Hochsensible Kinder verstehen
Hochsensible Kinder wirken oft zurückhaltend, ängstlich, kontaktscheu. In ihrem Umfeld werden sie häufig als Mimose oder Sensibelchen abgestempelt; ihre Potenziale werden übergangen. Erst bei näherem Kennenlernen wird ersichtlich, wie einfühlsam und verlässlich sie sind, wie gut sie beobachten können, wie bedacht sie handeln.
Text: Melanie Vita
Bild: Tytia Habing / Plainpicture
Lena hat sich im Kindergarten nach einer längeren Eingewöhnungsphase gut integriert. Die Loslösung von der Mutter fiel ihr schwer. In den ersten Monaten stand sie meist unsicher, beobachtend und scheinbar teilnahmslos im Raum, ohne sich Spielpartner zu suchen. Erst mit der Zeit fasste Lena Vertrauen, gesellte sich zu anderen, meist ruhigen Kindern und ging den lauten, forschen und fordernden Kindern aus dem Weg.
Hochsensible Kinder brauchen Ruhephasen und die Möglichkeit, aufzutanken.
Seit klar ist, dass sie in die Schule soll, klagt sie über Einschlafschwierigkeiten. Der neue Lebensabschnitt bereitet dem Mädchen grosses Kopfzerbrechen, Ängste tauchen auf. Auch im Alltag beschreibt Lenas Mutter ihre Tochter als besonders unsicher in unbekannten Situationen und mit extrem starkem Rückzugsverhalten, sobald Stress und Hektik aufkommen. Über viele Kleinigkeiten zerbreche sich ihre Tochter den Kopf. Bezüglich der Einschulung macht sich die Mutter inzwischen Sorgen. Wird ihre Tochter die Umstellung schaffen? Wie wird sie mit ihren Mitschülern, mit den Lehrern und den schulischen Anforderungen zurechtkommen? So wie Lena geht es vielen Kindern.
Das Wissen über die Hochsensibilität kann Alltag erleichtern
Oft wird ihr zurückhaltendes, vorsichtiges Verhalten missverstanden und falsch interpretiert. Stossen Hilfe suchende Eltern beim Ergründen von Verhaltensweisen ihres Kindes auf das Thema Hochsensibilität, fällt ihnen nicht selten ein Stein vom Herzen. «Jetzt verstehe ich endlich, warum mein Kind sich so verhält», ist einer der meistgehörten Sätze in der Beratung. Die Auseinandersetzung mit diesem Thema lohnt sich. Laut der amerikanischen Psychologin Elaine Aron sind 15 bis 20 Prozent aller Kinder und Erwachsenen hochsensibel. Hat das eigene Kind eine hochsensible Persönlichkeitsstruktur, kann das Wissen darüber helfen, den Alltag zu meistern und so zu gestalten, dass das Kind in seiner Entwicklung optimal gefördert wird und seine Fähigkeiten ausschöpfen kann.
Was ist Hochsensibilität?
Laut Elaine Aron ist die Hochsensibilität ein angeborenes und damit auch vererbtes Persönlichkeitsmerkmal. Eine hochsensible Veranlagung zeigt sich in der Regel bereits im Säuglingsalter, unter anderem durch ein intensives und aufmerksames Beobachten des Umfeldes, durch ein schnelles Quengeln bei zu vielen Aktivitäten und durch ein geringeres Bedürfnis, das Umfeld zu erkunden – Aron spricht hier von einem Verhaltenshemmsystem, das bei hochsensiblen Kindern verstärkt aktiv ist.
Hochsensible Kinder, kurz HSK, haben von Geburt an ein empfindsameres Nervensystem. Sie nehmen Sinneseindrücke viel intensiver wahr als andere. Kaum etwas prallt einfach an ihnen ab. Was sie beobachten, spüren und wahrnehmen, wollen sie verarbeiten, durchdenken, verstehen. HSK nehmen dabei viel mehr Details auf als die Mehrzahl ihrer Mitmenschen und denken intensiver über das nach, was sie erleben.
Hochsensibilität betrifft 15 bis 20 Prozent aller Kinder.
Verständlich, dass hochsensiblen Kindern schnell alles zu viel wird. Die Menge an wahrgenommenen Informationen, wie etwa Stimmungen von Mitmenschen, Geräusche, Gerüche, sorgt dafür, dass diese Kinder viel Zeit brauchen, um Geschehnisse zu verarbeiten. Strömen zu viele Eindrücke auf diese Kinder ein, kann es zu einer Reizüberflutung kommen. Sie fühlen sich in der Folge erschöpft, geraten unter Stress, möchten sich von der Aussenwelt abschirmen oder sind gereizt. Entgegen ihrer sonst so ruhigen und freundlichen Art beginnen HSK zu quengeln, zu weinen oder mittels Wutausbrüchen zu signalisieren, dass ihnen alles zu viel ist. Auch Schlafprobleme, Kopf- und Bauchschmerzen können Warnsignale für eine Überreizung sein. Neuen Situationen stehen HSK zunächst sehr vorsichtig und beobachtend gegenüber. Sie durchdenken alle Risiken, und erst wenn sie sich sicher fühlen und Vertrauen gewinnen, werden sie aktiv und handeln.