Es gab Streit – und dann, einen Tag später, knallte Nicola seiner Mutter an den Kopf: «Übrigens – ich bin schwul.» Franziska schossen die Tränen in die Augen. Nicht etwa, weil sie dagegen war, wie sie sagt, sondern, weil sie realisierte, dass ihrem Sohn nun ein steiniger Weg bevorsteht. «Diesen hätte ich ihm gerne erspart.»
Diese Webseite nutzt Cookies. Cookies werden zur Benutzerführung und Webanalyse verwendet und helfen dabei, diese Webseite zu verbessern. Durch die weitere Nutzung dieser Webseite erklären Sie sich mit unserer Cookie-Police einverstanden. Mehr Infos hier.
Mami, ich bin schwul

Bilder: Gabi Vogt / 13 Photo

Gratis registrieren und profitieren:
- Begrüssungsgeschenk
- Zugriff auf alle Artikel
- Artikel speichern & später lesen
- Teilnahme an Verlosungen

In der Pubertät ist das Leben eine Baustelle: Der Körper verändert sich, die Gefühle fahren Achterbahn, alles wird infrage gestellt. Die Kinder sind keine Kinder mehr, aber noch keine Erwachsene. «Wer bin ich?», «Wer möchte ich sein?» oder «Wo gehöre ich hin?»: Das sind existenzielle Fragen, mit denen sich alle Teenager herumschlagen.
Für Homosexuelle ist die Identitätssuche besonders schwierig
Eltern müssen sich zu Verbündeten ihres Kindes machen
Dass Buben mit Mädchen Fangis spielen, widerspricht den herrschenden Wertvorstellungen, die sich überall manifestieren: auf Plakatwerbungen vor unseren Haustüren, in der Kinderkleiderabteilung eines Warenhauses, im Fernsehen und in Büchern.
Mütter und Väter müssten sich zu Verbündeten ihrer Kinder, zu sogenannten Allys, machen, betont Kathrin Meng. Nicola hat Glück, denn seine Eltern sind vorbildliche Allys. «Bereits bevor meine Mutter wusste, dass ich schwul bin, hat sie immer darauf geachtet, wie sie Dinge formuliert », erinnert sich der 20-Jährige, der im Sommer sein drittes Lehrjahr als technischer Zeichner abschliessen wird.
Dass das nicht selbstverständlich ist, weiss Nicola nur allzu genau. Aus seinem Bekanntenkreis sind ihm zahlreiche negative Beispiele bekannt. Selbst Jahre nach dem Coming-out eines Freundes spreche dessen Vater nach wie vor davon, dass sein Sohn eine Freundin habe. Die Homosexualität blende er komplett aus, erzählt Nicola.
Schwulenwitze auf dem Pausenplatz
Heute kann Nicola die Bedenken seiner Schwester gut nachvollziehen. Denn auch für ihn war das Comingout an der Schule die schwierigste Hürde: «Es vergeht kein Tag, an dem du auf dem Pausenplatz nicht mit Schwulenwitzen konfrontiert wirst oder blöde Kommentare zu hören bekommst». Ausdrücke wie «Mann, das ist so schwul!» oder «Du schwule Sau!» seien an der Tagesordnung. Am Ende seiner Schulzeit wurden diese Sprüche für Nicola unerträglich.

Diese Ansicht teilt auch Jen Wang. In seinem Berufsalltag hat der Sozial- und Präventivmediziner immer wieder mit homosexuellen Jugendlichen zu tun, die an der Schule diskriminiert werden und sogar Gewalt ausgesetzt sind.
Noch mehr als die Angst vor Diskriminierung plagte Nicola die Einsamkeit. «Ich trug ein Geheimnis mit mir herum, das ich niemandem anvertrauen konnte und für das ich erst nach und nach einen Namen fand.»
Zwar traf Nicola in Chats auf Gleichgesinnte, mit denen er sich austauschen konnte und von denen er sich verstanden fühlte, im realen Leben hingegen gab es für den damals 15-Jährigen keine Berührungspunkte zur homosexuellen Lebenswelt.
Weder war ihm jemand in seinem Umfeld bekannt, der schwul oder lesbisch sein könnte, noch hatten seine Eltern homosexuelle Freunde, die ihm als Identifikationsfiguren hätten dienen können. Die Welt um ihn herum schien durch und durch heterosexuell zu sein. Eine Welt, die für ihn nicht passte.
Hohe Suizidgefährdung bei Homosexuellen
Erfahrungen, die homosexuelle Jugendliche meist nicht machen – zu gross ist die Angst vor Ressentiments, vor Ablehnung oder Spott. So bleiben diese Teenager weitgehend allein mit ihrem Geheimnis und führen ein Doppelleben in der virtuellen Welt. Befürchten homosexuelle Jugendliche eine negative Reaktion der Eltern, können die Folgen fatal sein.
Angst vor Angriffen
Und: Die Suizidgefahr liegt bei Homosexuellen im Alter zwischen 16 und 20 Jahren zwei- bis fünfmal höher als bei ihren heterosexuellen Altersgenossen. «Es ist schlicht nicht verantwortbar, dass junge Schwule und Lesben in unserem Land einem derart starken psychischen Leidensdruck ausgesetzt sind», so Wang.

Glossar
Infos und Adressen
www.mycheckpoint.ch
Zur Autorin:

Mehr zum Thema Homosexualität und Coming-out:
- Woran erkennen Eltern, ob ihr Kind homosexuell ist? Der Basler Psychiater Udo Rauchfleisch erklärt, warum es Mädchen einfacher fällt, sich zu outen, wie Eltern ihr Kind beim Coming-out unterstützen können und warum «schwul» bis heute als Schimpfwort gilt.