Nein sagen – aber richtig!

Illustration: Petra Dufkova/Die Illustratoren
Es gibt heute kaum noch allgemeingültige Werte, von denen Eltern ein Nein ableiten können. Sie müssen daher ihre innere Orientierung finden und authentisch sein.
Die Generation meiner Eltern hat zu allen Gesten, die Eigeninitiative zeigten, automatisch Nein gesagt – ihr Nein klang immer aggressiv, und diese Aggression verriet, wie schwierig es eigentlich für sie war, Nein zu sagen. Erschwerend kam für sie hinzu, dass sie immer plausible Gründe in der Aussenwelt suchten: «Nein, niemand macht das!»
Die Generation meiner
Eltern hat zu jeder Geste von
Eigeninitiative Nein gesagt.
Unter heutigen Eltern gibt es
fast nur noch Jasager.
Der eine ist eindeutig: Es ist eine ganz normale Reaktion, genau das Gegenteil von dem zu tun, was die eigenen Eltern praktiziert haben. Der andere Grund ist der, dass die Gründe für die vielen Neins verschwunden sind – zum Beispiel haben heutige Eltern immer Geld für eine Tafel Schokolade. Das war früher wirklich anders. Und was früher auch anders war, ist die Tatsache, dass es unter den Eltern einen Konsens gab. Sie sagten: «Nein, du darfst das in deinem Alter nicht tun!», und wussten, dass das auch die anderen Eltern so handhabten.
Die eigenen Werte reflektieren, die eigene Meinung vertreten
Das ist eine grosse Herausforderung, denn sie müssen das Nein in sich selbst finden: Sie müssen über ihre eigenen Werte reflektieren, sodass, wenn das Kind kommt und sagt: «Ich möchte meinen Geburtstag mit meinen Freunden bei McDonald’s feiern!», sie dazu ihre eigene Meinung vertreten und nicht eine entliehene.
Du kannst dann als Vater sagen: «Nein, ich bringe dich und deine Freunde nicht an einen Ort, wo ihr solchen Frass zu essen bekommt.» Oder du sagst: «Okay, das machen wir!» Viele Kinder wollen bei McDonald’s essen, weil auch ihre Freunde das tun. Dann wird es für viele Eltern schwierig, weil sie ja nicht wollen, dass ihr Kind zum Aussenseiter wird. Also erlauben sie es widerwillig, weil ihnen die innere Orientierung fehlt. Denn das Nein, von dem wir sprechen, kannst du nur in dir selbst finden! Du musst dich also entscheiden und die Frage klar beantworten können: Was will ich? – Will ich, dass mein Kind jeden Tag Coca-Cola trinkt? Nein!
Es ist schwer, einen Konsens zu finden
Dänische Eltern meinen zum Beispiel, Kinder dürften nicht allzu gewürzte Speisen essen. Aber wenn sich das Kind in einer vietnamesischen Familie befindet, dann stellt es fest, dass die Kinder dort jeden Tag gewürztes Essen zu sich nehmen. In den skandinavischen Ländern sagt man, das Frühstück sei die wichtigste Mahlzeit, in Italien gibt es gar kein richtiges Frühstück. Was wir an diesen banalen Beispielen ablesen können, ist, dass es keine allgemeingültige Wahrheit gibt – jeder muss sie für sich selbst entdecken und sie dem anderen mitteilen.
Eltern müssen nicht immer sofort Bescheid wissen
Sobald du Argumente von aussen importierst, gibst du unpersönliche, kalte Antworten.
Das ist für deine Tochter eine klare Auskunft! Was ich damit sagen will, ist, dass du als Mutter nicht immer eine Antwort parat haben musst, aber du musst deinem Kind klar mitteilen, wie du zu dir selbst stehst. Solange du dies tust, ist eure Beziehung eine warme, weil sie persönlich ist. In dem Augenblick, da du Argumente von aussen importierst, Argumente allgemeiner Natur, gibst du unpersönliche, kalte Antworten. Dies ist also die grosse Aufgabe: uns selbst zu definieren – das heisst, Ja zu sagen, wenn wir Ja meinen, und umgekehrt.
Authentische Beziehungen aufbauen
Wenn du aber nicht aufrichtig bist, dann wirst du Christinas Mutter nicht direkt sagen, was du denkst, sie dir auch nicht, und dann fängt dieses komische Versteckspiel an. Du gehst dann zu deiner Tochter und sagst ihr ganz unpersönlich: «Es ist besser, du bleibst hier!» Aber Kinder wollen immer wissen: «Weshalb? Was hat sie gesagt? Hat sie gesagt, dass ich nicht kommen darf?» – «Nein nicht ganz, aber …», du gerätst ins Schleudern.
Und dann sagt deine Tochter auch prompt: «Also kann ich gehen!» – So direkt äussern sich Kinder, und deshalb bist du gut beraten, wenn du genauso klar und deutlich bist in deinen Aussagen. Wenn du ihr dagegen wahrheitsgemäss sagst, warum es nicht geht, wird deine Tochter damit nicht besonders zufrieden sein, aber sie wird es andererseits auch schätzen und sich vielleicht sogar freuen, dass du Zeit mit ihr verbringen willst.
Es wird von Eltern immererwartet, dass sie alles sofortwissen. Dabei ist es wunderbar,wenn sie sich mal etwas nochüberlegen müssen.
Das ist ein wichtiger Einwand. Es wird von Eltern immer erwartet, dass sie alles sofort wissen. Und dabei ist es wunderbar, wenn sie vielleicht mal etwas nicht sofort wissen und es sich noch durch den Kopf gehen lassen müssen. Vielmehr – diese ihre Haltung wird der Tochter als gutes Beispiel dienen, wenn sie zum Beispiel in die Pubertät kommt und von ihren Freunden Druck erfährt.
Dann wird sie ihnen nämlich auch sagen können: «Ich möchte dir eine Antwort geben, aber ich möchte mich versichern, ob es auch eine gute Antwort ist, also muss ich mir die Antwort noch überlegen. » Und diese Antwort zeugt nicht von Schwäche, sondern im Gegenteil von hoher Qualität und Beziehungsfähigkeit!
Wir alle machen enorm viele Fehler – was ist daran verkehrt?
Wenn die Eltern versuchen, sich zu perfekten Maschinen zu machen, immer einer Meinung zu sein, immer konsequent zu sein, dann präsentieren sie ihren Kindern ein falsches Bild von der Wirklichkeit. Wir alle machen enorm viele Fehler, und was sollte daran verkehrt sein? Oder auch: Was soll daran verkehrt sein, Kinder spüren zu lassen, dass wir nicht einer Meinung sind oder unterschiedliche Bedürfnisse haben? Ich bin dagegen, dass mein Kind Klavier spielt, wenn ich lese. Meine Frau hingegen findet das wunderbar. Also, was sollte dabei sein, wenn ich es meinem Sohn verbiete und meine Frau es erlaubt? Mein Sohn weiss es dann von klein auf, Menschen sind verschieden, er muss das nicht erst mit dreissig Jahren lernen.
Jesper Juul
Der dänische Familientherapeut Jesper Juul hat wie kein anderer in den vergangenen Jahrzehnten Menschen mit seinen Erziehungs- und Beziehungsprinzipien geprägt. Der Gründer des Beratungsnetzwerks familylab und Autor von über 40 Büchern («Dein kompetentes Kind», «Aus Erziehung wird Beziehung») war zweimal verheiratet. Er hinterlässt einen Sohn aus erster Ehe und zwei Enkelkinder.
Jesper Juul starb am 25. Juli 2019 im Alter von 71 Jahren nach langer Krankheit in Odder, Dänemark.
Die Kolumnen von Jesper Juul entstehen in Zusammenarbeit mit familylab.ch
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