Für Eltern: 4 Leitsätze zur bedürfnisorientierten Erziehung
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4 Leitsätze zur bedürfnisorientierten Erziehung

Lesedauer: 3 Minuten

Was es heisst, ein Kind in einer bindungsfreundlichen Umgebung aufwachsen zu lassen, sagen zwei Expertinnen und ein Experte.

Aufgezeichnet von Michaela Davison
Bild: Mara Truog / 13 Photo

1. Es geht darum, als Eltern authentisch zu bleiben

«Die Idee der bedürfnisorientierten Erziehung finde ich richtig. Doch viele zu diesem Thema kursierende Idealvorstellungen und der allgemeine gesellschaftliche Trend zur Selbstoptimierung lassen das, worum es im Grunde geht, nämlich eine wertschätzende Erziehungshaltung, oft in Vergessenheit geraten. Darum finde ich es so wichtig, sich darauf zu konzentrieren, als Eltern authentisch zu bleiben und nicht einfach die Dinge nachzuahmen, die andere tun.

Ich denke, viele Eltern sind so bedacht darauf, die Fehler der vergangenen Generationen wiedergutzumachen, dass sie zu verkopft an die Sache herangehen. Doch man sollte seine eigenen Rahmenbedingungen und Prägungen reflektieren und eigene Werte definieren. Man kann nicht immer alles im Auge behalten. Jede Familie, jedes Kind ist individuell, da gibt es kein Patentrezept. Vielmehr sollte man sich fragen: Was bin ich für ein Elternteil und was kann ich meinem Kind geben?»

Christine von Arx, Psychologin

Menschen, die in der Kindheit ein vertrauensvolles Miteinander erlebt haben, können sich gut regulieren.

Nicole Strüber, Neurobiologin

2. Es ist wichtig, dass Eltern ihre eigenen Grenzen und Bedürfnisse äussern

«Kinder brauchen eine Umgebung, in der sowohl sie als auch ihre Bezugspersonen ihre Gefühle offen äussern dürfen, ohne sie ausgeredet zu bekommen oder dafür bestraft zu werden. Nur so können sie lernen, sowohl ihre eigenen Grenzen und Bedürfnisse als auch die ihrer Mitmenschen zu spüren. In einer bindungsfreundlichen Umgebung sollten auch die Eltern über ihre Gefühle sprechen: Ich bin gerade traurig, aber das geht vorbei. Heute geht es mir nicht so gut, aber das hat mit dir nichts zu tun. Jetzt war ich ganz schön sauer auf dich, das tut mir leid.

Schon ganz kleine Kinder verstehen solche Sätze – anhand des Tonfalls, des Blicks. Eltern sind auch in dieser Hinsicht immer Vorbilder. Durch dieses empathische Verhalten lernen Kinder, sich selbst in andere hineinzufühlen, ihre eigenen Bedürfnisse zu äussern und die Gefühle anderer zu akzeptieren. Gleichzeitig merken sie, dass die Welt nicht untergeht, wenn sie im Alltag hinsichtlich ihrer spontanen Wünsche Grenzen aufgezeigt bekommen.»

Claus Koch, Psychologe und Bindungsforscher

3. Von einfühlsamer Interaktion profitieren Kinder ein Leben lang

«Während der Co-Regulation überträgt das Kind negative Gefühle auf die Eltern, die Eltern übertragen ihre Ruhe auf das Kind. Dies geschieht durch Berührungen und vertrauensvolle Interaktion. Dabei wird das Hormon Oxytocin ausgeschüttet, das eine stresshemmende und beruhigende Wirkung hat.

Beim Kind ist die Fähigkeit zur Selbstregulation noch nicht so gut ausgebildet. Damit es sich selbst regulieren kann, müssen erst bestimmte Nervenverbindungen im Gehirn reifen. Wenn Eltern co-regulieren, werden diese Verbindungen mit der Zeit gestärkt. Und auch das Oxytocinsystem selbst wird geprägt: Wenn Kinder in der frühen Kindheit immer wieder ein Miteinander und immer wieder eine hohe Oxytocinfreisetzung erleben, dann entwickelt sich dieses System gut.

Kinder, deren existenziellen Bedürfnissen nur unzureichend begegnet wird, fühlen sich auf Dauer allein, abgelehnt und zunehmend wertlos.

Claus Koch, Psychologe und Bindungsforscher

Menschen, die in der Kindheit immer wieder ein vertrauensvolles Miteinander erlebt haben, können sich also gut selbst regulieren. Diese Menschen neigen im Erwachsenenalter eher dazu, das Miteinander mit anderen Menschen aufzusuchen, weil sie sich dann entspannen können. Sie wissen, dass es ihnen guttut, mit anderen zusammen zu sein, und können in der Regel auch besser mit Stress umgehen.»

Nicole Strüber, Neurobiologin und Psychologin

4. Der ‹sichere Hafen› zu Hause hat eine Schutzfunktion

«Kinder, deren existenziellen Bedürfnissen nur unzureichend begegnet wird, fühlen sich auf Dauer allein, abgelehnt und zunehmend wertlos. Entsprechend ist ihre innere Welt von Unsicherheit und Verlustängsten geprägt. Manche ziehen sich ängstlich von der Welt zurück, die sie als bedrohlich erleben.

Die meisten Kinder aber, zumindest wenn sie noch klein sind, unternehmen zunächst verstärkte Anstrengungen, um endlich gehört und gesehen zu werden. Mit oft kontraproduktiven Mitteln suchen sie dann bei sich zu Hause, später auch im Kindergarten oder in der Schule immerzu nach Aufmerksamkeit.

Um sie zu bekommen, ‹stören› sie, werden laut oder aggressiv – Hauptsache, ‹jemand sieht und kümmert sich um mich!›. In den meisten Fällen stossen sie damit jedoch auf Ablehnung. Ein Gefühl, das sie bereits von ihren vergeblichen Versuchen um Beachtung von zu Hause kennen. Ein Teufelskreis entsteht.

Dagegen fühlen sich Kinder, die in einer bindungsfreundlichen Umgebung aufwachsen, im Grossen und Ganzen sicher, geborgen, auf Augenhöhe verstanden und akzeptiert. Sie können mit Enttäuschungen oder der Ablehnung von Wünschen viel gelassener umgehen – zu Hause, aber auch in einer für sie fremden Umgebung.

Sie tragen den ‹sicheren Hafen› ihrer Eltern wie eine Schutzfunktion in sich. Gleichzeitig haben ihre Eltern im Erziehungsalltag viel weniger Konflikte mit den Kindern, da diese nicht ständig um Aufmerksamkeit kämpfen müssen.»

Claus Koch

Michaela Davison
ist freie Journalistin und dreifache Mutter. Sie lebt mit ihrer Familie in der Nähe von Zürich. Mit zwei Schulkindern und einem Kindergartenkind ist ihr Familienalltag gefüllt mit Übergängen aller Art.

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