«Die Genetik ist bei Mädchen und Jungen beinahe gleich!» - Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
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«Die Genetik ist bei Mädchen und Jungen beinahe gleich!»

Lesedauer: 4 Minuten

Genderforscherin Christa Binswanger sagt, dass die genetischen Unterschiede zwischen den Geschlechtern minimal sind. Und sie erklärt, warum schwedische Mädchen im Schnitt bessere Mathematik-Noten haben als Schweizer Mädchen. 

Frau Binswanger, wir haben für dieses Dossier mit Mädchen und Buben im Alter von 7 bis 17 Jahren gesprochen. Alle haben eine sehr klare Vorstellung davon, wie die jeweiligen Geschlechter sind. Warum ist das so?

Für Kinder ist es sehr wichtig, eine Geschlechtsidentität auszubilden, weil unsere Gesellschaft diesbezüglich sehr traditionell geblieben ist und das so verlangt. Um zu wissen, wer sie sind, fragen sie sich schon früh: «Was für eine Art Bub oder Mädchen bin ich?» Diese Frage steht zum Beispiel in skandinavischen Ländern, in denen schon länger egalitäre Strukturen aufgebaut werden als bei uns, nicht mehr im Vordergrund. Bei uns lernen schon ganz kleine Kinder, was es heisst, Mädchen oder Bub zu sein. Ich kenne zum Beispiel Jungen, die mit Barbies spielen, dies aber in einem Gespräch nie zugeben würden.

Die neunjährige Riana hat kein Problem damit zuzugeben, dass sie gern mit den Buben Fussball spielt.

Tätigkeiten, die als typisch männlich gelten, haben bei uns einen höheren Stellenwert. Ein Bub, der seine weiblichen Seiten zeigt, wertet sich ab. Ein Mädchen, das seine männlichen Seiten zeigt, ist cool.
Zur Person:  Dr. Christa Binswanger ist ständige Dozentin für Gender und Diversity an der Universität St. Gallen. Sie beschäftigt sich unter anderem mit kultur­wissenschaftlicher Geschlechterforschung.
Zur Person:
Dr. Christa Binswanger ist ständige Dozentin für Gender und Diversity an der Universität St. Gallen. Sie beschäftigt sich unter anderem mit kultur­wissenschaftlicher Geschlechterforschung.

Viele Eltern sagen, sie hätten sich bemüht, die Kinder nicht nach Stereotypen zu erziehen. Trotzdem blieben die Buben bereits als Kleinkinder vor jedem Bagger stehen und die Mädchen liebten die Farbe Rosa. Weshalb?

Vieles in der Erziehung geschieht unbewusst. Es gibt Studien, die zeigen, dass Eltern 14 Monate alten Buben Bälle aus einer weiteren Distanz zuwerfen als gleichaltrigen Mädchen. Viele gehen vom ersten Tag an mit Buben und Mädchen anders um, ohne sich dessen bewusst zu sein.

Und in den skandinavischen Ländern werfen Eltern ihren Kindern die Bälle aus gleicher Distanz zu?

Dazu kenne ich keine Studien. Aber wenn im Alltag mehr Egalität stattfindet, ist das auch im Umgang mit den Kindern so.

Und Mädchen sind dann besser in Mathe?

Das sind sie in den skandinavischen Ländern tatsächlich. Die Mathe-Leistungen der Mädchen sinken bei uns erst, wenn sie anfangen, sich intensiv mit ihrer Geschlechtsidentität auseinanderzusetzen. Diese ist dann wichtiger als ihre tatsächlichen Fähigkeiten. Sie wollen in erster Linie «typisch weiblich» wirken – während Mathe als «typisch männlich» gilt.

Und der achtjährige Matti sagt, er könne «besser mit Zahlen als mit Buchstaben», weil Lesen vermeintlich unmännlich ist?

Selbstverständlich ist es möglich, dass Matti grundsätzlich mathematisch begabter ist als sprachlich. Aber es ist auch sehr gut möglich, dass er sich in Mathe mehr Mühe gibt, weil er das unbewusst als männlicher empfindet. 

Dass Mädchen sprachlich und Buben mathematisch begabter sind, ist also nicht wahr?

Nein. Und es ist schon gar nicht biologisch begründet. Der Teil, der genetisch erklärt werden kann, wenn es um Unterschiede zwischen den Geschlechtern geht, ist im Übrigen sowieso sehr klein.

Woran machen Sie das fest?

Ich beschäftige mich intensiv mit Biologie und mit Hirnforschung. In beiden Feldern zeigen Studien, dass die Variabilität riesig ist. Es gibt rein genetisch und hormonell unendlich viele unterschiedliche Mischungen. Die Reduktion auf ausschliesslich männlich oder weiblich ist eine krasse Vereinfachung.

Gilt das auch fürs Gehirn?

Ja, und wie! Ein kleineres, zwischen den beiden Hirnhälften besser vernetztes Hirn gilt als typisch weiblich, ein grösseres als männlich. Diese «Erkenntnis» stammt aber lediglich aus Durchschnittswerten. Es ist wie mit der Grösse: Durchschnittlich sind Männer grösser als Frauen. Gleichzeitig gibt es aber grosse Frauen und kleine Männer. Das gilt auch fürs Gehirn: Man kann nicht aufgrund der Geschlechtsmerkmale auf das Hirn schliessen. Hält man an diesen Kategorien fest, so gibt es viele Männer mit «weiblichem» Gehirn und umgekehrt.

Welche Unterschiede sind denn nun tatsächlich biologisch?

Die Reproduktionsfähigkeit: Für den Zeugungsakt braucht es den männlichen Samen, und schwanger wird die Frau, was für Männer – zumin­dest vorläufig – nicht möglich ist. Die Frage ist, welchen Wert wir dieser Tatsache beimessen.

Tatsache ist auch, dass Mädchen zwei X-Chromosome und Jungen je ein X- und ein Y-Chromosom haben. 

Nicht einmal das ist bei allen Men­schen so. Der Embryo­-Phänotyp ist erst einmal weiblich. Wenn ein Kind mit XY­-Chromosomen das Testoste­ron für die Ausbildung der männ­lichen Geschlechtsmerkmale nicht aufnehmen kann, bilden sich weib­liche Geschlechtsmerkmale aus und es wird bei der Geburt als Mädchen zugeordnet. Die Medizin spricht hier von einer XY­-Frau. Man sieht einem Kind seinen Chromosomensatz also nicht immer an. Solche Beispiele zei­gen, dass nicht einmal vermeintlich scheinbar Offensichtliches in Stein gemeisselt ist.

Was ist mit den Hormonen?

Sowohl das «männliche» Testosteron als auch das «weibliche» Östrogen existieren in beiden Körpern. Auch hier geht man in der Regel von Durchschnittswerten aus, es gibt
aber bei Adoleszenten und Erwach­senen sehr viele Zwischenstufen. Zu sagen, Jungen seien «testosteronge­trieben», ist meines Erachtens mindestens so stark kulturell wie hormo­nell bedingt.

Untersuchungen zeigen aber, dass einige männliche Tiere wilder spielen als weibliche. Kann man da nicht von etwas Angeborenem sprechen? 

Ich finde es sehr problematisch, vom Tier auf den Menschen zu schliessen. 

Könnte es nicht sein, dass Buben von Natur aus wilder sind als Mädchen? 

Ich glaube nicht, dass Mädchen fried­fertiger als Buben sind, sie haben andere Strategien gelernt, um mit Aggressionen umzugehen. Ein Mäd­chen, das dreinschlägt, wird von der Gesellschaft nicht akzeptiert, ein Jun­ge bis zu einem gewissen Grad schon. 

Was kann man als Eltern tun, um diese Stereotype bei den eigenen Kindern zu durchbrechen?

Ein erster Schritt wäre, sich der eige­nen Vorurteile und Verhaltensweisen bewusst zu werden. Und sich zu hin­terfragen, ob sie für das eigene Kind zutreffen oder dieses eher einengen. Man kann Kinder auch immer wie­ der ermutigen, zu den eigenen Fähig­keiten jenseits von Geschlechterstereotypen zu stehen.

Man soll dem Zweijährigen, der sich ein Spidermankostüm wünscht, ein Prinzessinnenröckli schenken?

Natürlich nicht. Aber man soll ihn das Prinzessinnenröckli ohne grosses Tamtam tragen lassen, wenn ihm das gefällt.

In einer idealen Welt sind Buben und Mädchen …

… möglichst chancengleich. Ich wün­sche mir, dass sich ein Bewusstsein dafür entwickelt, dass viele darunter leiden, dass die gesamte Menschheit in zwei Boxen eingeteilt wird. Meine Vision wäre, dass Kinder aufgrund ihrer Individualität gefördert werden, unabhängig vom Geschlecht.

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