Michael Winterhoff beklagt in seinem neuesten Werk den Verlust der Kindheit. Seine Hauptthese: Die Entwicklung unserer Kinder ist gestört. Wir haben den Psychoanalytiker anlässlich eines Vortrags in der Schweiz getroffen und gefragt, wieso er glaubt, dass wir die Verbindung zu unseren Kindern verloren haben – und wie wir sie wiederfinden.
Entspannt lächelnd, in Turnschuhen, Jeans und Freizeithemd schlendert Michael Winterhoff die Holztreppe des Hotels Schiff in Pfäffikon SZ herunter. Der Rheinländer fühlt sich offensichtlich wohl am Zürichsee. Er schwärmt von der Ruhe, die dieser ausstrahlt – und ist schon mitten in seinem Thema.
Am Vorabend hat der deutsche Psychiater das Publikum im voll besetzten Gemeindesaal der Nachbar gemeinde Freienbach SZ in seinen Bann geschlagen. 500 Interessierte waren gekommen, geschätzt zur Hälfte Pädagoginnen und Pädagogen. Sie alle erhofften sich eine Antwort auf die Frage: Was ist mit unseren Kindern los? Sie wurden nicht enttäuscht: Winterhoff hat eine Antwort. Und er scheut sich nicht, diese pointiert – einige würden sagen: zugespitzt – vorzutragen.
Am Morgen danach, beim Kaffee im Hotelgarten am See, erzählt er, wie er zur Erkenntnis kam, dass sich unsere Kinder heute nicht mehr normal entwickeln können.
Herr Winterhoff, Sie haben zwei erwachsene Kinder. Was ist das Wichtigste, das Sie ihnen mitgegeben haben?
Das Wichtigste, das meine Frau und ich den Kindern mitgegeben haben, ist wohl das Vertrauen darauf, dass alles gut werden wird. Über Erziehung haben wir uns keine Gedanken gemacht. Wir sind einfach in die Aufgaben und in die Rolle als Eltern hineingewachsen. Da war viel Intuition dabei und wir haben bei unseren Eltern abgeschaut. Erziehungsratgeber haben wir keine gelesen.
Tatsächlich? Sie selbst haben mehrere Bestseller geschrieben, die sich an die Eltern richten.
Dies sind aber keine Erziehungsratgeber. In meinen Büchern befasse ich mich mit der Frage, warum das, was einmal wie selbstverständlich funktioniert hat, heute immer weniger gelingt: dass sich Kinder in ihrer Psyche ihrem Alter entsprechend entwickeln und zu lebenstüchtigen und zufriedenen Erwachsenen werden können.
Zur Person: Dr. Michael Winterhoff, 63, ist Kinder- und Jugendpsychiater und Psychotherapeut, seit 1988 mit eigener Praxis in Bonn. Als Sozialpsychiater engagiert er sich auch in der Jugendhilfe, unter anderem führte er Segelturns mit verhaltsauffälligen Jugendlichen durch. Als Buchautor verfasste er mehrere Bestseller, darunter «Warum unsere Kinder Tyrannen werden» und «Mythos Überforderung». Michael Winterhoff ist verheiratet und Vater zweier erwachsener Kinder.
www.michael-winterhoff.com
Wir sehen uns einem gänzlich neuen Phänomen gegenüber: Bis Mitte der 90er-Jahre waren alle Kinder, die ich gesehen habe – und zu mir kommen Kinder, die Probleme haben – auf dem Entwicklungsstand ihres Alters. Heute sind die Bedingungen zur Entwicklung der Psyche so ungünstig geworden, dass viele Kinder in zentralen Punkten auf der Stufe von Kleinkindern stehenbleiben.
Ein Kleinkind kann noch keine Strukturen und Abläufe erkennen. Versuchen Sie mal, einem Eineinhalb-, Zweijährigen etwas abzuverlangen, wozu er keine Lust hat! Da werden sie kläglich scheitern. Das Kind kann mich und meine Bedürfnisse noch gar nicht erkennen. Auf dieser Stufe bleiben heute sehr viele Kinder stehen. Das sehe ich nicht nur in meinem Praxisalltag, das sehe ich auch in Betrieben mit Auszubildenden, in Schulen und Kindergärten.
Was haben Sie beobachtet?
Wenn ich früher ins Wartezimmer gekommen bin und die Eltern gegrüsst habe, hat das Kind aufgeschaut, das Spielzeug aus den Händen gelegt und ist neben seine Eltern gestanden – eine natürliche Reaktion darauf, dass eine fremde erwachsene Person den Raum betreten hat. Als es dann am Verhalten der Eltern gesehen hat, dass alles okay ist, ist es vor mir hergegangen und hat sich im Raum auf den ihm zugewiesenen Stuhl gesetzt. Heute schaut das Kind kurz auf und widmet sich dann wieder dem Spielzeug oder dem Handy. Es folgt dann meiner Aufforderung kaum, ins Behandlungszimmer zu gehen, und die meisten sind überfordert mit der Anweisung, sich auf den Patientenstuhl zu setzen.
Wie erklären Sie sich dies?
Mitte der 90er-Jahre schwappte die digitale Kommunikation ins Privatleben, mit Handy und E-Mail wurde der Mensch rund um die Uhr erreichbar. Weil ihm die Erfahrung im Umgang damit fehlt, ist er in grosser Gefahr, sich respektive seine Psyche zu überfordern. Die meisten Menschen sind leider bereit, das Kostbarste herzugeben, das wir im letzten Jahrhundert errungen haben: viel Zeit für uns und die Familie zu haben. Die Zeit, entspannt mit den Kindern zu leben, fehlt heute.
Gibt es nicht auch Fortschritte? Heute arbeiten doch viel mehr Väter Teilzeit und sie verbringen mehr Zeit mit ihren Kindern als noch in den 70er- und 80er-Jahren.
Es mag sein, dass sich Väter heute mehr Zeit nehmen. Dies ist aber nur dann eine Verbesserung, wenn sie in sich ruhen. Es nützt nichts, wenn der Vater am Tisch sitzt, aber mit den Gedanken woanders ist. Die Kinder spüren das sofort. Der entscheidende Punkt ist: Im Umgang mit Kindern sollte man sich vom Bauch leiten lassen. Und: Je ruhiger der Mensch ist, desto besser funktioniert die Intuition.
Und diese haben wir verloren?
Ja. Die Menschen sind in einen permanenten Ausnahmezustand geraten. Die meisten werden morgens wach, schon rattert der Kopf: Ich muss an dieses denken, ich muss an jenes denken, gedanklich sind sie schon in der nächsten oder übernächsten Situation. Immer mehr Menschen fühlen sich überfordert. Sie meinen, das komme von der Arbeit oder von der Familie. Nein: Wir sind durch die moderne Technologie in Gefahr, in einen Zustand der permanenten Reizüberflutung zu kommen.
War früher wirklich alles besser? Hat da der Vater am Frühstückstisch nicht einfach in die Zeitung geschaut statt ins Handy und das Kind genauso wenig beachtet?
Ich bitte Sie, das sind ja völlig antiquierte Bilder! In meiner Kindheit war das so, dass sich der Vater am Tisch eine politische Radiosendung angehört hat und die Kinder eine Stunde zu schweigen hatten. Unsere Kinder haben wir am Tisch miteinbezogen: Wenn wir essen gingen, hatten wir selbstverständlich einen Koffer mit Spielzeug dabei. Die Kinder waren beschäftigt, aber wir hatten einen Blick für sie. Mal unterhielt man sich unter den Erwachsenen, mal hat man die Kinder miteinbezogen. Das sehe ich heute nur noch selten: Viele Kinder hängen meist an ihren Smartphones oder Tablets – die Eltern scheinen froh zu sein, wenn sie Ruhe geben.
Vor zehn Jahren haben Sie Ihr erstes Buch geschrieben: «Warum unsere Kinder Tyrannen werden.» Das klang sehr alarmistisch. Wie ist die Situation heute?
Leider ist es noch viel schlimmer geworden, als ich mir vor zehn Jahren vorstellen konnte. Heute ist die Verhaltensauffälligkeit zur Normalität geworden: Ein klassischer Unterricht in den Grundschulen ist bei uns kaum noch möglich, das Anforderungsniveau muss ständig nach unten korrigiert werden. So haben wir in Deutschland jetzt die Verbundschreibschrift und Diktate abgeschafft. Auch die Unruhe und der Lärm gehören in vielen Klassen zum Alltag. Immer mehr Heranwachsenden fehlen sogenannte Soft Skills wie Arbeitshaltung, Sinn für Pünktlichkeit und Erkennen von Strukturen und Abläufen. Über vieles, das sie einmal in der Schule gelernt haben, können sie nicht mehr verfügen.
Gilt das auch für die Schweiz?
In der Schweiz scheint die Entwicklung in die gleiche Richtung zu gehen: Lehrerinnen und Lehrer berichteten mir, dass auch hier immer mehr Kinder nicht mehr den Reifegrad aufweisen wie noch vor einigen Jahren.
Michael Winterhoff, Vater zweier Kinder, sagt: «Über Erziehung habe ich mir keine Gedanken gemacht.»
Wenn Kinder heute den Unterricht stören, den Arzt nicht beachten: Sind sie schlecht erzogen?
Nein, im Gegenteil: Die Kinder, die ich sehe, sind in der Regel sehr gut erzogen, sie haben sehr engagierte Eltern. Es ist der grosse Trugschluss des Laien, dass es um Erziehung gehe: Die Entwicklung der Psyche hat damit aber rein gar nichts zu tun. Ein Fünfjähriger benimmt sich in einem Restaurant nicht, weil er gut erzogen ist. Sondern weil er wahrnimmt: Ich bin in einer fremden Umgebung und ich möchte die anderen Menschen nicht stören. Ein normal entwickeltes dreijähriges Kind beginnt üblicherweise damit, Aufträge auszuführen. Mit vier Jahren wägt ein Kind ab: Das mach ich besser, sonst gibts Ärger. Und ab fünf würde das Kind jeden Auftrag ausführen.
Das ist ja nicht unbedingt wünschenswert, oder?
Doch, natürlich. Denn so funktioniert die Psyche eines Kindes: Was es tut, tut es für mich. Wenn ich es lobe, strahlt es, es sucht immer meine Rückmeldung.
Erst ein 14-Jähriger fängt an, Dinge zu hinterfragen – wenn er normal entwickelt ist. Mit 16 ist er so weit, dass er abwägt, was er machen soll und was nicht. Ab jetzt geht er für sich in die Schule und entwickelt eigene Vorstellungen von dem, was er werden will oder wie er einmal leben möchte.
Vorher funktioniert lernen nur über Beziehung.
Aber was sollen Lehrpersonen und Eltern tun, wenn sie mit einem Kind nicht klarkommen? Sind Strafen ein geeignetes Mittel?
Hier müssen wir zwischen dem Bereich Schule und dem Bereich Zuhause unterscheiden. Pädagogische Konzepte wie Konsequent sein, Grenzen setzen und Strafen gehören in eine Schule: Wenn ich unterrichten will, brauche ich Schüler, die sich anpassen. Die Schüler brauchen eine klare Orientierung und Lehrer, die eine einheitliche Linie vertreten. Das Zuhause hingegen sollte der Ort sein, an dem sich ein Kind sicher fühlt und seine Aggressionen ausleben kann. Daher sind auch gut entwickelte Kinder zu Hause mal frech, nervig oder verweigernd.
Was tun Sie in einer solchen Situation?
Wenn es mir zu viel wird, schicke ich das Kind auf sein Zimmer – nicht als Bestrafung, sondern damit es seine Aggressionen abbauen kann: So ist das Kind aus dem Feld raus und einen Augenblick mit sich alleine. Mit einem Bestrafungssystem zu Hause würde man Kinder nur in eine Anpassung bringen.
Braucht es denn zu Hause keine klaren Regeln?
Selbstverständlich ist es wichtig, zu Hause Strukturen und Abläufe zu haben – je kleiner Kinder sind, desto wichtiger ist dies. Aber wenn ich das Kind zu Hause in eine Anpassung bringe, dann geht die Aggression in die Schule: Es wird dort frech sein, sich verweigern. Oder die unterdrückte Aggression äussert sich in körperlichen Symptomen wie Kopf- oder Bauchschmerzen. Von Seiten der Eltern braucht es eine Konfliktbereitschaft. Nicht im Sinne von «Das müssen wir jetzt zusammen besprechen», sondern indem sie auch mal sagen: «Jetzt ist Schluss, jetzt gehst du auf dein Zimmer, um dich zu beruhigen.»
(Lesen Sie dazu auch hier: Eine andere Meinung zum Thema «Auszeit» von Jesper Juul.)
Und was mache ich, wenn ich will, dass das Kind den Tisch deckt, es sich aber standhaft weigert?
Dann … könnte es sich schon um eine Symbiosefrage handeln.
Ja. Wenn Sie sich in einer Symbiose mit dem Kind befinden, dann können Sie nicht akzeptieren, dass es nicht sofort tut, was Sie von ihm wollen. Und deshalb weigert es sich so standhaft.
Was meinen Sie mit Symbiose?
Das Kind ist psychisch ein Teil der Eltern geworden. Es sind die gesellschaftlichen Veränderungen, die sich auf die Psyche des Erwachsenen auswirken: Wir leben in einer Gesellschaft, die nicht mehr positiv nach vorne strebt. Seit einigen Jahren heisst es, dass es so nicht weitergehen kann: Umweltverschmutzung, Klimawandel, für die Rente wird es nicht mehr reichen und so weiter. Wir Menschen brauchen aber eine Vision im Leben, wir müssen wissen, warum und wofür wir leben, ansonsten fehlen uns Glücksgefühle, Zufriedenheit und Freude. Diese Gefühle kompensieren Eltern nun unbewusst über das Kind: Das Glück des Kindes ist mein Glück. Sie denken fürs Kind und fühlen fürs Kind. Es kommt zu einer psychischen Verschmelzung.
Man muss sich das vorstellen, als sei das Kind wie der eigene Arm: Meinen Arm kann ich steuern, bestimmen und verändern. Daher wollen Eltern in der Situation partout erreichen, dass das Kind den Tisch deckt. Sie erzeugen im Kind damit den Trotz und gehen in Machtkämpfe, die sie nicht gewinnen können. Indem sie permanent über das Kind bestimmen wollen, sind viele Eltern in eine vergleichbare Umgangsform geraten wie zur autoritären Zeit: Sie operieren mit Druck, mit Bestrafungssystemen. Vielleicht nicht mehr mit Schlägen, aber die Situation ist festgefahren, der Umgang mit dem Kind wird immer mehr zum Machtkampf. Das Kind kann sich so psychisch nicht entwickeln.
Ein Kind entwickelt sich so, wie sich die Welt ihm darstellt. Und wenn Eltern in der Symbiose immer reflexartig auf das Kind reagieren, dann lernt es, dass es sie steuern kann, wie Gegenstände. Dann findet der Entwicklungsschritt nicht statt, den ein Kind im Alter von 10 bis 16 Monaten normalerweise machen würde: den Unterschied zwischen Menschen und Gegenständen erkennen zu lernen.
Die Kinder betrachten die Eltern als Gegenstände?
Lassen Sie mich das an einem Beispiel aus meiner Praxis erklären: Wenn ich Eltern mit einem Kleinkind berate, dann ist es selbstverständlich, dass das Kind alles im Raum untersucht, dass es an den Eltern rauf- und runterklettert, dass es an ihnen zieht, weil es die Vorstellung hat: Ich kann sie steuern und bewegen, wie Gegenstände. Mich stören die Kinder gar nicht. Aber wenn die Eltern in einer Symbiose sind, reagieren sie reflexartig: Sie sind sofort aus dem Gespräch raus und können mir nicht mehr folgen. Also kommt ganz schnell das Handy raus, damit das Kind Ruhe gibt. Ich habe auch Eltern, die kommen mit dem Buggy rein und lassen das Kind während des ganzen Gesprächs angegurtet.
Nun gibt es Dinge, die muss ich meinem Kind beibringen …
… Nein.
… dass es regelmässig die Zähne putzt …
… Nein.
… dass es im Haushalt hilft …
… Nein.
Nein. Früher ging das automatisch.
Was haben Eltern früher denn anders gemacht?
Sie haben die Kinder als Kinder gesehen, sie haben ein Gespür gehabt für den Umgang mit ihnen. Man wäre nie auf die Idee gekommen zu denken: Das Kind muss lernen, den Tisch zu decken, die Zähne zu putzen, sich anzuziehen. Heute ist das vielleicht gar nicht mehr vorstellbar, aber wenn sich Kinder normal entwickeln, wollen sie bei allem mitmachen, was die Erwachsenen tun, und lernen es mit der Zeit automatisch.
Und wenn sich ein Kind standhaft weigert, seine Zähne zu putzen?
Dann macht der Erwachsene etwas falsch. Er befindet sich entweder in einer Symbiose mit dem Kind oder unter innerer Spannung. Auf Kinder unter acht Jahren psychischem Reifegrad wirkt Druck kontraproduktiv: Sie machen dicht, verweigern sich oder flippen aus.
Was mache ich in einer solchen Situation?
Wenn ich in mir ruhen und über meine Intuition verfügen würde, würde ich spüren: Heute ist der so quer, das macht überhaupt keinen Sinn, ihn noch an die Zahnbürste bringen zu wollen – dann werden die Zähne heute halt einmal nicht geputzt. Davon geht die Welt nicht unter. Und nächstes Mal sieht es wieder anders aus.
Der Psychiater rät: «Schauen Sie zwei Stunden auf den See – Sie werden sich verändern.»
Sie führen die beschriebenen Probleme ausschliesslich auf den digitalen Wandel zurück. Gibt es nicht weitere Faktoren, die sich ungünstig auf die Familiendynamik und die kindliche Entwicklung auswirken? Die Ökonomisierung der Gesellschaft in den Neunzigern etwa, der gestiegene Leistungsdruck?
Es gibt sicherlich viele Zusammenhänge. Wir könnten natürlich auch sagen «Wir haben heute immer mehr Einzelkinder» oder «Wir haben viele Patchworkfamilien». Aber das hilft doch nicht weiter. Sie müssen sehen, dass Sie mit einem praktisch tätigen Kinderpsychiater sprechen. Und wenn ich den Eltern die Zusammenhänge erkläre und sie in den Wald schicke, damit sie wieder zur Ruhe kommen, dann können sie die Symbiose lösen. Innerhalb von acht Wochen sind diese Eltern aus der Symbiose raus und gehen mit ihrem Kind völlig anders um, nämlich bauchgesteuert. Wenn ich sie berate, wie sie mit den Kindern umgehen können, dass deren Psyche nachreifen kann, dann kommen auch diese Kinder innerhalb von anderthalb Jahren auf den Entwicklungsstand ihres Alters. Die Erfahrungen, die ich in meiner Arbeit mache, reichen mir als Bestätigung der Hypothese, dass es an einem falschen Umgang des Erwachsenen mit der Digitalisierung liegt.
Was passiert den Patienten in den acht Wochen, in denen sie bei Ihnen in Behandlung sind?
Sie verändern sich nicht als Mensch, sondern sie finden den Zugang zu sich selber wieder. Und wenn sie das einmal erlebt haben, dann wollen sie es sich nicht mehr nehmen lassen. Wenn sie erlebt haben, wie toll es dann mit den Kindern funktioniert – ein Traum! –, dann können auch diese Eltern wieder erlangen, was wir früher als Geschenk hatten: das Bewusstsein, dass Kinder einfach toll sind. Dass Familie zu haben etwas Grossartiges ist, das man geniessen kann und einfach eine grosse Bereicherung ist im Leben.
So finden Eltern zurück zur Intuition
Michael Winterhoff erklärt, wie er selber wieder zur Ruhe kam und was er seinen Patientinnen und Patienten rät.
«Um zur Intuition zurückzufinden, gibt es viele Möglichkeiten. So oder so gilt: Es ist kein einfacher Weg. Ich war vor vielen Jahren selbst im Katastrophenmodus. Eines Tages beschloss ich, ein Schweigeretreat in einem Kloster zu machen. Ich habe das kaum ausgehalten, aber als ich nach einer Woche nach Hause kam, meinte meine Tochter zu meiner Frau: ‹Den Papa schicken wir jetzt öfter ins Kloster.› Innerhalb einer Woche habe ich zur Ruhe gefunden, bin wieder der Mensch geworden, der ich früher war.
Nach einer Weile kam die Unruhe wieder – also ging ich erneut ins Kloster. Einige meiner Patienten gehen ein- bis zweimal im Jahr ins Kloster. Das ist natürlich aufwendig. Aber ob Sie Yoga machen, meditieren oder sich in eine Kirche setzen: Entscheidend ist die Stille. Sehr empfehlenswert sind auch Waldspaziergänge. Wenn Sie mehrere Stunden alleine und ohne technische Geräte durch den Wald gehen, finden Sie wieder zur Ruhe. Oder der Zürichsee hier: Schauen Sie zwei Stunden auf den See und Sie werden sich verändern. Am Anfang werden Sie hier etwas sehen, dorthin gucken. Auf einmal werden Sie merken, dass das nachlässt; was Sie sehen, interessiert Sie gar nicht mehr. Sie nehmen die Stille auf und alles in Ihnen kommt zur Ruhe.»