die körperlichen Veränderungen früher ein, so die Erklärung. Entwicklungspsychologe Moritz Daum vermutet, dass der frühere Beginn der Pubertät ein Grund dafür ist, warum Mädchen in dieser Phase als «schwieriger» gelten: «Im Alter, in dem Buben pubertieren, ist die Selbstkontrolle bereits etwas weiterentwickelt und sie können deshalb möglicherweise besser mit den körperlichen Veränderungen umgehen, als Mädchen das mit 11, 12 Jahren können.»
Madeleine Gartenmann Benz sieht den Grund in den Hormonen. «Mädchen sind in der Pubertät mit einem unglaublichen Cocktail an miteinander kollidierenden Hormonen konfrontiert, dazu ist der Verlauf zyklisch. Bei Jungen ist der Hormonverlauf kontinuierlich, ohne Peaks und Tiefen, das ist weniger drastisch.» Die Kinderärztin betont aber, dass Charakter und Persönlichkeit sowie das soziale Umfeld prägender für das Verhalten seien als das Geschlecht.
Ingrid Pizzini, soziokulturelle Animatorin und Stellenleiterin der offenen Jugendarbeit Zürich, sagt, sie beobachte bei den Jugendlichen kein geschlechterabhängiges Verhalten: «Die Themen, die sie beschäftigen, sind grösstenteils die gleichen. Die schrittweise Ablösung von den Eltern ist eine zentrale Entwicklungsaufgabe, die bei Buben und Mädchen zu Diskussionen führen kann. Wie die Jugendlichen darauf reagieren, erlebe ich in meiner Arbeit als sehr unterschiedlich, unabhängig vom Geschlecht.»
FAZIT: Mädchen kommen rund zwei Jahre früher in die Pubertät. Dass sie bei ihnen heftiger verläuft, stimmt nur bedingt. Die Pubertät ist ein Prozess, der individuell sehr verschieden abläuft – das Geschlecht spielt dabei eine untergeordnete Rolle.
Mythos 5: Buben sind langsamer in der Entwicklung als Mädchen
Lena war mit gut zwei Jahren trocken, Lars erst kurz vor Kindergarteneintritt. Die Kindergärtnerin Barbara Schwarz stellt in ihrem Berufsalltag ebenfalls fest, «dass Mädchen sich im Verlaufe der Schulzeit schneller entwickeln». Auch würden eher Knaben beim Kindergarteneintritt ein Jahr zurückgestellt oder ein drittes Jahr in den Kindergarten geschickt.
Der pensionierte Lehrer Fritz Schellenbaum betont, dass die Entwicklungsdifferenz bei Mädchen und Buben im Sekundarstufenalter bis zu zwei Jahre betragen kann. Das bestätigt eine Studie des deutschen Bundesamts für Familie. Jungen würden im Schnitt die Schule von Beginn an entwicklungsbedingt mit schlechteren Voraussetzungen beginnen, heisst es da. Dies setze sich im Laufe der Schulkarriere fort: Während 11 Prozent aller Mädchen eine Klasse wiederholen, sind es bei den Buben 21 Prozent.
FAZIT: Dass sich Buben langsamer entwickeln, stimmt. Allerdings gilt es zu bedenken, dass es sich auch hier um Durchschnittswerte handelt und es individuell grosse Unterschiede gibt.
Mythos 6: Mädchen sind fleissiger als Buben
Mädchen sitzen länger an den Hausaufgaben als Jungen. Sind sie deshalb fleissiger?
Sind Mädchen also fleissiger als Buben? Moritz Daum stellt die Gegenfrage: «Was heisst schon fleissig? Ist ein Bub, der stundenlang auf dem Fussballfeld herumrennt, nicht auch fleissig?»
Oder einer wie Lars, der vor einigen Jahren tagelang verbissen mit dem Snowboard den Hügel runterrutschte und wieder hochlief, bis er sich auf dem Brett halten konnte? Sportwissenschaftler Achim Conzelmann hält fest: «Beim sportlichen Training lässt sich nicht per se sagen, dass ein Geschlecht fleissiger ist als das andere.»
Fazit: Mädchen sitzen im Durchschnitt länger an den Hausaufgaben als Buben. Ob sie deswegen fleissiger sind, ist Definitionssache: In anderen Bereichen, etwa sportlichen Aktivitäten, zeigen Jungen ein mindestens ebenso grosses Engagement wie Mädchen.
Mythos 7: Buben sind mutiger und trauen sich mehr zu
So auch bei Zimmermanns: Lena ist eine «Rampensau», die weder den Auftritt im Sologesang scheut noch den Zweikampf auf dem Fussballplatz. «Den Satz ‹Das kann ich nicht› höre ich von Lars wesentlich häufiger als von Lena», sagt die Mutter der beiden.
In der Pubertät hingegen scheint eine Verschiebung stattzufinden: Verschiedene Studien belegen, dass männliche Teenager dazu neigen, mehr Risiken einzugehen, und zum Beispiel wesentlich öfter in Unfälle verwickelt sind als weibliche. Der ehemalige Seklehrer Fritz Schellenbaum stellt fest, dass sich die Buben mit Einsetzen der Pubertät häufiger überschätzen: «Sie nehmen Rückschläge leichter in Kauf als Mädchen. Dies führt vor Prüfungen oft dazu, dass Mädchen nervös werden, obwohl sie gut gelernt haben, während Buben vor allem auf ihr Glück vertrauen.»
Fazit: Bei Kindern gibt es bezüglich Mut und Risikobereitschaft kaum Geschlechtsunterschiede. Dies ändert sich in der Pubertät – offen bleibt, welche Rolle dabei hormonelle Vorgänge spielen und welchen Einfluss gesellschaftlich geprägte Bilder von Männlichkeit haben.
Zur Autorin:
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