Introvertierte Kinder: Die Stärke der Stillen
Bild: Raymond Forbes / Stocksy
Es gibt sie, die leisen Kinder. Sie sind in der Schule eher ruhig und schüchtern und brauchen viel Zeit für sich. Eltern sorgen sich oft um diese Kinder und halten sie für «anders», für «seltsam» oder «nicht richtig». Dabei ist Zurückhaltung kein Defizit, sondern eine wertvolle Ressource, die gezielt eingesetzt werden kann.
Die lauten, gesprächigen
Buben und Mädchen fallen mehr auf und bekommen
viel Aufmerksamkeit.
Die Übersehenen ins Licht rücken
Das Konzept von Intro- und Extraversion wurde erstmals 1921 vom Psychiater Carl Gustav Jung beschrieben. Er nahm an, dass introvertierte Menschen ihre Aufmerksamkeit und Energie stärker nach innen, extravertierte dagegen stärker nach aussen richten würden. Später wurde die Dimension «Introversion – Extraversion» von Persönlichkeitsforschern in das «Fünf-Faktoren-Modell» (englisch «Big Five»-Modell) der Persönlichkeit integriert. Die meisten Fachleute gehen davon aus, dass etwa ein Drittel der Menschen introvertiert und ein Drittel extravertiert ist. Das übrige Drittel bestreiten die sogenannten «Ambivertierten». Tatsächlich ist der Begriff ein Kunstwort. «Ambivertiert» beschreibt einen Zwischenzustand, in dem man sich mal intro- und mal extravertiert verhält.
Den Betroffenen die Augen öffnen
Die Psychologin Brigitte Stirnemann sagt: «Die Schlüsselfrage lautet: Wie verhält sich ein Mensch, wenn er nach einer anstrengenden Zeit seine Batterien aufladen möchte?» Stirnemann ist Psychologin, systemische Beraterin für Paare und Familien und Dozentin an der Pädagogischen Hochschule Zürich. «Introvertierte tun dies vor allem durch Rückzug auf sich selbst, in einer reizarmen Umgebung und ohne viele Worte. Extravertierte gewinnen ihre Energie dagegen aus dem Kontakt mit anderen Menschen.»
Introversion als Makel
Introvertierte Eltern, die sich
ihrer Stärken nicht bewusst sind, können diese auch nicht an ihre Kinder weitergeben.
Gleichzeitig sind die ruhigen Kinder für Lehrpersonen oft angenehm, weil sie nicht auffallen und «einfach mitlaufen». Das bestätigt auch die Mutter von Sarah, der jungen Frau aus unserem Beispiel. «Bei unserer Tochter gab es nie wirklich Probleme mit ihrem eher ruhigen Verhalten», berichtet Céline Mahieux. «Die Lehrer haben zwar immer wieder angemerkt, sie solle sich mehr am Unterricht beteiligen. Aber sie haben ihr Verhalten akzeptiert und es hat sich nie nachteilig auf die Noten ausgewirkt.»
Die Introversion erkennen
«Das absolut Wichtigste für introvertierte – wie für alle – Kinder ist jedoch, dass sie sich so, wie sie sind, angenommen und geliebt fühlen. Das sollten Eltern und Lehrer ihnen auch vermitteln», betont Bardill. «Ziel sollte es sein, dass ein introvertiertes Kind seine Bedürfnisse mit der Zeit gut kennt und lernt, im Alltag gut mit ihnen umzugehen – zum Beispiel, genügend Zeit für sich allein einzuplanen. Wichtig ist zudem, dass es die Möglichkeit hat, seine Fähigkeiten zu entfalten.»
So können Eltern und Lehrer die typischen Merkmale der Introversion auf vielfältige Weise loben und fördern. Falls ein Kind bereits ungünstige Erfahrungen gemacht hat, sollten sie versuchen, es aus seinem Defizitdenken wieder herauszuholen, seine Stärken hervorheben und gezielt fördern.
Für Eltern, die selbst introvertiert und keine Selbstdarsteller sind, ist es oft einfacher, die Bedürfnisse ihres Kindes zu erkennen und darauf einzugehen. «Sie wissen, was ihm guttut und was für das Kind eher schwierig ist», sagt Stirnemann. «Extravertierte Eltern, denen die ruhige, zurückhaltende Art eher fremd ist, sollten gemeinsam mit ihrem Kind schauen, was es braucht. Zum Beispiel können sie herausfinden, wofür es sich besonders interessiert, und dann diese Interessen gezielt fördern oder die intensive Freundschaft mit nur einem oder wenigen Kindern unterstützen und wertschätzen.»
«Ich habe erst lernen müssen, mich bei Sarah auch mal zurückzunehmen, ihr Zeit zum Antworten zu lassen oder eher aktiv zu fragen», berichtet Céline Mahieux. Mit ihrem Vater verstehe sich Sarah dagegen oft einfach ohne grosse Worte. Sarahs 13-jähriger Bruder Raphael ist wie die Mutter extravertiert. «Wegen des grossen Altersunterschieds haben wir nicht so ein enges Verhältnis», erzählt Sarah. «Schwierigkeiten zwischen uns gibt es aber auch nicht. Er kommt eher auf mich zu als umgekehrt – aber das ist für uns beide in Ordnung so.»
Auch Susanne Schild, Mutter von zwei Söhnen, 13 und 15, ist in einer Familie aufgewachsen, in der alle eher ruhig und zurückhaltend waren. Die 45-Jährige sieht sich, ähnlich wie Susan Cain, als Botschafterin, die Eltern und Lehrpersonen für das Thema Introversion sensibilisieren möchte. Durch Gespräche mit Eltern, Vorträge und Blogbeiträge möchte sie dazu beitragen, Missverständnisse aufzuklären und Introvertierten zu mehr Selbstakzeptanz zu verhelfen. «Das ist aus meiner Sicht der Schlüssel dafür, dass Kinder sich selbstsicher und stark fühlen können», sagt die 45-jährige Personalfachfrau aus Baden. Introvertierte Eltern, die sich ihrer Stärken nicht bewusst seien, könnten diese auch nicht an ihre Kinder weitergeben. «Viele Menschen denken, man müsste extravertiert sein, um im Leben erfolgreich zu sein», sagt Schild. «Aber das ist Unsinn. Auch introvertierte Menschen können sehr erfolgreich sein, wenn sie lernen, ihre Stärken richtig einzusetzen.»
Introversion versus Schüchternheit
«Introversion ist ein Persönlichkeitsmerkmal, das ein Leben lang weitgehend gleich bleibt», erläutert Brigitte Stirnemann. «Schüchternheit entsteht dagegen vor allem durch ungünstige soziale Erfahrungen. Sie kann durch günstige soziale Erfahrungen abgeschwächt oder überwunden werden.» Auch ein introvertiertes Kind könne durch negative Erfahrungen schüchtern werden, so die Psychologin. «Allerdings kann es auch sein, dass ein Kind eher ruhig ist und beobachtet, ohne dass es sich damit unwohl fühlt.» Hier gelte es deshalb, genau hinzuschauen.
«Man kann nicht einfach aus dem äusseren Verhalten Schlüsse ziehen, wie es einem Kind geht», betont Sina Bardill. «Wichtig ist daher, dass Eltern und Lehrer eine gute Beziehung zum Kind aufbauen, in der es Zuwendung erfährt und in seiner Persönlichkeit wahrgenommen wird. Dann kann gut eingeschätzt werden, ob das Kind ruhig und psychisch stabil oder aber gestresst und unglücklich ist.»
Und wann braucht ein Kind psychologische Unterstützung? Zum Beispiel wenn es grosse Ängste in sozialen Situationen hat. «Dann kann es sinnvoll sein, die Angst im Rahmen einer kinderpsychologischen Abklärung oder Therapie zu behandeln», so Stirnemann.
Haben introvertierte Kinder ungünstige Erfahrungen gemacht, sei es sinnvoll, ein Beratungsgespräch mit den Eltern zu führen, erläutert Sina Bardill. «Hier geht es zum Beispiel darum, dass die Eltern lernen, ihre Wesensart bei sich selbst und ihrem Kind zu akzeptieren.» Weiter wird in der Beratung geschaut, was die Eltern tun können, um ihr Kind zu unterstützen. «Schliesslich sollten sich auch Eltern und Lehrer, denen die Wesensart eines Kindes fremd ist, nicht scheuen, eine Beratung aufzusuchen», betont Stirnemann.
Kein Alphatier, aber von allen gemocht
Das sind die Stärken der Introvertierten
- Introvertierte können gut zuhören, sind einfühlsam und interessieren sich wirklich für ihr Gegenüber. Deshalb sind sie oft auch gute Ratgeber.
- Sie strahlen Ruhe aus und können so Ruhe in ihr Umfeld bringen.
- Sie denken zuerst nach, bevor sie etwas sagen, und beziehen viele Informationen ein. Was sie sagen, hat dann meist Substanz.
- Sie können sich gut in eine Aufgabe vertiefen und ausdauernd dabeibleiben. So erzielen sie oft sehr gute Leistungen.
- Sie können gut allein sein, ohne sich einsam zu fühlen, und sind oft sehr unabhängig in ihrem Denken.
- Sie haben eine gute Selbstwahrnehmung und eine gute Wahrnehmung für ihre Umgebung, etwa für Stimmungen um sie herum.
- Sie können gut allein arbeiten.
- Sie können sich oft gut schriftlich ausdrücken.
Links und Buchtipps zum Thema
- Webseite von Sina Bardill, Psychologin, Supervisorin und Coach, die sich auf das Thema Introversion spezialisiert hat: www.intro-coach.ch
- Webseite von Brigitte Stirnemann, Psychologin, systemische Beraterin und Coach sowie Dozentin an der Pädagogischen Hochschule (PH) Zürich: www.brigitte-stirnemann.ch
- Blog von Patrick Hundt, einem Betroffenen mit Gedanken zu Introversion in verschiedenen Lebenssituationen: www.introvertiert.org
- Susan Cain: «Still. Die Kraft der Introvertierten». Goldmann 2013, 464 Seiten, ca. 18 Fr. und «Still und stark: Die Kraft introvertierter Kinder und Jugendlicher», Goldmann 2017, 304 Seiten, ca. 25 Fr.
- Sylvia Löhken: «Intros und Extros. Wie sie miteinander umgehen und voneinander profitieren». Gabal 2014, 360 Seiten, ca. 36 Fr.
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Hochsensible Kinder wirken oft zurückhaltend, ängstlich, kontaktscheu. In ihrem Umfeld werden sie häufig als Mimose oder Sensibelchen abgestempelt; ihre Potenziale werden übergangen. Erst bei näherem Kennenlernen wird ersichtlich, wie einfühlsam und verlässlich sie sind, wie gut sie beobachten können, wie bedacht sie handeln.